# taz.de -- Ukrainische Para-Athletin: Stärker als Russland
       
       > Jana Stepanenko hat bei einem russischen Raketenangriff ihre Beine
       > verloren. Mit Prothesen läuft die 13-Jährige bei den großen Laufevents
       > dieser Welt.
       
 (IMG) Bild: Wohltätig: Jana Stepanenko trainiert im Pulli einer Lwiwer Reha-Klinik
       
       Luzk taz | Es ist kalt an diesem Morgen Ende Februar in Lwiw. Die
       13-jährige Jana Stepanenko auf der Laufbahn eines Leichtathletikstadions in
       der Stadt. Sie ist von Medienvertretern umringt und von den Joggern, die an
       diesem Morgen ihre Trainingsrunden drehen wollen. Sie prüft, ob ihre
       Prothesen richtig sitzen. Das Mädchen ohne Beine lächelt und genießt die
       Aufmerksamkeit. Ein paar Tage noch, dann fliegt sie nach Tokio, um dort
       beim großen Stadtmarathon zu laufen.
       
       Sie tritt an, um Geld einzuwerben. Sie sammelt für eine Prothese. Ein
       Soldat, der im Krieg sein Bein verloren hat, braucht sie. Nicht nur in
       diesem Stadion kennt man Jana Stepanenko. Die Geschichte des Mädchens hat
       Millionen Ukrainer bewegt und beinahe überall auf der Welt Menschen
       erreicht.
       
       Drei Jahre ist es nun her, als sich Janas Leben von Grund auf verändert
       hat. Es war ein Tag, den sie zusammen mit ihrer Familie erlebt hat, ein
       schwieriger Tag, ein trauriger. Hunderte Menschen drängten sich an diesem
       8. April 2022 am Bahnhof von Kramatorsk, einer umkämpften Stadt im Gebiet
       Donezk. Die Menschen warteten auf einen Zug, mit dem sie an einen
       sichereren Ort im Westen des Landes evakuiert werden sollten. Da feuerte
       das russische Militär eine ballistische Rakete vom Typ Totschka-U mit
       Streuladung auf die Wartenden ab. Solche Raketen sind in der Lage, im
       Umkreis von Hunderten Metern für Zerstörungen zu sorgen. 61 Menschen sind
       durch die Rakete getötet worden, 120 wurden verletzt. Der Angriff sorgte
       weltweit für Entsetzen.
       
       Janas Großmutter verlor ihr Leben bei diesem [1][Akt der russischen
       Aggression]. Ihrer Mutter Natalia fehlt seitdem der linke Unterschenkel.
       Und die damals 11-jährige Jana war an beiden Beinen schwer verletzt. Von
       einem war beinahe der ganze Unterschenkel abgetrennt, beim anderen fehlten
       Fuß und Knöchel. Ihr Zwillingsbruder Jaroslaw, der im Chaos der Explosion
       am Bahnhof herumgeirrt war, blieb unverletzt. Später erinnerte sich Mutter
       Natalia an den ersten Schock nach dem Angriff: „Ich schaute zu Jana, dann
       habe auf ich auf ihre Füße geschaut. Sie hatte keine mehr. Ich versuchte
       aufzustehen, da sah ich erst mein Bein, es hing nur noch an den Sehnen.“
       
       Die drei wurden zunächst nach Dnipro gebracht, wo die Erstversorgung
       stattgefunden hat. Natalia und Jana wurden operiert. Dann wurden sie zur
       Reha nach Lwiw gebracht. Auf einem der Fotos aus diesen schrecklichen
       Monaten nach dem Raketenangriff ist Natalia Stepanenko mit ihren Kindern im
       Flur eines Krankenhauses in Lwiw zu sehen.
       
       Sie sitzt im Rollstuhl, neben ihr Jaroslaw, der den Rollstuhl seiner
       Zwillingsschwester schiebt. Natalia Stepanenko, deren Mann mittlerweile
       [2][im Krieg gefallen] war, versuchte alles, um mit der Situation irgendwie
       zurecht zu kommen – zum Wohle ihrer Tochter und ihres Sohnes, die durch das
       Erlebte schnell beinahe schon erwachsen wurden. Mehrere Monate lang wurden
       Mutter und Tochter von den Ärzten in Lwiw behandelt und auf ein Leben mit
       Prothesen vorbereitet.
       
       ## Spezialprothesen nicht erhältlich
       
       Doch die benötigten Spezialprothesen waren zu jener Zeit in der Ukraine
       nicht erhältlich. Familie Stepanenko musste in die USA fliegen, um sich
       welche zu besorgen. Und so kam die Familie aus dem Örtchen New York im
       Gebiet Donezk – deutsche Siedler hatten dem Weiler im 19. Jahrhundert
       diesen Namen gegeben – nach San Diego. Etwa ein Jahr lebten die Stepanenkos
       in den USA. Dort machten Natalia und Jana ihre ersten Schritte mit
       Prothesen. Der Rehabilitationstherapeut Peter Hersh hat täglich mit ihnen
       gearbeitet. Er hat in seiner Praxis Hunderte von Patienten behandelt,
       darunter [3][Veteranen der Kriege in Irak] und Afghanistan.
       
       Aber jeden Tag war er aufs Neue von Janas eisernem Charakter überrascht. So
       sagte er es der BBC in einen Bericht über Janas neues Leben. Etwas viel
       Schlimmeres könne es nicht geben, als sich vorzustellen, wie ein kleines
       Mädchen durch die Hölle eines russischen Raketenangriffs geht, sagte Hersh
       da. Und: „War ich überrascht, als wir uns das erste Mal trafen? Ja,
       allerdings. Sie hat die Hölle durchgemacht! Putin will die Ukraine
       zerstören, aber ein elfjähriges Mädchen kann er nicht aufhalten. Schaut sie
       euch an: Sie wurde in die Luft gesprengt, aber sie ist unzerstörbar“,
       meinte Hersh über seine Patientin.
       
