# taz.de -- Paramilitärische Organisation für Frauen: Die Naiskodukaitse will gerüstet sein
       
       > In Estland bereiten sich Frauen auf eine mögliche Invasion Russlands vor
       > – auch deshalb, weil sie aus der Geschichte ihres Landes gelernt haben.
       
 (IMG) Bild: Nach dem militärischen Grundkurs beherrschen die Frauen der Naiskodukaitse die wichtigsten Schießpositionen
       
       Tallinn, Tartu und Pärnu taz | Distrikt Tartu, 550 Mitglieder.„Runter! Auf
       den Boden! Haltet die Schnauze!“, zwei dunkel gekleidete Frauen mit
       schwarzen Sturmhauben stürzen in den Raum. Die rechte brüllt, die linke
       reißt die Arme hoch. Nur Augen und Mund sind durch die Löcher im schwarzen
       Stoff erkennbar. In den Händen halten sie Schlagstöcke. Sieben Frauen
       werfen sich von ihren Stühlen unter die Tische auf den Fußboden, bedecken
       mit ihren Händen ihre Köpfe.
       
       Es ist jetzt ganz still im Raum, bis die Linke brüllt: „Die Handys zu mir!
       Sofort!“ Die Frauen legen ihre Mobiltelefone vor sich auf den Boden und
       die, die eben noch gebrüllt hat, sammelt sie ein. Dabei verrutscht ihre
       Sturmhaube. Sie rückt sie zurecht. „Bleibt unten! Alle hierüber in die
       Mitte!“, befiehlt die andere Frau nun den unter den Tischen Kauernden, die
       sofort in die Mitte kriechen. Sie sehen jetzt aus wie ein menschliches
       Knäuel.
       
       „Stopp! Danke, bis hierhin!“, unterbricht die Kursleiterin die Situation.
       Es war nur eine Übung. Die beiden Angreiferinnen nehmen ihre Sturmhauben
       ab, legen die Schlagstöcke weg. Das Knäuel auf dem Boden löst sich auf, die
       Frauen setzen sich zurück auf ihre Plätze. „Was habt ihr erlebt?“, fragt
       die Kursleiterin in den Raum.
       
       Die Anstrengung der vergangenen Minuten ist ihnen anzumerken. Erst sammeln
       die Frauen sich selbst und dann auf einem Flipchart ihre Empfindungen:
       Kontrollverlust, Aggressivität, Enge, Lärm, Angst. Reale Empfindungen in
       einer inszenierten Situation. Nach einer kurzen Pause sammeln sie auf einem
       zweiten Flipchart Strategien für eine reale Geiselnahme: „Ruhig bleiben“ –
       „Anweisungen befolgen“ – „Umgebungsgeräusche wahrnehmen“.
       
       An diesem Februarwochenende haben sich 23 Frauen auf dem Übungsgelände der
       estnischen Militärakademie in Tartu versammelt. Sie sind zwischen 20 und 55
       Jahre alt und gekommen, um an einem Basistraining der Naiskodukaitse
       teilzunehmen. Die Naiskodukaitse ist eine [1][Nebenorganisation der
       Kaitseliit], dem Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, übersetzt
       bedeutet ihr Name „Frauenverteidigung“.
       
       ## Die Naiskodukaitse ist eine reine Fraueneinheit
       
       Als reine Fraueneinheit wird die Naiskodukaitse ursprünglich 1927 nach
       finnischem Vorbild gegründet. Doch unter sowjetischer Besatzung werden
       viele ihrer Mitglieder nach Sibirien deportiert und die Organisation wird
       aufgelöst. Erst als Estland 1991 unabhängig wird, erfolgt die Neugründung.
       Ihre Mitglieder müssen volljährig sein und die estnische Staatsbürgerschaft
       besitzen. 46 Stunden Training im Jahr sind Pflicht.
       
       Die Naiskodukaitse ist mit der Kaitseliit dem estnischen
       Verteidigungsministerium untergeordnet und wird auch von ihm mit 600.000
       Euro jährlich finanziert. Im vergangenen Jahr erhielt die Kaitseliit
       insgesamt 54 Millionen Euro vom Ministerium. Dieses Jahr sind es 58
       Millionen und 2026 werden es 60 Millionen Euro sein.
       
