# taz.de -- Protestkultur im Berlin der 90er Jahre: Damals auf dem Anti-Olymp
       
       > In der Ausstellung „Träum weiter – Berlin, die 90er“ entdeckt sich unser
       > Autor auf einem Foto von Nolympia-Protesten 1993. Anlass für ein
       > Zeitreise.
       
 (IMG) Bild: Die Fotoserie „Unser Haus“ von Annette Hauschild in der Ausstellung, in der Mitte das Foto von der K77
       
       ## Ich
       
       Ich. Eigentlich mag ich keine Ich-Texte, in denen sich der Autor in den
       Mittelpunkt stellt. Aber manchmal muss es sein. Jetzt zum Beispiel.
       Kürzlich mal eine halbe Stunde zwischen zwei Terminen gehabt. Also in die
       große Buchhandlung spaziert, mal sehen, was es Neues gibt. Zum Beispiel
       diesen dicken Wälzer, das Schwarzweißfoto auf dem Deckel zeigt ein
       Autowrack vor Plattenbauen.
       
       „Träum weiter – Berlin, die 90er“, heißt das Buch. Es ist der Katalog für
       [1][die gleichnamige Ausstellung], die gerade in der [2][Galerie C/O
       Berlin] gezeigt wird. Ich flaniere mit den Fingern durch die Seiten. Bleibe
       hier und da kurz hängen, habe ja nicht viel Zeit.
       
       Doch dann. Seite 321. Das Haus da mit der abgeranzten Fassade kenn ich mehr
       als gut. Die Kastanienallee 77 in Prenzlauer Berg, eins der über 100
       besetzten Häuser, die es damals im Ostteil der Stadt gab. Und den Typ da
       oben auf der Dachgaube kenne ich noch besser. Das bin ich. Bäng. Ich ist
       jetzt ein Teil der Zeitgeschichte. Der Kopf beginnt zu rattern.
       
       „Wir bleiben alle“, steht auf dem großen Transpi links an der Fassade. Der
       Spruch wird heute noch auf jeder Mietendemo hochgehalten. Er geht auf das
       Kürzel WBA zurück, das in der DDR für „Wohnbezirksausschuss“ stand. Den
       hatten oppositionelle Aktivist:innen an der Oderberger Straße
       unterwandert, die den geplanten Abriss der Altbauten dort verhinderten.
       Aber das führt hier zu weit. [3][Man kann es nachlesen].
       
       Rechts hängt ein Drachen, der die olympischen Ringe verspeist. Und in der
       Mitte das Motto des Tages: „… und tschüß. Demo gegen olympische
       Stadtzerstörung und Leistungsterror“.
       
       Das Foto entstand am 18. September 1993. Was man auf ihm nicht sieht: Unten
       auf der Kastanienallee zog die letzte große Demo gegen Berlins Bewerbung
       für die Olympischen Spiele im Jahr 2000 vorbei. Gegen den Irrwitz, die
       gerade erst wiedervereinte Stadt der internationalen Spekulantentruppe rund
       um das IOC zum Fraß vorzuwerfen. 18.000 Leute waren unterwegs auf der
       Straße. Hier blieben sie kurz stehen. Zum Tanzen. Denn oben auf dem Dach
       spielte diese Band den Anti-Olympia-Rap:
       
       „Ey, Samaranch, versuch's mit Dauerlauf / Volxsport bringt uns super gut
       drauf.“ Den Text habe ich sofort wieder im Kopf. Ich war der Sänger, der da
       oben auf der Gaube hockte. „Du bleibst auf der Strecke lange vor dem Ziel /
       aber das macht uns doch gar nichts, bist uns eh viel zu viel / es ist jetzt
       allerhöchste Zeit du Altfaschist / es wäre schön, wenn du dich endlich mal
       verpisst.“ Und der Refrain ist auch parat. Ich war der Sänger, der da oben
       auf der Gaube hockte. „Olympiadas en la luna, the olympics on the moon, les
       jeux sur la lune – aber niemals, niemals wieder in Berlin“. Dann dängelt
       die Gitarre, bäm, bäm, bäm, bäm, BÄM, BÄM, BÄM, BÄM den Antiolymp hinauf.
       
       Unten mitgelaufen ist damals Bernd Pickert, als Autor für die taz. „Auf den
       Mond, auf den Mond, der ist unbewohnt“, stand als Titel [4][über seinem
       Demobericht]. Der Refrain meines Songs war ihm im Ohr geblieben. Es war
       meine erste taz-Schlagzeile. Jahre bevor ich selbst für die Zeitung
       geschrieben habe.
       
       Warum das alles erzählenswert ist? Weil es damals ums Ganze ging. Und heute
       wieder. Immernoch.
       
       Olympische Spiele werden nicht für die Bewohner:innen einer Stadt
       ausgerichtet. Sie sind im besten Falle Teil der Kulisse, [5][wie man gerade
       erst in Paris sehen konnte]. Im schlechtesten Fall [6][droht ihnen sogar in
       noch stabilen Demokratien Vertreibung, wie Lea Fauth] gerade erst in der
       taz gezeigt hat. Wer Olympia will, will auch Korruption. Ohne gibt es keine
       Medaillen. Das kann niemand wollen. Nicht vor 30 Jahren. Und auch nicht in
       den nächsten 30 Jahren.
       
