# taz.de -- Theaterprojekt aus Chemnitz: Anheimelnde Bräuche sind eingeschlossen
       
       > Vier Stücke an einem Abend: Das ambitionierte Theaterprojekt „Inside
       > Outside Europe“ der Kulturhauptstadt Chemnitz nimmt sich des Themas
       > Migration an.
       
 (IMG) Bild: Von der Bürokratie erschlagen: Patrick Bartsch und Sophie Hess in „EUdaimonía“
       
       Es kam alles eine Nummer kleiner als nach den Ankündigungen vermutet,
       dennoch lohnte die Fahrt nach Chemnitz am 12. April zur ersten
       Zusammenschau eines Gemeinschaftsprojekts der vier westsächsischen Bühnen.
       „Ein Bühnenbild, vier Theater, vier Uraufführungen“ – so wurde „Inside
       Outside Europe“, ein Projekt, das den [1][Chemnitzer
       Kulturhauptstadtintentionen zur Verquickung von Stadt und Kulturregion]
       dient, angekündigt.
       
       Die Idee ging vom Chemnitzer Figurentheater aus. Die Bühnen in
       Plauen-Zwickau, das Mittelsächsische Theater in Freiberg-Döbeln und das
       Winterstein-Theater im erzgebirgischen Annaberg steuerten jeweils
       Komponenten bei. Ort der Zusammenführung war wegen des andauernden Umbaus
       des Schauspielhauses der überhaupt nicht wie ein Provisorium wirkende
       Chemnitzer „Spinnbau“. Eine Industrieruine, die zu DDR-Zeiten „VEB
       Spinnereimaschinenbau“ hieß und zweieinhalbtausend Karl-Marx-Städter
       beschäftigte.
       
       Erwartungen stellten sich ein, es handele sich um eines der beiden großen
       Theaterereignisse des Kulturhauptstadtjahres neben der im September
       geplanten Opern-Uraufführung „Rummelplatz“ – einer Bühnenadaption von
       Werner Bräunigs posthum erschienen Roman, adaptiert von Ludger Vollmer
       (Komposition) und [2][Jenny Erpenbeck (Libretto)]. Begleitet von der
       Neugier, ob hier wirklich vier eigenständige Bühnen unter einer Leitidee
       ein gemeinsames Konzept entwickeln könnten.
       
       Doch ein großes Spektakel konnte sich allein schon wegen der begrenzten
       Platzkapazitäten nicht einstellen. Das Figurentheater erlaubt nur
       kammerspielartige Inszenierungen. Der geplante Freiberger Beitrag „Der
       Clown und Europa“ hätte den Rahmen leicht überschritten. Aber dieses
       poetisch-leichte Spiel über Ehrgeiz und Scheitern für Zuschauer ab zehn
       Jahren scheiterte an den Probenverletzungen eines Tänzers, so dass nur drei
       Komponenten zum Gemeinschaftswerk beitrugen.
       
       ## Wie kann man Heimat teilen?
       
       Das ließ leider den großen Bogen vermissen, erinnerte eher an ein kleines
       mittel- und westsächsisches Theatertreffen. Gemeinsam nutzten die drei
       Theater vor allem das Bühnenbild. Ein aus paraventartigen weißen Elementen
       zusammengesetzter Spiel-Raum, dessen Rückwand als Videobildwand dienen und
       bei einem Wutanfall in der Ausländerbehörde auch demontiert werden kann,
       wie sich im Laufe des Abends zeigt. Mobile Elemente bilden zusätzlich eine
       schräge Ebene, Tische oder Kästen.
       
       Die ersten beiden Beiträge standen noch in einem klaren Zusammenhang,
       behandelten das schon einer Massenhysterie gleichende Thema Migration.
       Pikanterweise stammen beide Texte von der jungen georgischen Autorin und
       Festivalleiterin Tamó Gvenetadze. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: „Call
       it home. Wie kann man Heimat teilen?“ basiert auf Recherchen und Interviews
       im Erzgebirge, beispielhaft gespiegelt von der aus dem Iran geflüchteten
       Mutter Maleeka und ihren beiden Töchtern.
       
