# taz.de -- Straftaten von rechts: Viele rechte Morde nicht erfasst
       
       > Seit 1990 wurden 87 Tötungsdelikte offiziell als rechtsmotiviert
       > anerkannt. Die Liste sei unvollständig, kritisieren die Linke und
       > Opferverbände.
       
 (IMG) Bild: Am dritten Jahrestag erinnern in München Menschen an die Opfer des Hanau-Anschlages im Jahr 2020
       
       Berlin taz | Erst gegen 6.15 Uhr am Morgen des 8. Oktober 1990 wird der
       Pole Andrzej Fratczak auf einer Rasenfläche nahe einer Diskothek im
       brandenburgischen Lübbenau tot aufgefunden. Fratczak starb nach einer
       Auseinandersetzung mit drei jungen Deutschen an mehreren Messerstichen am
       Abend zuvor. Die drei Täter werden später unter anderem wegen gefährlicher
       Körperverletzung verurteilt, nicht aber wegen Mordes. Das Gericht kann
       nicht feststellen, wer Fratczak erstochen hat. In dem Urteil fehlt zudem
       der politisch rechte Hintergrund der Tat. Zwei der Täter werden sich zwei
       Jahre später an einem Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft im Ort
       beteiligen.
       
       Erst 25 Jahre später wurde der Mord an Andrzej Fratczak als rechtes
       Tötungsdelikt offiziell anerkannt: 2015 legten Wissenschaftler des Moses
       Mendelssohn Zentrum um Christoph Kopke eine Untersuchung vor, bei der sie
       im Auftrag der Landesregierung ältere Fälle von rechtsextremer und
       rassistischer Gewalt seit 1990 in Brandenburg überprüft hatten. Brandenburg
       stufte daraufhin neun weitere Fälle als politisch rechts motivierte
       Tötungsdelikte ein.
       
       Seitdem ist die Tat gegen Andrzej Fratczak am 7. Oktober 1990 die erste auf
       einer Liste an Fällen, die die Bundesregierung seit 1990 offiziell als
       rechtsmotivierte Tötungsdelikte anerkennt – noch vor dem Eintrag zum Mord
       an Amadeu Antonio, der am 25. November 1990 in Eberswalde durch einen
       Neonazi-Mob getötet wurde.
       
       Insgesamt 87 Einträge umfasst die Liste offiziell anerkannter rechter
       Tötungsdelikte nach aktuellem Stand. Das geht aus einer Antwort der
       Bundesregierung auf eine Anfrage von Martina Renner (Die Linke) hervor, die
       der taz vorab vorliegt. Zehn Morde der [1][Rechtsterroristen des NSU] sind
       darauf verzeichnet, ebenso die [2][Anschläge von Halle] und [3][Hanau] als
       einzelne Einträge und viele weitere. Die Liste basiert auf einer zentralen
       Datei, für die die Landeskriminalämter Fälle politisch motivierter
       Kriminalität (PMK) an das Bundeskriminalamt übermitteln.
       
       2024 wurden auch aus Nordrhein-Westfalen vier ältere Einträge nachgemeldet.
       Das Landeskriminalamt hatte 2022 begonnen, 30 zurückliegende Gewaltdelikte
       aus den Jahren 1984 bis 2020 zu überprüfen. Anerkannt ist seitdem auch der
       rechte Mord an Horst Pulter. Sieben Neonazi-Skinheads hatten den
       Wohnungslosen am 5. Februar 1995 im Stadtpark von Velbert erstochen, zuvor
       auf ihn eingeschlagen und ihn als „Penner“ und „Scheiß Jude“ beschimpft.
       
       Heike Kleffner erinnert an den langen Kampf um die Anerkennung von Horst
       Pulter als Todesopfer rechter Gewalt. Kleffner recherchiert als
       Journalistin und Geschäftsführerin des [4][Verbands der Beratungsstellen
       für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt] schon
       seit Jahren zu diesen Taten. Dieser Fall zeige, wie wichtig unabhängige
       Recherchen durch Journalist*innen, Initiativen und Opferberatungsstellen
       seien.
       
       ## Außmaß der Untererfassung
       
       Nach wie vor gebe es laut Kleffner eine Diskrepanz zwischen den 115
       Menschen, die mit den aktuell 87 aufgelisteten Fällen offiziell als
       Todesopfer rechter Gewalt von der Bundesregierung anerkannt werden, und den
       mehr als 200 Todesopfern, von denen die Opferberatungsstellen ausgehen.
       