       Die Kaitseliit soll sicherstellen, dass große Teile der Bevölkerung im
       Ernstfall verteidigungsbereit sind. 2024 zählt die estnische Armee 7.100
       Soldat:innen und ist damit eher klein. Dagegen hat der
       Freiwilligenverband 18.000 Mitglieder. Tritt der Ernstfall ein, untersteht
       die Kaitseliit mit der Naiskodukaitse der militärischen Leitung der
       estnischen Streitkräfte.
       
       Distrikt Tallinn, 689 Mitglieder. Den Willen zur Verteidigung, den hätten
       sie hier im Blut, so nah an Russland, sagt Elisa im Tallinner Hauptquartier
       der Kaitseliit. Deshalb komme man eben hierher in die Naiskodukaitse. Der
       gehört auch Elisa an. „Wir wollten uns selbst organisieren, nicht unter der
       Kontrolle der Männer stehen. Für Frauen ist das hier ein geschützter Ort,
       an dem sie ihren Zugang zum Militär entdecken können“, sagt Elisa. Sie hat
       dunkelblonde Locken und ein warmes Lachen, sieht nicht wie eine Soldatin
       aus. Aber wie sieht die schon aus?
       
       „Die Ausbildung hier ist sehr praktisch“, sagt Elisa. „Das ist kein Töten
       per Power Point.“ Die Frauen müssen bereit sein, an ihre persönlichen
       Grenzen zu gehen. So sind zum Beispiel Schlafentzug oder das Tragen
       schwerer Lasten Bestandteile des Trainings. Manche der Übungen finden in
       Dunkelheit statt. Immer wieder setzen die Frauen sich auch mit moralischen
       Fragen auseinander. Mit Frontalunterricht, sagt Elisa, habe all das wenig
       zu tun.
       
       Seit sechs Jahren arbeitet die Vierzigjährige hauptberuflich für die
       Naiskodukaitse als Entwicklungsbeauftragte und hat die App „Ole valmis!“
       mitentwickelt, „Mach dich bereit!“. Die App gibt Anweisungen für
       Krisensituationen. Ein Kapitel trägt die Überschrift „Verhalten in einem
       besetzten Gebiet“. Denn die Vergangenheit, glaubt man hier in Estland, kann
       schnell zur Gegenwart werden.
       
       Wenn Elisa in die Vergangenheit schauen will, muss sie nur aus dem Fenster
       gucken. Aus einem der hinteren sieht sie das Vabamu. Das estnische Wort
       heißt auf Deutsch „Freiheit“. Es ist der Name des Okkupationsmuseums in
       Tallinn, das direkt neben dem Hauptquartier liegt. Das Museum beschäftigt
       sich mit der sowjetischen und nazideutschen Besatzung Estlands.
       
       Estland ist ein junges Land, seit nicht einmal 34 Jahren ist es wieder
       unabhängig. Immer wieder musste Estland Fremdherrschaften über sich ergehen
       lassen: Dänemark, der Deutsche Orden, Polen-Litauen, Schweden, Russland,
       Nazideutschland und [2][wieder Russland]. Die älteren Einwohner:innen
       haben länger in einem abhängigen als in einem unabhängigen Staat gelebt.
       
       Fast 300 Kilometer Grenze zu Russland, Nato-Ostflanke, EU-Außengrenze –
       Estland hat eine geografische Schlüsselposition inne. Im gesamten Land
       leben 1,3 Millionen Menschen. Fast die Hälfte von ihnen in der Hauptstadt
       Tallinn. Außerhalb der Städte verlieren sich die Dörfer zwischen den Wiesen
       und Wäldern, und die asphaltierten Straßen werden zu Schotterwegen.
       
       ## Sich und die eigene kleine Nation schützen
       
       Staatliche Verteidigungsstrategien treffen auf ein großes inneres Anliegen
       der estnischen Bürger:innen, sich selbst und die eigene kleine Nation zu
       schützen – damit sich Geschichte nicht wiederholt. Das bringt einen
       Patriotismus zum eigenen Land hervor, der uns in Deutschland aufgrund
       unserer Vergangenheit befremden mag.
       
