# taz.de -- Wählen für Menschen mit Behinderung: Sollen Egemen und Achmad weg?
       
       > Mein Sohn hat eine geistige Behinderung. Damit er wählen kann, müssten
       > Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine Lebenswirklichkeit
       > beziehen.
       
 (IMG) Bild: In Deutschland haben auch Menschen mit geistigen Behinderungen ein Wahlrecht. Leichte Sprache nutzen trotzdem nicht alle Parteien
       
       Wenn ich meinen Sohn Willi frage: „Möchtest du Pizza oder Nudeln?“, dann
       kenne ich seine Antwort schon vorher. Er wird begeistert „Jaaaaa“ rufen und
       sich grinsend an den Tisch setzen. Auf die Frage: „Möchtest du Pizza oder
       Grünkohl?“, würde er mit einem empörten Kopfschütteln reagieren und
       vielleicht noch mit zusammengekniffenen Augen „Ii i i iiii“ hinzufügen.
       Entweder-oder-Fragen kann er nicht beantworten. Es müssen Ja-Nein-Fragen
       sein, um ihn mitentscheiden zu lassen. Und Willi möchte entscheiden!
       
       Von politischen Wahlen waren die rund 80.000 Menschen in Deutschland mit
       [1][sogenannten geistigen Behinderungen], die in allen Bereichen betreut
       werden, bis vor Kurzem ausgeschlossen. Nachdem mehrere Betroffene
       Beschwerde eingelegt hatten, stellte das Bundesverfassungsgericht 2019
       allerdings fest, dass dieser pauschale Wahlausschluss [2][verfassungswidrig
       war.]
       
       Wer Willi kennt und erfährt, dass auch er an den nächsten Wahlen teilnehmen
       darf, reagiert meist amüsiert. Da Willi nicht sprechen kann, wird ihm oft
       auch die Fähigkeit zu denken abgesprochen. Dass die Fähigkeit zu sprechen
       aber gar nichts mit der Fähigkeit zu denken zu tun haben muss, davon konnte
       man sich in so mancher Wahlkampfrede ausgiebig überzeugen.
       
       Trotzdem gebe ich zu, dass es auch mir zuerst skurril vorkam, dass Willi
       bald wahlberechtigt sein wird. Als gesetzliche Betreuerin dürfte ich ihm
       dann zwar Hilfestellung geben, aber ausdrücklich nicht in seinem
       vermeintlichen Sinne für ihn entscheiden.
       
       So steht es im Bundeswahlgesetz: „Ein Wahlberechtigter, der des Lesens
       unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert
       ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen. Die
       Hilfeleistung ist auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom
       Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung
       beschränkt.“
       
       Und weiter: „Unzulässig ist eine Hilfeleistung, die unter missbräuchlicher
       Einflussnahme erfolgt, die selbstbestimmte Willensbildung oder Entscheidung
       des Wahlberechtigten ersetzt oder verändert.“
       
       Bezogen auf Willis Nudel-Pizza-Angelegenheit könnten eine solche technische
       Hilfe Symbolbilder sein, auf die er zeigen kann (wobei ich in diesem Fall
       damit rechnen muss, dass er gleich mehrfach auf Nudeln und Pizza tippen und
       ein Grünkohlbild erbost vom Tisch fegen würde).
       
       In einer Internetgruppe für Eltern von Menschen mit Behinderungen habe ich
       gefragt, wie es die anderen mit dem Wählen halten. Einige Familien hatten
       bei der Bundestagswahl 2021 die Erfahrung gemacht, dass sie trotz des
       geänderten Wahlrechts nicht mit ihren erwachsenen Kindern in die Wahlkabine
       gelassen wurden. Sie wählen nun per Briefwahl und bleiben so wieder
       unsichtbar für alle anderen. Viele Eltern scheinen ihren Kindern jedoch
       keine politische Meinung zuzutrauen und lassen sie nicht wählen. Ein Vater
       gab zu, dass er nur für sein Kind das Kreuz machen würde und wurde als
       Wahlbetrüger beschimpft.
       
       Andere berichteten, dass sie gemeinsam mit ihren Betreuten die
       [3][Wahlprogramme in Leichter Sprache] nutzen, die alle großen Parteien
       außer BSW und AfD zur Bundestagswahl zur Verfügung gestellt haben. Viele
       fanden auch den Wahl-O-Mat sehr hilfreich.
       
       Für geistig stark eingeschränkte Menschen müssten die Fragen und
       Informationen aber noch viel stärker [4][vereinfacht werden]. Auf vielen
       Wahlplakaten scheinen die Parteien genau das zu versuchen, aber meist
       kommen dabei nichtssagende Schlagworte wie „Freiheit“, „Sicherheit“ oder
       „Zusammenhalt“ heraus, mit denen wahrscheinlich nicht nur Willi nichts
       anfangen kann.
       
       Für ihn müssten konkrete Formulierungen gefunden werden, die sich auf seine
       Lebenswirklichkeit beziehen. Mit der einfachen Frage „Sollen Egemen und
       Achmad weg?“ wäre [5][der Grünkohl unter den Parteien] zumindest schon mal
       aussortiert.
       
       1 Mar 2025
       
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