       „Diese Diskrepanz ist leider seit Jahren nicht geringer geworden“, sagt
       Kleffner. „Die aktuelle Antwort der Bundesregierung zeigt das dramatische
       Ausmaß der Untererfassung, wenn es um die tödliche Dimension von
       rassistisch, antisemitisch und rechts motivierter Gewalt seit 1990 geht.“
       Viele Angehörige und Hinterbliebene fänden die willkürliche
       Anerkennungspraxis völlig unverständlich, sagt Kleffner. Sie nennt etwa die
       inzwischen 90-jährige Mutter von Alexander Selchow, die seit drei
       Jahrzehnten um Anerkennung kämpfe. Selchow wurde in der Silvesternacht auf
       den 1. Januar 1991 bei Göttingen von Neonazis aus dem Umfeld von Thorsten
       Heise ermordet.
       
       Der Mord an Selchow fehlt auf der Liste der Bundesregierung ebenso wie der
       an Rolf Baginski. Dieser wurde im thüringischen Nordhausen im November 1991
       durch einen Neonazi getötet, der dann in Untersuchungshaft durch das
       Bundesamt für Verfassungsschutz als V-Mann im Umfeld des
       NSU-Unterstützer-Netzwerks angeworben wurde.
       
       Beide Fälle hätten längst anerkannt werden müssen. In Thüringen könnte eine
       Untersuchung zu älteren Fällen Abhilfe schaffen. Die rot-rot-grüne
       Minderheitsregierung hatte die Hochschule für Wirtschaft und Recht
       beauftragt, ein Dutzend Fälle aus dem Land zwischen 1990 und 2023 zu
       untersuchen. „Der Bericht mit den entsprechenden Empfehlungen liegt fertig
       vor“, sagt Kleffner, die daran beteiligt war. „Die Veröffentlichung und
       auch die entsprechenden nachträglichen Anerkennungen wurden aber vom Innen-
       und Justizministerium blockiert und auch nicht mehr vor der Landtagswahl
       2024 den Abgeordneten übergeben.“
       
       Insgesamt kritisiert Kleffner die uneinheitliche Anerkennungspraxis. Das
       führe etwa dazu, dass zwei rechte Taten in der Pandemie – in Senzig und
       Idar-Oberstein – „von den jeweiligen Landeskriminalämtern völlig
       unterschiedlich bewertet werden.“ In Idar-Oberstein hatte ein rechter
       Überzeugungstäter im September 2021 den jungen Tankstellenmitarbeiter Alex
       W. ermordet. Einsortiert ist der Fall aber nicht unter rechten Taten,
       sondern unter „sonstige Zuordnung“, einer Kategorie, die früher „nicht
       zuzuordnen“ hieß.
       
       Das Urteil mit den Feststellungen zur Tatmotivation sei in der
       Klassifizierung nicht berücksichtigt worden, sagt Kleffner. „Letztendlich
       sorgt die PMK Kategorie 'nicht zuzuordnen’ dafür, dass Gewalttaten aus dem
       verschwörungsideologischen Spektrum entpolitisiert und entkontextualisiert
       werden.“
       
       Auch Martina Renner, Bundestagsabgeordnete der Linken, kritisiert, dass
       eine Reihe von Tötungsdelikten, die durch Zivilgesellschaft und
       Wissenschaft als eindeutig rechts motiviert eingestuft seien, durch die
       Bundesregierung nicht einmal genannt würden. „Das Kategorien-Wirrwarr und
       der Umstand, dass es Landeskriminalämtern und wechselnden Landesregierungen
       obliegt, ob ein Mord als rechts motiviert eingestuft wird, ist kein
       Zustand“, sagt Renner. Es brauche „dringend auch von behördlicher Seite ein
       klares Bild davon, wie groß das Ausmaß tödlicher rassistischer,
       antisemitischer und neonazistischer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland
       ist.“
       
       9 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nationalsozialistischer-Untergrund-NSU/!t5020499
 (DIR) [2] /Fuenf-Jahre-nach-dem-Anschlag-in-Halle/!6038335
 (DIR) [3] /Schwerpunkt-Rechter-Anschlag-in-Hanau/!t5563930
 (DIR) [4] https://verband-brg.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
       
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