       Das Hauptquartier der Kaitseliit ist zentral gelegen. Ein blassgelber
       Altbau, der das Emblem der Kaitseliit trägt: einen Adler, der in der
       rechten Kralle ein Schwert, in der linken das estnische Wappen hält.
       Eisiger Januarwind pfeift um das Gebäude herum, in das eine Steintreppe
       führt. Rechts liegen die Büros, links der Flaggensaal. In ihm reihen sich
       zu drei Seiten alle fünfzehn Flaggen der Distrikte auf, in denen sich die
       Naiskodukaitse über ganz Estland erstreckt.
       
       Nur eine Wand hat keine Flaggen, an ihr hängt goldumrahmt ein Stück
       Landesgeschichte. „Need, kes vabastasid Isamaa“ ist der Titel des Bildes,
       zu Deutsch: „Diejenigen, die das Vaterland befreit haben.“ Marschierende
       Menschen in Uniform, vom Esten Maximilian Maksolly mit Öl auf Leinwand
       gemalt. Es ist eine Szene aus dem Estnischen Freiheitskrieg, in dem die
       Kaitseliit von 1918 bis 1920 für die Unabhängigkeit von Russland gekämpft
       und ihren Ursprung hat.
       
       Die Geschichte zu dem Bild hat Elisa oft erzählt. Seit mehr als 17 Jahren
       ist sie bei der Naiskodukaitse: „Ich habe als Studentin angefangen. Ich
       wollte draußen im Wald sein. Mich um mein Land kümmern.“ Ihren Abschluss
       hat die dreifache Mutter in Produktentwicklung an der Taltech, der
       Technischen Universität in Tallinn, gemacht. In der Naiskodukaitse kann
       sie beides verbinden. Wir nennen sie, wie die anderen Frauen in diesem
       Text, nur beim Vornamen, um sie vor möglichen Repressalien durch Russland
       zu schützen.
       
       Bewaffnet und für Krisensituationen geschult, kann der Staat die
       Naiskodukaitse für paramilitärische Aufgaben einsetzen. Obwohl die Einheit
       nicht zum staatlichen Militär gehört, kann sich jede der Frauen in der
       Naiskodukaitse als Soldatin ausbilden lassen und als Mitglied der
       Reservearmee des Militärs dienen. Wer sich anders entscheidet, kann sich in
       den Bereichen Krisenmanagement, medizinische Versorgung und
       Katastrophenschutz schulen. Auch das Überleben in der Wildnis,
       Selbstverteidigung und ein Feuerschutztraining sind Bestandteile der
       Basisausbildung, die alle absolvieren müssen.
       
       Im militärischen Grundkurs lernen die Frauen, mit verschiedenen Waffen
       umzugehen, persönliche Tarnkleidung anzulegen und über Funk zu
       kommunizieren. Alle von ihnen durchlaufen außerdem einen Lehrgang zur
       Truppenführerin. „Jede hat am Ende schon mal eine Waffe gesehen und
       angefasst, beherrscht die wichtigsten Schießpositionen“, sagt Elisa.
       Trotzdem sagt sie auch: „Ich weiß nicht, ob ich wirklich schießen würde.
       Technisch kann ich es. Ich weiß, wie man die Waffe hält, wie man sie
       abfeuert. Vielleicht ist es keine Frage mehr, wenn die Situation da ist.
       Also, als Mutter würde ich wahrscheinlich schießen.“
       
       Dass so eine Situation schnell zur Realität werden kann, hat Elisa gleich
       zu ihrer Anfangszeit in der Naiskodukaitse während der sogenannten
       „[3][Bronzenacht“] erlebt. Die Nacht war für sie ein Schlüsselmoment: Am
       Abend des 26. April 2007 beginnen in Tallinn die schwersten Unruhen seit
       dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Grund für die Eskalation ist die
       Versetzung des Bronzesoldaten im Stadtzentrum Tallinns auf einen
       Kriegsgefallenenfriedhof außerhalb der Stadt. In Folge dieser demonstrieren
       und randalieren Teile der russischsprachigen Bevölkerung in der Innenstadt.
       Geschäfte werden geplündert und zerstört. Ein Mensch stirbt, 70 Menschen
       werden verletzt.
       
