# taz.de -- Demokratiebewegung in Nigeria: Unvollendeter Freiheitskampf
       
       > Vor knapp 30 Jahren wurde in Nigeria der Umweltaktivist Ken Saro-Wiwa von
       > der damaligen Militärdiktatur gehängt. Jetzt wird er endlich
       > rehabilitiert.
       
 (IMG) Bild: Zu schwach für grundlegende Reformen: Nigerias Präsident Tinubu, hier vergangenen November in Paris
       
       Der 12. Juni ist in Nigeria ein historischer Tag, im Rest der Welt so gut
       wie unbekannt. Am 12. Juni 1993 fanden in Afrikas bevölkerungsreichstem
       Land die freiesten Präsidentschaftswahlen seit der Unabhängigkeit statt. Es
       war ein Festtag. Nach knapp zehn Jahren Militärherrschaft sollte wieder
       Demokratie einkehren; ein Parlament war bereits gewählt. Aber noch bevor
       der Wahlsieg des von vielen Demokratieaktivisten unterstützten
       Geschäftsmanns Moshood Abiola amtlich verkündet werden konnte, annullierte
       Militärherrscher Ibrahim Babangida die Wahl und beendete das demokratische
       Experiment, noch bevor es begonnen hatte.
       
       Er übertrug die Macht einem Technokratenkabinett, und wenige Monate später
       brachte ein erneuter Militärputsch General Sani Abacha an die Macht, der
       die finsterste Militärdiktatur in Nigerias Geschichte errichtete. Abiola
       wanderte ins Gefängnis und starb nach einigen Jahren in Einzelhaft, die
       Demokratiebewegung wurde gnadenlos verfolgt – bis zu Abachas plötzlichem
       Tod im Jahr 1998, angeblich an einer Überdosis Viagra in den Armen einer
       Prostituierten. Nigeria wurde danach doch noch zur Demokratie geführt, aber
       der Elan des 12. Juni 1993 war dahin.
       
       Der 12. Juni ist inzwischen Democracy Day in Nigeria, und am 12. Juni 2025
       hat Nigerias aktueller gewählter Präsident Bola Tinubu zahlreiche damalige
       Akteure mit Auszeichnungen geehrt, manche davon posthum. Nigeria wolle
       „diejenigen würdigen, die in der Vergangenheit Opfer gebracht haben, die
       sich mutig gegen die Gewehre stellten, damit wir Demokratie in unserem Land
       haben“, [1][sagte der Präsident vor dem Parlament].
       
       Tinubu selbst war 1992 ins nigerianische Parlament gewählt worden und war
       später Mitgründer der Nadeco (National Democratic Coalition), einer Allianz
       derjenigen, die die Anerkennung der Wahl vom 12. Juni 1993 verlangten und
       entweder im Untergrund oder, wie Tinubu, im Exil ausharrten. Nach dem Ende
       der Militärherrschaft machte er sich zunächst als Gouverneur von Lagos, der
       größten Stadt in Nigeria und in ganz Afrika, einen Namen als Reformer.
       Staatspräsident ganz Nigerias wurde Tinubu aber erst bei den Wahlen 2023,
       und er gilt heute als zu alt und zu kraftlos, um das kriselnde Land
       umzukrempeln. Aber immerhin würdigt er nun endlich offiziell das Erbe des
       nigerianischen Freiheitskampfs.
       
       Zu den Geehrten gehört Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der
       unermüdlich seine Stimme gegen Nigerias Missstände erhebt. „Eine kleine,
       machthungrige Gruppe hat unserem Volk den Krieg erklärt“, [2][schrieb
       Soyinka in der taz] nach der Annullierung der Wahlen 1993 und forderte
       scharfe internationale Maßnahmen: „Muss die Welt darauf warten, bis wieder
       einmal Menschen verschwinden, bis Folterkammern institutionalisiert werden,
       bis alle Stimmen wieder zum Verstummen gebracht worden sind?“ Die Welt
       wartete damals dann doch. Aber die Stimmen verstummten nicht.
       
       Bekanntester Märtyrer der nigerianischen Demokratiebewegung wurde der
       Schriftsteller und Umweltaktivist Ken Saro-Wiwa. Sein Kampf gegen die
       Zerstörung der Lebensgrundlagen seiner Volksgruppe der Ogoni durch die
       Ölförderung des Shell-Konzerns im Niger-Flussdelta fand globale Beachtung,
       und er wollte eben auch Nigerias Gesamtzustand verändern. Seine Bewegung
       boykottierte die Wahlen vom 12. Juni 1993, schloss sich aber den Protesten
       gegen ihre Annullierung an.
       