       ## Ein Jahr Rehabilitation
       
       Ein Jahr lang arbeiteten Mutter und Tochter daran, wieder laufen zu können.
       Es gab Rückschläge. Jana musste sich in den USA einer weiteren Operation
       unterziehen. Doch bald lernte sie sogar das Fahrradfahren. Heute kennen
       viele Ukrainer ihre Geschichte. Schon bevor sie angefangen hat, für
       Laufevents zu trainieren, machte ihr Schicksal die Runde in der Ukraine.
       „Sie hat mehr innere Stärke als das russische Militär, das versucht hat,
       sie zu töten. Jeden Tag schreitet sie selbstbewusster in ein neues,
       glückliches Leben“, schrieb Elena Selenskaja, die Frau des ukrainischen
       Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, im August 2022 auf X und postete
       dazu ein Video, das Janas erste Gehversuche zeigt. Wie Steine an den Füßen
       hätten sich die Prothesen angefühlt, erinnert sich Jana selbst an diese
       Zeit. „Anfangs war ich unsicher, ich musste lernen, das Gleichgewicht zu
       halten, aber dann ging es los, alles passte.“
       
       Seit ihrer Rückkehr aus den USA leben die Stepanenkos in Lwiw. Der
       ukrainische Fußballklub [4][Schachtar Donezk], der seit Beginn des Kriegs
       gegen die Ukraine 2014 in Lwiw Quartier genommen hat, hat der Familie eine
       Wohnung besorgt. Jana, glühende Anhängerin von Schachtar, und ihr Bruder
       Jaroslaw hatten bald Freunde gefunden in der Stadt. Einer von ihnen gehört
       zu den Soldaten, die bei der Verteidigung des Stahlwerks Asowstal in
       Mariupol eingesetzt waren. Noch immer fällt es Jana schwer, Nachrichten
       über den Krieg zu verfolgen. Zu tief sitzt das Erlebte. Und doch wurde sie
       zu einem Beispiel der Widerstandskraft für das Land. Sie begann, mit
       Prothesen zu laufen, um auf die Probleme der Kriegsopfer aufmerksam zu
       machen und um Geld für Veteranen zu sammeln.
       
       ## Herbst 2023 beim Marathon
       
       Angefangen hat alles, als sie im Herbst 2023 zwei Kilometer beim
       Lviv-Marathon gelaufen ist. Sie war der unumstrittene Star der
       Veranstaltung. Dafür hatte sie den Umgang mit speziellen Laufprothesen
       gelernt. Und im April 2024 zeigte Jana beim Boston-Marathon, einem der
       bedeutendsten Stadtläufe überhaupt, was sie kann. Dabei verwirklichte sie
       nicht nur ihren eigenen Traum, sondern auch den des verwundeten Soldaten
       Alexander Rjasny. Der hatte bei der Verteidigung von Saporischschja sein
       rechtes Bein verloren. Nun lief Jana, um Spendengelder für eine
       Sportprothese einzuwerben.
       
       Viermal pro Woche hat sie sich auf das Abenteuer Boston vorbereitet: zwei
       Tage mit einem Rehabilitationsspezialisten und zwei Tage mit
       professionellen Sporttrainern. Sie fing mit ganz kurzen Distanzen an: 1.200
       Meter mit den Sportprothesen – mehr war zu Beginn nicht zu schaffen.
       
       ## Fünf Kilometer in Boston
       
       Obwohl ihre Ärzte und Betreuer skeptisch waren, schaffte es Jana, in Boston
       fünf Kilometer zurückzulegen. Auch ihre Mutter Natalia konnte sich das
       lange nicht vorstellen. „Die Trainer haben uns gesagt, dass sie vielleicht
       1,5 bis 2 Kilometer laufen kann. Sie hat ja auch kaum Erfahrung. Sie konnte
       auch nur zwei Monate trainieren. Wir haben jedenfalls nicht erwartet, dass
       sie diese fünf Kilometer schafft“, sagte sie.
       
       Als sie ein Jahr später, Anfang März in Tokio wieder fünf Kilometer
       gelaufen ist, wussten ihre zahlreichen Bewunderer in der Ukraine bereits,
       wozu sie in der Lage ist. In Tokio ist sie wieder mit einem Spendenziel
       angetreten. Gemeinsam mit der Lwiwer Reha-Klinik „Unbroken“, die sich auf
       die Rehabilitation von Menschen mit Prothesen spezialisiert hat, sammelte
       Jana Geld für Sportprothesen für den Veteranen Olexander Schawnenko.
       
       Gefeiert wurde sie dafür im Stadion von Lwiw bei einem Spiel von Schachtar,
       zu dem sie zusammen mit Schawnenko eingeladen worden ist. Die Botschaft:
       Kein Problem und kein Krieg kann Jana brechen.
       
       Jetzt führt sie nicht nur das normale Leben einer 13-Jährigen, sie
       trainiert regelmäßig, nimmt an Wettkämpfen teil, fährt Fahrrad oder Roller.
       Und sie hat eine Mission: „Ich möchte Kinder unterstützen, die ebenfalls
       ihre Beine verloren haben und nicht mehr laufen können. Ich möchte, dass
       sie meine Auftritte sehen und sich sagen: Ja, das kann ich auch! Ich kann
       auch laufen.“ Das sagte Jana nach dem Marathon in Tokio. Sie träumt von
       einer Zukunft als Profisportlerin. Schritt für Schritt will sie sich diesem
       Traum nähern. Ihr nächstes Ziel: 10 Kilometer. Dafür trainiert sie.
       
       28 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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