       Aus russischer Sicht symbolisiert der Bronzesoldat die Befreiung Tallinns
       von der NS-Herrschaft 1944, für die Est:innen steht er für den erneuten
       Verlust ihrer Unabhängigkeit. Zwei ganze Nächte dauern die Unruhen an. „Das
       war das erste Mal, dass die estnische Regierung an alle Menschen eine SMS
       verschickt hat: ‚Verhalten Sie sich ruhig! Gehen Sie nicht auf die
       Straße!‘“, erinnert sich Elisa. „Natürlich wussten sie, wenn die
       Naiskodukaitse jetzt rausgeht, in Uniform, dann kommt Russland vielleicht
       mit Panzern.“
       
       Ein bewaffneter Konflikt mit Russland, das wird Elisa in diesem Moment
       klar, ist nur einen Schritt, eine Entscheidung weit weg. Sie greift sich in
       ihre dunkelblonden Locken, bindet sie zu einem Zopf zusammen. „Krieg ist
       nichts, was nur die Soldat:innen tun. Krieg beeinflusst alle. Du kannst
       nicht zu Hause sitzen und deine Blumen gießen, und der Krieg passiert
       woanders.“
       
       ## Mehr neue Mitglieder seit dem Angriff auf die Ukraine
       
       Als 2022 russische Truppen in die Ukraine einmarschieren, sei der
       Kriegsbeginn für alle ein Schock gewesen, sagt Elisa. Dennoch hätten sie
       hier immer gewusst, dass es passieren würde. „Wie oft haben wir gehört:
       Kommt endlich darüber hinweg, das ist nur eine posttraumatische
       Belastungsstörung. Aber die russische Invasion in die Ukraine hat allen
       gezeigt, dass wir nicht paranoid sind“, erzählt sie. Manche Nationen
       änderten sich nicht. „Das ist ein imperialistisch denkendes Land und es
       wird wahrscheinlich eine ganze Nation brauchen, um Estland zu schützen.“
       
       Daher sei der Krieg in der Ukraine von Beginn an ein Krieg gewesen, der die
       Menschen in Estland betreffe und auch die Naiskodukaitse verändert habe:
       „Vor 2022 hatten wir ungefähr 150 neue Mitglieder pro Jahr. Plötzlich
       hatten wir in nur anderthalb Jahren 1.300 neue Mitglieder.“ Anfang 2025
       sind es 4.000. Elisa gibt das Zuversicht.
       
       Vorbereitung sei das, was sie jetzt während der Friedenszeit tun könnten.
       „Vor den Bomben haben die meisten keine Angst. Eine neue Okkupation wäre
       viel schlimmer.“ Die Russ:innen, die seien in der Ukraine wie Tiere, höre
       Elisa die Menschen in Estland immer wieder sagen. „Wir hoffen einfach, dass
       Russland sieht, dass wir stark genug sind, die Nato stark genug ist und
       dass sie dann nicht angreifen werden.“
       
       Über 1,3 Milliarden Euro – 3,43 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes –
       gibt Estland 2024 für die Verteidigung aus. Es liegt damit auf [4][Platz
       zwei der Nato-Mitgliedsstaaten]. Nur Polen liegt mit knapp über vier
       Prozent vor Estland. Hanno Pevkur, der Verteidigungsminister Estlands,
       sieht in den hohen Ausgaben die einzige Möglichkeit, eine starke
       Nato-Ostflanke aufzubauen. „Wir bauen Wege für Kriegsinfrastruktur aus,
       errichten Panzersperren und Bunkeranlagen an der Grenze zu Russland“,
       schildert er die Pläne im Herbst 2024 im [5][Interview im
       Deutschlandradio].
       
       Gemeinsam mit Lettland und Litauen realisiert Estland die Baltic Defence
       Line, eine Verteidigungslinie entlang der Grenzen zu Russland und Belarus;
       2022 auf dem Nato-Gipfel in Madrid beschlossen, als Reaktion auf die
       russische Invasion in die Ukraine. Die Bauarbeiten haben inzwischen
       begonnen. „Die Hoffnung, dass Russland ein demokratisches Land wird, haben
       wir aufgegeben. Wir haben es 2008 in [6][Georgien] gesehen, 2014 auf der
       Krim und 2022 nun wieder“, sagt Pevkur.
       