       Saro-Wiwa wurde inhaftiert und zum Tode verurteilt. Am Vormittag des 10.
       November 1995 wurde Saro-Wiwa im Militärgefängnis von Port Harcourt
       zusammen mit acht Mitstreitern gehängt; angeblich brauchte es mehrere
       Versuche, bis der 54-Jährige am Galgen baumelte. In einem aus dem
       Todestrakt geschmuggelten Brief hatte Saro-Wiwa zuvor geschrieben: „Ich
       fürchte nicht, hingerichtet zu werden. Ich erwarte es. Wir haben es mit
       gewissenlosen Leuten zu tun, mit blutrünstigen Steinzeitdiktatoren. Sie
       sind für den afrikanischen Albtraum verantwortlich, fürchten sie sich doch
       vor Ideen und vor Leuten mit neuen Konzepten.“
       
       Nun hat Tinubu Saro-Wiwa und seine Mitstreiter, kollektiv „Ogoni Nine“
       genannt, posthum begnadigt – der aufsehenerregendste Akt dieses 12. Juni
       2025. Saro-Wiwas Ermordung hatte 1995 für weltweites Entsetzen gesorgt –
       und dennoch mordete Nigerias Diktatur ungerührt weiter. Es gab für die Welt
       Wichtigeres als das Schicksal von damals 105 Millionen Menschen. Heute
       leben in Nigeria geschätzt 237 Millionen; in einem Vierteljahrhundert
       dürften es 400 Millionen sein.
       
       ## Utopische Ziele
       
       In Nigeria werden mehr Kinder geboren als in ganz Europa. Aber welches
       kollektive Gedächtnis sie prägt, ist im Rest der Welt so gut wie unbekannt.
       Bittere Armut, allgegenwärtige Unsicherheit, Gewalt als Herrschaftsprinzip,
       Korruption als Überlebensprinzip – all dies sollte der 12. Juni einmal
       überwinden, und all dies nimmt aktuell eher wieder zu. „Wut und Nihilismus
       fassen Fuß“, [3][mahnte Soyinka vor fünf Jahren in der taz], als eine neue
       Jugendprotestbewegung das Land ergriff, nur um brutal niedergeschossen zu
       werden.
       
       In Nigerias intellektuell wichtigster Tageszeitung Guardian [4][schrieb
       jetzt ein Kommentator] anlässlich des 12. Juni, das Land sei geprägt von
       „einer erstickenden Masse unverständlicher Reformvorhaben, einer
       allgemeinen Wahrnehmung schlechter Führung, einem greifbaren Niedergang der
       Institutionen, einer Vernachlässigung sozialer Werte“.
       
       Dass das Todesurteil gegen Saro-Wiwa erst jetzt überhaupt aufgehoben wird,
       ist bezeichnend dafür, dass Nigerias Freiheitskampf unvollendet geblieben
       ist. „Bekennen wir uns zu den Idealen des 12. Juni“, sagte Präsident Tinubu
       zum Abschluss [5][seiner Gedenkrede] und erkannte damit an, dass diese
       Ideale noch immer nicht Wirklichkeit sind: „Freiheit, transparente und
       rechenschaftspflichtige Regierung, soziale Gerechtigkeit, aktive
       Bürgerbeteiligung und eine gerechte Gesellschaft, in der niemand
       unterdrückt wird.“ Ein einfacher Katalog. Und für Nigeria eine Utopie.
       
       15 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://punchng.com/full-speech-tinubus-2025-democracy-day-address/
 (DIR) [2] /Die-Waffe-der-Sanktionen-muss-mit-aeusserster-Haerte-angewendet-werden-bis-die-Junta-der-Rebellen-in-die-Knie-gezwungen-worden-ist-Nigerias-Literaturnobelpreistraeger-ruft-zum-wirtschaftlichen-Embargo-gegen-sein-Land-auf-Die-nigerianische-Militaerregierung--eine-kleine-machthungrige-Gruppe-muesse-zum-Ruecktritt-gezwungen-werden-Von-Wole-Soyinka/!1603940/
 (DIR) [3] /Essay-des-Schriftstellers-Wole-Soyinka/!5720543
 (DIR) [4] https://guardian.ng/opinion/columnists/a-grievous-midterm-scorecard/
 (DIR) [5] https://punchng.com/full-speech-tinubus-2025-democracy-day-address/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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