# taz.de -- Die Kunst der Woche: Wenn man will
       
       > Göran Gnaudschun erinnert uns in der Galerie Poll ans Hinsehen. Kathrin
       > Linkersdorff sorgt im Haus am Kleistpark für eine Explosion der
       > Pflanzenstoffe.
       
 (IMG) Bild: Blick in Kathrin Linkersdorffs Ausstellung „Microverse“ im Haus am Kleistpark mit gleichnamiger Serie
       
       Die Welt scheint nur noch aus Herausforderungen zu bestehen.
       Herausforderungen, die meist geleugnet werden. Seien es der Klimawandel,
       das Erstarken populistischer Parteien, Fake News und die entsprechenden
       Medien, Kriege und Kriegsflüchtlinge oder die durch wirtschaftliche Not und
       autoritäre Regime angetriebene Migration, um nur einige Baustellen zu
       nennen: Wenn man will, gibt es das alles nicht.
       
       Dabei kann man es sehen. Überall im Alltag. Wenn man will. Und wenn man es
       kann. So wie Göran Gnaudschun in seinem fortlaufenden fotografischen
       Projekt „Gegenwarten“, in dem er gesellschaftspolitische Themen und
       Konflikte mit einem Blick in den Himmel oder auf das Display seines
       Smartphones leise, hintergründig und klug, geradezu sinnbildhaft
       wiedergibt. Rund 40 Fotografien in mittleren und kleineren Formaten von 80
       x 60, 50 x 40 und 30 x 24 cm, ziehen sich den Wände der [1][Galerie Poll]
       entlang, wo Gnaudschun sein [2][2024 begonnenes Werk] erstmals vorstellt.
       
       Die Bilder findet er in seinem persönlichen Umfeld, stille, eindrückliche
       Porträts von jungen und manchmal auch älterer Menschen mischt er mit
       Landschaftsansichten, Alltagsszenen und aus Zufall geborenen Stillleben.
       Wer diesen Bildern an der Wand folgt, kommt unmittelbar mit dem
       Lebensgefühl und der Verfasstheit unserer Gesellschaft in Berührung.
       
       Mal ganz abstrakt vermittelt wie im Stillleben der gebündelten roten und
       weißen „Datenkabel“, unter die sich ein einsames blaues mischt, mal ganz
       konkret wie in der Fotografie eines Baumes im Wald der Erinnerung der
       Bundeswehr in Geltow, wo ein Kind mit den farbigen Abdrücken seiner kleinen
       Hände die Trauer um seinen im Auslandseinsatz gefallenen Vater ausdrückt.
       
       Ganz direkt ins Bild kommt Politik mit der Erkennungsmarke mit dem
       Davidstern und dem Datum des 7.10.2023, dem Tag des mörderischen Überfalls
       der Hamas auf israelischem Gebiet. Gespiegelt in „Free Palestine“, dem Foto
       eines einsamen palästinensischen Fahnenträgers in irgendeiner Berliner
       Straße.
       
       Erschreckend auch „Wahlergebnis“, die Grafik auf dem Smartphone, die eine
       klar geteilte Republik zeigt, mit einer AfD-Mehrheit in allen östlichen
       Bundesländern. Fast unbegreiflich und bewundernswert wie Gnaudschun kleinen
       Momenten große Bedeutung verleiht, wie in „Schmetterlinge“, dem Foto, das
       just diese Insekten zeigt, freilich wie sie über die völlig nackte, kahle
       Erde flattern. „Hochwasser an der Oder“ wirkt da fast schon überdeutlich
       und ist doch vor allem ein faszinierendes Landschaftsbild.
       
       Nicht zuletzt mit dem Blick in den sonnigen, leicht bewölkten Himmel mit
       dem winzigen schwarzen Punkt des „Eurofighter Typhoon“, mit dem heiteren
       „Steine fitschen“ und dem verheißungsvollen Lichtspalt am „Morgen“ wird der
       Besuch von Göran Gnaudschuns „Gegenwarten“ zu einer wunderbaren,
       aufschlussreichen Meditation über unseren Alltag, mit seinen alltäglichen
       Freuden und den Problemen, die zu bewältigen kein Alltagsgeschäft zu sein
       scheint und es doch ist. Denn auf dem Mars lösen wir unsere Probleme nicht.
       
       ## Forschung an der Blüte
       
       Ihre Fotografien handeln vom Sterben der Blumen und gleichzeitig erzählt
       Kathrin Linkersdorff in „Microverse“, ihrer Ausstellung im [3][Haus am
       Kleistpark], vom Leben der Farben. Für ihre Werkgruppe „Wabi Sabi“
       (2013-2018) – benannt nach der japanischen Vorstellung, dass das
       Unvollkommene und Unbeständige wesentlicher und kostbarer Bestandteil des
       Lebens ist – hat sie verwelkende Tulpen, Mohnblüten, Artischocken,
       Sonnenblumen, Lilien und auch Samenkapseln mit großer Sensibilität einem
       Trocknungsprozess unterzogen und genau den Moment eingefangen, in dem die
       Blüte in ihrem Verfallsprozess ihre letzte Schönheit erreicht.
       