       In seiner Stimme liegt Entschlossenheit, wenn er über Estlands Verhältnis
       zu Russland spricht. „Der Grenzfluss Narva ist für mich immer auch eine
       Grenze der Zivilisation gewesen. Auf russischer Seite gibt es eine
       autoritäre Regierung. In Estland haben wir eine freie Gesellschaft. 1991
       haben wir uns dazu entschlossen, Teil des Westens zu sein.“ Das Baltikum
       gehört seit 2004 zur Europäischen Union. Alle drei Länder treten im
       gleichen Jahr der Nato bei.
       
       Zurück in den Distrikt Tartu. Die Militärakademie von Tartu, in der die
       Frauen an diesem Februartag das Basistraining absolvieren, liegt am
       östlichen Ende der Stadt; gegenüber Plattenbauten aus Sowjetzeiten, davor
       eine Wiese, Birken und Nadelbäume. Ein Kind übt im kalten Wind das
       Fahrradfahren mit Stützrädern, begleitet von seiner Mutter. Sein Lachen
       wird vom Wind in die Umgebung getragen. Alltag, der bis an die hohen Zäune
       der Akademie heranreicht. Auf dem Gelände stehen verschiedene
       Militärfahrzeuge neben breiten asphaltierten Wegen für Panzerfahrten, große
       Hallen reihen sich links und rechts entlang der Wege auf.
       
       Eine der Hallen ist eine Sporthalle, sie liegt im hinteren Teil des
       Geländes. Innen grenzen schwarze und weiße Linien auf dem Hallenboden das
       Spielfeld ein. Eine weitere Linie trennt das Feld in zwei gleichgroße
       Hälften. Hier, keine Autostunde von Russland entfernt, wo fast auf den Tag
       genau vor 105 Jahren der Friedensvertrag von Tartu unterzeichnet und die
       Ländergrenzen zwischen Estland und Russland festgelegt wurden, wirken sie
       wie eine politische Allegorie.
       
       Epp steht mit den anderen 23 Frauen im Kreis. Gleich trainieren sie den
       Nahkampf, eine weitere Station im heutigen Basistraining. Die beiden
       Kursleiterinnen machen die erste Übung vor. Dann sollen es alle versuchen.
       Zweier- und Dreiergruppen verteilen sich in der Halle. Epp und ihre
       Kampfpartnerin Kristiina nehmen Position ein: eine Schulterbreite Abstand
       zwischen den Füßen, das Körpergewicht auf beide Beine verlagert, die Füße
       bilden eine Diagonale.
       
       Sie bewegen sich in schnellen Vor- und Rückwärtsschritten über die Linien
       des Hallenbodens hinweg. Mit der geraden Führhand versuchen sie, ihr
       Gegenüber auf Distanz zu halten. Mit der anderen Hand, der Schlaghand,
       versuchen sie, die Faust ihres Gegenübers zu treffen. Die meisten hier
       tragen Leggings und T-Shirt, sind müde von der Woche und kämpfen heute zum
       ersten Mal. Epp hat triftige Gründe, weshalb sie ihr Wochenende hier
       verbringt: „Der Ukrainekrieg hat alles wieder konkreter gemacht. Meine
       Großeltern wurden während der Sowjetzeit nach Sibirien deportiert. Ich will
       mich nicht von meiner Angst überwältigen lassen, aber dass die Bedrohung da
       ist, ist klar.“
       
       Die Atmosphäre in der Halle ist konzentriert. Epp und Kristiina sollen
       jetzt Kraft aus kleinen Bewegungen entwickeln, dabei nah genug an ihr
       Gegenüber gelangen und gleichzeitig wenig Angriffsfläche bieten, eine
       Technik für Stresssituationen. „2022 war ich in Deutschland, kurz nach
       Kriegsbeginn“, sagt Epp. „Da ist mir klar geworden, dass nicht alle dieses
       Bewusstsein haben. Für viele Deutsche war das viel weiter weg, dass
       wirklich was passieren kann.“ Sie zielt mit der Schlaghand in Kristiinas
       Richtung.
       