       Maleeka ist um Assimilation bemüht, die anheimelnden Bräuche im
       Weihnachtsland Erzgebirge eingeschlossen. „Das hier ist mein Zuhause“,
       bekennt sie und möchte nicht erneut fliehen. Ihre Tochter hingegen
       berichtet von rassistischen Beleidigungen und Übergriffen. „Wir müssen von
       hier weg“, drängt sie, ihr Koffer unterm Bett ist stets gepackt. Keiner hat
       das Dilemma der Mutter treffender ausgedrückt als einst der Barde Wolf
       Biermann: „Ich möchte am liebsten weg sein – und bleibe am liebsten hier.“
       
       Dieses Mutter-Töchter-Spiel teils mit vertauschten Rollen (Gisa Kümmerling,
       Anna Bittner und per Video Siyana Boneva) ist zweifellos ehrlich und
       engagiert. Allerdings ist es sehr geradeaus inszeniert, es geht kaum
       darüber hinaus, was auch in Journalismus und Wissenschaft über den hiesigen
       Rassismus bekannt ist. Eingestreute Breaking News, die einem aus auf den
       Kopf übergestülpten TV-Geräten aus Pappe mitgeteilt werden, vertiefen
       nichts.
       
       Dieselbe Autorin und Regisseurin zündet hingegen im Plauener Beitrag
       „EUdaimonía“ ein parodistisches Feuerwerk gegen Ignoranz und Arroganz
       deutscher Ausländerbehörden. Hier sind es zwei Georgier, die junge Ärztin
       Dea (Sophie Hess) und der zeitweilig hier jobbende Erekle (Philipp
       Andriotis), die am Formalismus der Behörden und dem nur mühsam kaschierten
       „Ausländer raus“-Ungeist verzweifeln. Im Land ihrer Träume – zumindest für
       ein paar Arbeitsmonate bei McDonald’s – kämpfen sie um den elementaren
       Respekt, der laut Grundgesetz eigentlich jedem Menschen zusteht, gleich
       welcher Herkunft.
       
       ## Der Bürokrat als Zyniker
       
       Da könne man zum Mörder werden, raunt jemand im Publikum. Und tatsächlich
       könnte man verzweifeln, hätte Tamó Gvenetadze das Anrennen ihrer
       Protagonisten gegen Unlogik und Willkür nicht im Stile absurden Theaters
       auf die Spitze getrieben. Der Bürokrat erscheint als seelenloser Zyniker
       und armes Schwein zugleich, und wie er in der Wohnung der verheirateten Dea
       erscheint und deren Ehestand überprüfen will, ruft bei Zuschauern spontane
       Unmutsäußerungen hervor.
       
       Schließlich führt Erekle in einem köstlichen Exkurs die grammatische
       Unlogik der drei deutschen Substantivgeschlechter vor. Und Dea erschlägt
       final in einem „gewalttätigen Showdown“ den Bürokraten mit seinem eigenen
       Schreibtischwust und stempelt anschließend alle Papiere mit „Ausnahme“ ab.
       Das Stück ist der Höhepunkt des Abends, und man darf Patrick Bartsch als
       hochneurotischen Darsteller der personifizierten Bürokratie herausstellen,
       der sich selbst und seine Armer-Ossi-Rolle hasst und sich mit
       geschredderten Papieren ausstopft.
       
       Der Beitrag des Chemnitzer Figurentheaters, die Stückentwicklung „Versuch
       über meinen Großvater“ (Regie und Text von Karen Breece) wirkte danach
       epigonal. Eine Frau sucht nach den Spuren der Verstrickung ihres Großvaters
       und anderer Mediziner in das NS-Regime und speziell in dessen Verbrechen in
       Galizien. Dort war er ab 1942 sogenannter Seuchenreferent, wusste von
       „Forschungen“ an Gefangenen und kannte zumindest an Massenerschießungen
       beteiligte Vorgesetzte.
       
       [3][Das ist mit Hilfe der Puppen eindringlich und mahnend gestaltet] (von
       Arne van Dorsten, Gundula Hoffmann, Jakob Ferdinand Lenk), zumal viele der
       Medizinerkarrieren nach 1945 ungebrochen weiterliefen. Aber eben auch
       relativ trockenes Recherche- oder Dokutheater. Geradezu unpassend erschien
       mehrfach die Musikauswahl, darunter etwa Frank Sinatras „My Way“.
       
       Das leider abgesagte „Der Clown und Europa“ der Mittelsachsen hätte noch
       eine weitere, eher spielerische Farbe in den wenig stringenten Abend
       hineinbringen können, sollte es doch laut Ankündigung um das Wesen des
       europäischen Humors gehen (das Stück soll am 27. April sowie am 9. Mai an
       der Bühne Freiberg zu sehen sein). So prägen sich wertvolle Teile des
       Abends zwar ein, räumen aber den Gesamteindruck einer Unwucht dieses
       Vierstädteprojektes nicht aus, dem die konzeptionelle Oberhand fehlt.
       
       Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Textes wurden als
       Puppenspielende versehentlich falsche Namen genannt.
       
       14 Apr 2025
       
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       ## AUTOREN
       
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