# taz.de -- Gendersensible Pädagogik: Die Tiger und Mona Lisa
       
       > Die ersten Lebensjahre prägen das Denken über Geschlechterrollen. Eine
       > Kita setzt auf gendersensible Pädagogik. Sie ist Schutzraum für
       > Regenbogenfamilien.
       
 (IMG) Bild: Tiger statt Prinzessin: Vielfalt vorleben
       
       An Dienstagen sind die Rosaroten Tiger immer besonders aufgekratzt. Dann
       nämlich bekommen die Drei- bis Sechsjährigen Besuch von ihrer
       „Märchentante“. Und das bedeutet: spannende Geschichten von einer sehr
       geübten Erzählerin.
       
       Zwanzig Jahre hat Mona Lisa als katholischer Priester in Ostfriesland
       gewirkt, später für die Landes-FDP das große Wort geschwungen. Heute denkt
       sich die 61-jährige trans* Frau im Rollstuhl Geschichten für Kitakinder in
       Berlin-Schöneberg aus.
       
       An diesem Februartag fällt den Tigern sofort die Bernsteinkette um Mona
       Lisas Hals auf. „Ich mag das“, sagt ein Mädchen und fasst die Steine an.
       „Aus meiner Heimat Mecklenburg“, erwidert Mona Lisa etwas überrascht. In
       der Hand hält sie eine Tulpe mit rotgelben Blättern, aber auf die spricht
       sie kein Kind an.
       
       Auch nicht auf ihre lackierten Fingernägel, die kennen die Kleinen schon.
       „Habt ihr gesehen, was ich heute mitgebracht habe?“, fragt Mona Lisa
       schließlich. „Eine Blume“, rufen die Kinder sofort. Mona Lisa nickt
       zufrieden. Jetzt kann die Märchenstunde losgehen.
       
       ## Vielfalt bedroht von rechts
       
       Mona Lisa kommt jede Woche in die Kita. Sie wohnt direkt über der
       Einrichtung, in einer von 69 Wohnungen, die die Schwulenberatung Berlin
       dort für die queere Community bereitstellt. Seit rund zweieinhalb Jahren
       gibt es den [1][Lebensort Vielfalt] nahe dem Bahnhof Südkreuz. Heute
       gehören dazu ein Restaurant, Büroräume der Schwulenberatung – und eben die
       Kita Rosarote Tiger samt Krippe für die Ein- bis Dreijährigen, die
       Gelbgrünen Panther.
       
       „Mit dem Mehrgenerationenhaus und der Kita bieten wir Schutzräume für die
       Community an“, sagt Christin Richter, die bei der Schwulenberatung für den
       Bereich Kinder und Jugend zuständig ist. Immer wieder fühlten sich
       Regenbogeneltern an anderen Kitas nicht akzeptiert. Entsprechend hoch sei
       die Nachfrage.
       
       Die Kita bleibt dabei nicht unbeobachtet. [2][Die AfD und deren
       Jugendorganisation „Junge Alternative“] verunglimpften die Einrichtung
       schon vor der Inbetriebnahme als „Pädo-Kita“ und wetterten gegen eine
       angebliche „Frühsexualisierung“. Solche Vorwürfe kann Kitaleiterin María
       Rojas Brahm nicht ernst nehmen: „Wir erziehen hier natürlich kein Kind
       dazu, schwul oder lesbisch oder sonst was zu sein.“ Das sei Kulturkampf von
       rechts.
       
       Vielmehr gehe es darum, einen vorurteilsbewussten Ort zu schaffen. „Wir
       wollen Vielfalt vorleben und den Kindern zeigen, dass es auch in Ordnung
       ist, wenn ein Kind zwei Mütter oder mehr als zwei Elternteile hat“, sagt
       Rojas Brahm. Am wichtigsten sei, dass die Fachkräfte für das Thema
       sensibilisiert seien.
       
       ## Pädagogik der Vielfalt
       
       Wie die meisten, die hier arbeiten, ist auch Rojas Brahm Teil der queeren
       Community. Die 37-Jährige betont, dass ihre Kita aber allen Familien offen
       stehe. Aktuell seien Hetero-Eltern sogar die Mehrheit, und das sei auch gut
       so: „Unsere Kita soll ja ein Ort sein, wo sich die Kinder von Regenbogen-
       und Hetero-Familien begegnen.“ Genau so, wie sich in der Kita auch Kinder
       aus mehr als 15 verschiedenen Herkunftsländern, diversen
       Glaubensgemeinschaften, mit und ohne Förderbedarf begegneten.
       
       „Diversity Education“ nennen Pädagog:innen das Konzept, dem sich die
       Kita der Schwulenberatung verschrieben hat. Den deutschen Begriff –
       Pädagogik der Vielfalt – hat die Erziehungswissenschaftlerin Annedore
       Prengel in den Achtzigern geprägt, sie warb für ein umfassendes Verständnis
       von Inklusion. Mit Erfolg: Heute lernen Kinder in vielen Kitas in
       Deutschland, dass Vielfalt normal ist, vor allem, wenn es um
       Mehrsprachigkeit oder kulturelle Identität geht.
       