       ## Wann fängt ein Krieg an?
       
       Wann fängt ein Krieg an? In gewisser Weise ist er in Estland schon da.
       Leise, subtil, beinahe unbemerkt ist er zurückgekommen. Nicht im
       völkerrechtlichen Sinne, es gibt keinen bewaffneten Konflikt. Aber wenn
       Grenzbojen im Grenzfluss Narva von russischen Grenzschutzbeamten entfernt,
       immer wieder GPS-Signale im estnischen Luftraum von Russland gestört,
       Unterseekabel beschädigt und russische Cyberangriffe auf Ministerien in
       Estland verübt werden – dann sind das Akte einer hybriden Kriegsführung.
       Dann verwischen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden.
       
       Der hybride Krieg ist nicht im internationalen Recht definiert. Die
       Zustände von Krieg und Frieden aber in ihrer Divergenz aufzulösen, ist ein
       politisches Machtinstrument, das eine staatliche Ordnung in einen Zustand
       der Undefiniertheit überführt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt
       unterwandert. Fängt man so Krieg an?
       
       Auf einem Schotterplatz neben der Sporthalle findet nun das
       Brandschutztraining statt. Für Kristiina ist es das erste innerhalb des
       Basistrainings. Sie spricht Deutsch mit bayerischem Dialekt, war lange in
       München für das Studium und die Arbeit. Erst vor Kurzem kam sie zurück:
       „Heimat ist Heimat“, sagt sie. Und weil Heimat Heimat ist, ist sie jetzt in
       der Naiskodukaitse. „Als ich hier ankam, dachte ich, es sind unruhige
       Zeiten, also wird es Zeit. Wir kennen die Russen.“ Viele kämen zum
       Freiwilligenverband, um sich die Angst zu nehmen, sagt Kristiina – sie
       selbst auch: „Dann weiß ich, was zu tun ist, wenn es so weit ist.“
       
       Ein Brandmeister der örtlichen Feuerwehr zeigt, wie der Feuerlöscher
       bedient werden muss, auf was es beim Löschen ankommt. Danach sollen es die
       Frauen selbst versuchen. Kristiina ist die Erste. Mit dem Zeigefinger der
       rechten Hand entfernt sie den Sicherheitsstift des Feuerlöschers, platziert
       sich in Windrichtung, sodass die Flammen nicht in ihre Richtung schlagen.
       Sie löst die Löschpistole aus der Halterung, zielt in die Glut und verteilt
       den Löschschaum von unten nach oben stoßweise über das Feuer. Unter
       zischenden Geräuschen legt sich der Schaum über die Flammen. Innerhalb
       weniger Sekunden ist nur noch Rauch zu sehen, der mit dem Wind über das
       Gelände zieht. Kristiina hat das Feuer gelöscht. Die Nächste macht sich
       bereit.
       
       Es sind unspektakuläre Szenen. Vielleicht, weil das Feuer so klein ist.
       Vielleicht, weil die Frauen es selbst anzünden. Vielleicht, weil es in
       Friedenszeiten brennt. Und vielleicht ist die Übung damit Sinnbild für
       politische Beziehungen zwischen Ländern. Dafür, dass man einen Brand
       löschen muss, solange er noch kontrollierbar ist.
       
       Ortswechsel, Distrikt Tallinn. „Auch das wird vorübergehen“, steht da, auf
       Hebräisch unter den Kirschblüten auf Irinas Unterarm. Sie sagt, das Leben
       sei sinusförmig. Weil sich alles im Leben schnell ändere, soll man die
       guten Dinge genießen. Manchmal vergesse sie das, deshalb die Tattoos. Irina
       ist in Moskau aufgewachsen, hat dort gelebt und als Intensivpflegekraft
       gearbeitet, bis sie vor 13 Jahren nach Estland kam.
       