       Wie ihre Aufnahmen zeigen, scheinen die Farben der Blüten kurz vor dem
       Verwelken noch intensiver und durch einen metallischen Glanz verstärkt zu
       werden, der über dem satten Farbton der Blütenblätter liegt.
       
       Kein Wunder, dass sich Linkersdorff für die Veränderungen, die die Farben
       in der Natur durchlaufen, zu interessieren begann. Den Prozess des
       Verblassens, der nach dem Höhepunkt der Blüte durch die UV-Strahlung rasch
       einsetzt, hat sie in der [4][Werkgruppe der „Fairies“ (seit 2020)] auf die
       Spitze getrieben, indem sie den getrockneten Tulpen ihre wasserlöslichen
       Farbstoffe, die so genannten Anthocyane, chemisch kontrolliert entzog.
       
       Die auf ihr filigranes Fasergerüst reduzierten Blüten wurden so zu wahren
       Feenwesen, die die Künstlerin ins Wasser tauchte und ihre entfärbte
       Silhouette an bestimmten Stellen anschließend wieder mit ihrem eigenen, zu
       Tinte konzentrierten Farbstoff benetzte.
       
       Vor schwarzem Hintergrund fotografiert, entfalten die Blüten eine zarte
       Farbigkeit in barocker Formenpracht. Vor hellem Grund werden die
       Farbschlieren der Tusche sichtbar, die das Schwarz sonst verschluckt.
       Zwischen die opulenten Formen der Blütenblätter mischen sich also die
       Schlieren in unvorhersehbarer Formenvielfalt was zu leicht theatralischen,
       dabei aber heiteren Blumenbildern führt.
       
       Wie der Ausstellungstitel bereits andeutet, steht die Werkgruppe
       „Microverse“ (seit 2023) im Zentrum der Schau, mit Fotografien, für die
       Kathrin Linkersdorff gemeinsam mit der Mikrobiologin Regine Hengge die
       Farben ihrer Pflanzen regelrecht gezüchtet hat. Über Likes auf Instagram
       bekannt geworden, entwickelte sich zwischen den beiden eine intensive
       Korrespondenz, die schließlich zur Einladung von Linkersdorff führte – als
       Artist in Residence des interdisziplinären Excellence Clusters [5][„Matters
       of Activity“] – am Institut für Biologie/Mikrobiologie der
       Humboldt-Universität, dem Institut von Regine Hengge, weiter an Pflanzen
       und Farben zu forschen. Nun sollten Tulpen, Akelei, Erbsen und andere
       Pflanzen durch Bakterien neue Schönheit im Verfall erfahren.
       
       Hengge empfahl der Künstlerin mit dem Bodenbakterium Streptomyces
       coelicolor zu arbeiten. Streptomyceten sind für die Bildung von Humus
       verantwortlich, sie sind nicht pathogen, produzieren aber bei Stress, wie
       er zum Beispiel bei Nährstoffmangel entsteht, intensiv gefärbte,
       antibiotisch wirkende Substanzen. Streptomyces coelicolor bildet nicht nur,
       aber vor allem ein blaues Antibiotikapigment aus, das der Farbe von
       Lapislazuli ähnelt, das aber, weil es nicht mineralischen, sondern
       organischen Ursprungs ist, lebt, wächst und stirbt.
       
       Die vielen Schritte bis zur fotografischen Aufnahme zu benennen und zu
       erklären ist hier unmöglich. Möchte man also die große, erstmals im Haus am
       Kleistpark gezeigte, vierteilige Arbeit, auf die man gleich beim Betreten
       der zentralen Ausstellungshalle stößt, näher erkunden, lohnt sich der Kauf
       des hervorragend gedruckten Katalogs mit erhellenden, verständlich
       geschriebenen Essays.
       
       Obwohl man beim Anblick der Tafeln erst einmal meint, kosmische Nebel und
       weiß strahlenden Galaxien zu sehen, siedeln sich die grandiosen blauen,
       roten, lilafarbenen, grünen oder orangenen Farbexplosionen doch ganz
       irdisch an den transparenten Fasergerüsten der Blüten an. Und so tanzen die
       toten Blumen in bunten Kleidern aus antibiotischen Stoffen durchs Bild.
       Verwegen schaut es aus, das Stillleben des 21. Jahrhunderts.
       
       5 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://poll-berlin.de/galerie/
 (DIR) [2] https://gnaudschun.de/arbeiten/gegenwarten/
 (DIR) [3] https://www.hausamkleistpark.de/
 (DIR) [4] https://www.kathrinlinkersdorff.com/
 (DIR) [5] https://www.matters-of-activity.de/en/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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