       Beim Thema Gender sind die Einrichtungen jedoch weniger sensibel. Das
       zumindest legt eine der wenigen Studien zu Gender in der Kita nahe.
       Verfasst wurde sie von der Frankfurter Pädagogikprofessorin Ute Schaich.
       Sie beobachtete, dass Kita-Fachkräfte Mädchen schon im Krippenalter
       häufiger für ihr Äußeres loben und Jungen eher für ihren Mut. Die
       Erzieher:innen reproduzierten somit geschlechterstereotype
       Zuschreibungen.
       
       ## Bilder von Geschlecht werden verinnerlicht
       
       Warum das problematisch ist, kann die Berliner Pädagogikprofessorin Anja
       Voss beschreiben. „Mit vier Jahren spätestens haben Kinder [3][Bilder von
       Geschlecht] verinnerlicht“, so Voss. Ein Beispiel, das viele Eltern kennen:
       Jungen wollen irgendwann keine langen Haare mehr tragen, weil sie denken,
       dass es nicht zu ihrem Rollenbild passt. „Deswegen ist entscheidend, dass
       die Fachkräfte in den Kitas ihre eigenen Gender-Stereotype reflektieren.“
       Aber auch, dass Kitas beispielsweise von Raum- und Spielangeboten wie
       Puppenecken und anderen geschlechtskonnotierten Praktiken absähen.
       
       Das ist auch der Kita der Schwulenberatung Berlin wichtig. Statt Puppenecke
       gibt es eine Verkleidungsecke ohne die klassischen Prinzessinnen- oder
       Cowboy-Outfits. Hier können die Kinder in Tiger- oder Elefantenkostüms
       schlüpfen oder sich Clownsnasen und Perücken aufziehen.
       
       „Wir haben auch Bücher, die es an anderen Kitas bestimmt nicht gibt“, sagt
       Sabine Siebiera, eine der Erzieher:innen. Zum Beweis zieht die 29-Jährige
       mehrere Bände aus dem Regal: „Onkel Bobby’s Hochzeit“, das schwule Liebe
       als einen Grund zum Feiern darstellt. Oder „Wie Mama mit der Nase sieht“,
       in dem eine blinde Mutter ihren Alltag meistert.
       
       ## Männer, die weinen
       
       Das meiste hätte bei den Kindern aber das Buch „Männer weinen“ ausgelöst,
       so Siebiera. Die Geschichte handelt von einem Vater, der sich von seiner
       verletzlichen Seite zeigt. „Ich erinnere mich an einen Fünfjährigen, der
       sofort gefragt hat, warum der Junge auf dem Cover weint“, erzählt Siebiera.
       Er habe, so interpretierte sie in dem Moment, Weinen sofort mit Schwäche in
       Verbindung gebracht. „Das finde ich ganz schön heftig.“
       
       Siebiera denkt vor allem auch an jene Kinder, die sich in den klassischen
       Rollenbildern unwohl fühlen. „Wenn ein Kind sich gerne Kleider anzieht,
       obwohl es als Junge gelesen wird, soll es das einfach tun.“ Im Kita-Alltag
       achtet sie deshalb darauf, keine Pronomen zu verwenden und „untypisches“
       Verhalten nicht zu bewerten. Wie die meisten queeren Fachkräfte der Kita
       hat auch Siebiera am eigenen Leib Ausgrenzung und Mobbing erfahren. „Ich
       wünsche mir, dass sich Kinder heute frei entfalten können, ohne sich dabei
       abgewertet zu fühlen“, sagt Siebiera.
       
       ## Kitas chronisch unterversorgt
       
       Aus der Sicht von Pädagogikprofessorin Voss hat sich vieles in der
       frühkindlichen Bildung in den vergangenen Jahren zum Positiven verändert.
       So hätten die Bundesländer gendersensible Pädagogik in ihren
       Kita-Bildungsplänen verankert. Auch Ausbildungsstätten griffen das Thema
       zunehmend auf.
       
       An der Alice-Salomon-Hochschule, an der Voss lehrt, sei Gender bereits ein
       verpflichtendes Thema für alle, die Kindheitspädagogik studieren. Inwieweit
       Kitas dies im Alltag aber tatsächlich umsetzen können, sei fraglich. „Wir
       dürfen nicht vergessen, dass Kitas personell chronisch unterversorgt und
       die Fachkräfte am Limit sind.“
       
       ## „Die Blume wächst wie wir“
       
       Das ist in der Kita der Schwulenberatung nicht anders. An diesem Mittwoch
       sind die Fachkräfte doppelt dankbar, dass Mona Lisa da ist. Hoher
       Krankenstand. Während sich die wenigen Fachkräfte um einzelne Kinder
       kümmern, sitzen die älteren Tiger im Halbkreis um Mona Lisa und sind voll
       bei der Sache. „Ist eine Blume ein Lebewesen?“ „Jaaaa.“ „Warum?“ „Weil sie
       wächst wie wir.“ „Was braucht sie zum Leben?“ „Wasser, Sonne und Wind.“
       „Wind ist gut, daran habe ich gar nicht gedacht.“
       
       Zur Belohnung erzählt Mona Lisa eine Geschichte von Tulpenfeldern nahe
       Amsterdam, die sie mal mit ihren Eltern besucht hat. Als die Kinder unruhig
       werden, zieht die Märchentante ihr Ass aus dem Ärmel: ein Lied zur
       Geschichte. „Wenn der Frühling kommt, dann schick’ ich dir Tulpen aus
       Amsterdam.“ Sofort singen die Kinder mit.
       
       7 Mar 2025
       
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