       Nachdem sie einen Master in Psychologie abgeschlossen hat und Putin 2012
       wieder Präsident wird, fasst Irina einen Entschluss: „Ich wollte gehen, um
       in Estland noch mal Design zu studieren. Aber ich wollte auch weg aus
       Russland, das war eine Entscheidung für mich. Als ich an der Kunstakademie
       angenommen wurde, war klar, ich konnte hier leben und arbeiten.“
       
       Seitdem wohnt die 43-Jährige in Tallinn. Sie trägt ihre dunkelblonden Haare
       kurz, hat einen Sohn und eine jüngere Tochter, die sie allein großzieht.
       Die Tochter ist in Estland geboren – in eine Realität, die Irina sich erst
       erschließen musste: „Erst als ich hier ankam, verstand ich so richtig, dass
       die Sowjetzeit für Estland eine Geschichte der Okkupation war. Ich hatte
       einen estnischen Freund zu der Zeit, mit dem ich viel geredet habe, und ich
       habe angefangen, mich genauer mit der estnischen Geschichte zu
       beschäftigen.“
       
       Für Irina hat das den Blick auf ihre Heimat verändert. Es sei schwer für
       sie, Kontakt zu ihrer Familie und zu den Verwandten zu halten, weil Putins
       Propaganda sie abschotte. Mit der russischen Invasion in die Ukraine sei es
       noch schwieriger geworden. Irina vertritt eine klare Position: „Ich hoffe
       immer noch, dass der Krieg in der Ukraine bald endet, auch wenn ich nicht
       weiß wie. Ich hoffe, dass Amerika die Ukraine nicht in eine
       Verliererposition drängen wird.“
       
       2024 entscheidet sie sich, zur Naiskodukaitse zu gehen. Die Grundausbildung
       hat sie schon abgeschlossen. „Die meisten brauchen zwei Jahre“, berichtet
       sie. Irina hat es in weniger als der Hälfte der Zeit geschafft. Die
       russische Invasion in die Ukraine habe ihr Angst gemacht: „Ich habe eine
       elfjährige Tochter. Für sie wollte ich die Grundausbildung schnell zu Ende
       bringen. Ich will vorbereitet sein.“ Irinas Blick ist ernst und
       konzentriert. Sie spricht bedacht, wählt ihre Worte behutsam.
       
       Wenn sie kommen, sagt sie, dann gebe es ohnehin keinen Ort, an den du gehen
       kannst, dann musst du bleiben und wissen, was zu tun ist. „Ich habe zuerst
       das Soldatinnen-Modul absolviert. Das war eine Herausforderung für mich“,
       sagt sie. „Einmal haben wir drei Tage im Wald verbracht. Das waren
       körperlich anstrengende Tage und ich musste mich zusammenreißen, alle
       Aufgaben in der vorgegebenen Zeit richtig auszuführen. Ich habe in diesen
       Tagen verstanden, wie hart das Soldatinnendasein ist.“
       
       Eines von Irinas Vorbildern sei immer Sarah Connor gewesen, die
       Protagonistin aus den Terminator-Filmen. In ihnen kämpft Sarah Connor
       gegen das Superintelligenzsystem „Skynet“, das 2029 die Welt durch einen
       Atomkrieg zerstört, indem es das Verteidigungssystem der USA kontrolliert
       und einen militärischen Angriff auf Russland initiiert.
       
       Vor einiger Zeit hat Irina die estnische Staatsbürgerschaft angenommen und
       noch einen Master in Gesundheitswissenschaften draufgesattelt. Ihr Vater
       hat den Kontakt zu ihr abgebrochen. Irina will weitermachen, arbeitet
       freiberuflich als Designerin und leitet eine Intensivstation in einem
       Tallinner Krankenhaus. Bald wird sie auch die Kurse für die medizinische
       Ausbildung in der Naiskodukaitse leiten.
       
       Distrikt Pärnu, 230 Mitglieder. Ein Februartag im Seebad Pärnu, der
       Sommerhauptstadt Estlands. Es sind fünf Grad, ein paar Menschen baden
       trotzdem im Meer. Über dem Strand kreisen die Möwen, ihre Rufe hallen bis
       in die Stadtmitte. Hinter Hotelanlagen und dem Rannapark bricht der Strand
       ab. Der Himmel ist grau und Pärnu bunt. Zwischen den roten, grünen und
       gelben Holzhäusern stadteinwärts kann man immer noch den Ostseewind spüren.
       
       Schräg gegenüber vom Busbahnhof wird Estland am 23. Februar 1918 um acht
       Uhr abends unabhängig. Dort, vom Balkon des Theaters Endla wird das
       „Manifest kõigile Eestimaa rahvastele“, das „Manifest an alle Völker
       Estlands“, verlesen; die Unabhängigkeitserklärung vom Russischen Reich, die
       Gründungsurkunde der Republik Estland. Erst einen Tag später findet die
       Verkündung in Tallinn statt.
       
       Das Holzhaus der Kaitseliit steht keine 300 Meter von hier. Es ist beige
       wie der Strand, bis auf die dunkelbraunen Verzierungen an Fassade und
       Fenstern. Innen knarzt der Holzboden. Ave und Pille haben gerade einen Kurs
       über Funkkommunikation für die Naiskodukaitse vorbereitet.
       
       Ave ist schon länger dabei, die Vierzigjährige hat als Studentin der
       Aquakultur in Tartu angefangen. Sie sagt, es sei ein paradoxer Zustand,
       sich auf eine mögliche Realität vorzubereiten, die vielleicht nie eintrete:
       „Neulich haben wir trainiert, starke Blutungen zu stillen. Blutungen, für
       die ein Pflaster nicht reicht. Da waren auch zwei Frauen aus der Ukraine
       dabei. Für die war das viel realer. Und hier wirst du erschossen, fällst zu
       Boden und stehst wieder auf. Aber so funktioniert das im echten Leben
       nicht.“ Inzwischen ist Ave bei der Kaitseliit angestellt und dafür
       zuständig, die militärische Ausrüstung zu organisieren und zu verwalten. In
       der Naiskodukaitse ist sie im Evakuierungsteam. Ave hat zwei Söhne,
       dreizehn und sechzehn Jahre alt.
       
       2022 war die Realität fast in Pärnu und ist dann doch weiter nach Tallinn
       gefahren. Damals sollten die ersten ukrainischen Geflüchteten nach Pärnu
       kommen. Vor Ort haben alle mit angepackt: Zelte und Betten aufgestellt,
       psychologische Unterstützung organisiert, Medikamente besorgt und Essen für
       Hunderte gekocht. Innerhalb weniger Stunden haben sie ein ganzes
       Evakuierungslager aufgebaut. „Alles stand bereit, und dann gab es die
       Anweisung, dass die Busse direkt nach Tallinn weiterfahren sollten“,
       erzählt Pille.
       
       Die zweifache Mutter ist Kindergärtnerin, hat einen Abschluss in Pädagogik.
       Ihre jüngere Tochter ist gerade drei geworden. Bei der Naiskodukaitse ist
       Pille jetzt seit gut zwei Jahren. „Wenn du hier viel machen willst,
       brauchst du jemanden, der sich zu Hause um alles kümmert“, sagt sie.
       „Manche von uns würden gerne öfter kommen, aber schaffen es nicht.“ Pille
       glaubt man sofort, dass sie die Kinder und die Naiskodukaitse unter einen
       Hut bekommt.
       
       Nur, wenn der Ernstfall mit Russland einträte, wüsste sie auch nicht genau,
       wie sie handeln würde: „Wir haben hier eine Mission, aber ich fühle mich
       meiner Familie verpflichtet. Ich will gehen, aber gleichzeitig bleiben.
       Vielleicht ist das etwas Weibliches, ich weiß es nicht. Manchmal denke ich,
       es wäre für die Männer leichter, an die Front zu gehen.“
       
       Die Unabhängigkeit hielt in Estland immer nur übergangsweise. Nach dem
       Krieg war vor dem Krieg. Das Theater Endla, in dem Estland 1918 seine
       Unabhängigkeit verkündet, brennt 1944 im Zweiten Weltkrieg ab; vier Jahre,
       nachdem Estland erneut seine Unabhängigkeit an Russland verlor. Jetzt steht
       hier ein Hotel.
       
       „Ich bin nicht so weit, an die Front zu gehen“, sagt Ave, „aber es wird
       konkreter. Du musst es nehmen, wie es kommt.“
       
       Den Krieg nehmen, wie er kommt – vielleicht ist das etwas Estnisches.
       
       16 Mar 2025
       
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