       ## Du
       
       Wir sind schnell beim Du, Annette und ich. So wie es üblich ist in Berlin,
       erst recht, wenn man aus der selben Blase kommt. Annette Hauschild hat als
       Anfang-20-Jährige 1993 das oben erwähnte Foto gemacht. Sie wurde wenig
       später Mitglied der kurz nach der Wende in Ostberlin gegründeten
       Fotografenagentur Ostkreuz, von der nun alle Bilder in dieser wunderbaren
       Ausstellung stammen. Mehr noch: Annette hat sie sogar kuratiert.
       
       Kennengelernt haben wir uns erst jetzt, zeitgemäß über Instagram, was schon
       viel sagt über den Wandel der Zeiten. Internet gab es 1993 noch nicht.
       Selbst Telefon hatte im Ostteil der Stadt so gut wie niemand. Wichtig waren
       die Infos, die in den Küchen der Hausprojekte an Tafeln standen. Oder die
       Nachrichten, die man auf den Papierrollen vor den Wohnungstüren von
       Freund:innen hinterließ. Oder die Flyer, die überall verteilt wurden.
       Durch die man erfuhr, wann wo wer gegen was demonstrieren oder in welchem
       Hinterhofkeller die nächste Technoparty starten würde.
       
       Flyer, so hieß dann bald ein hosentaschengroßes Magazin, für das Annette
       Fotos lieferte. Eine Serie davon hängt nun großformatig in der C/O Berlin.
       Tänzer:innen im E-Werk. Der spätere [7][Tatort-Kommissar Wotan Wilke
       Möhring] auf einem Loveparade-Wagen. Hipster – nannte man die damals schon
       so? – am Rande der Parade in einem Cabrio, im Hintergrund die Baukräne vom
       Potsdamer Platz. Die 90er Jahre waren das Jahrzehnt des Übergangs – und der
       Gleichzeitigkeit. Nichts zeigt das komprimierter als diese Ausstellung.
       
       Wir treffen uns im Gewühl der Menschen, die schon morgens vor der Galerie
       warten. Annette führt mich dran vorbei. Erst an der Schlange. Dann an den
       Fotos vom Mauerfall, mit denen alles beginnt. Eins von Werner Mahler zeigt
       einen Mann in der Nacht des 9. November 1989 auf der Bösebrücke. Er schaut
       abwartend, fast skeptisch. Damals, erklärt Annette, hätte Ostkreuz Fotos
       wie dieses gar nicht angeboten. Weil es nicht den Taumel der Nacht zeigte.
       Mit dem Blick von heute aber gewinnt das Motiv neuen Wert – wie so viele,
       die neben bekannten Klassikern jetzt erstmals zu sehen sind. „Jeder von uns
       hat 100.000 Fotos angesehen“, erzählt Annette über die zweijährige
       Vorarbeit zur Ausstellung.
       
       Darin hängen nun Bilder von Anne Schönharting, 1999 am noch mörtelfrischen
       Potsdamer Platz entstanden, die schon damals erahnen ließen, warum dieses
       Pappkulissenviertel bis heute ein Unort blieb. Und natürlich eine Reihe von
       Harald Hauswald, entstanden im November 1990 bei [8][der Räumung der
       besetzten Häuser in der Mainzer Straße]. Immer geht es um die Frage: Wem
       gehört die Stadt?
       
       Auch bei Annette Hauschild. „Unser Haus“ ist eine Fotoserie von ihr
       betitelt. „Wegen [9][Rio Reiser]“, sagt Annette. Klar. [10][Dies ist unser
       Haus. Ton Steine Scherben]. Die Bilder zeigen das Leben in ihrem damaligen,
       ebenfalls besetztem Wohnhaus an der Neuen Schönhauser Straße. In Spuckweite
       der Hackeschen Marktes.
       
       Der sei damals the place to be gewesen, erzählt Annette. Nur eben ganz
       anders als heute. Auf der allerersten Stufe der Gentrifizierung. Wenn
       Künstler:innen sich die Freiräume erobern. Heute hat Apple einen
       Flagstore gleich ums Eck. Das normale Leben, das es in den 90ern dort in
       einer sehr wilden Mischung gab, sei verschwunden, bedauert Annette.
       
       Zum normalen Leben gehörte die Anti-Olympia-Demo, die auch dort vorbeizog.
       Annette machte sich mit auf den Weg, den Prenzlauer Berg rauf – hoch zur
       K77. Drei Fotos von dem Tag sind Teil von „Unser Haus“. Die Reihe hängt im
       letzten Raum der Ausstellung. Direkt neben „Die neue Mitte“ von Maurice
       Weiß, der die ersten Jahre im brandneuen Kanzleramt dokumentiert hat. Weiße
       Wände. Gerhard Schröder. Merkel. Die unglaubliche Parallelität der Zeit.
       
       ## Wir
       
       Wir, das waren zunächst wir da oben auf dem Dach: Mathias an der Gitarre.
       Arne am Schlagzeug. Und … ach, wie hieß nochmal der Bassist? Die Band, die
       sich im Proberaum der besetzten K77 finden konnte, weil das Haus im
       Wortsinn Freiraum bot. [11][Eine Woche vor der großen Demo entstand der
       Nolympia-Rap]. Weil das Thema omnipräsent war. [12][Julio Samaranch, damals
       Präsident des IOC und zuvor Sportminister im faschistischen Spanien unter
       General Franco], musste drin vorkommen. [13][Volxsport nannte sich eine
       Aktionsform der Anti-Olympia-Bewegung]. Es gab Strophen über Eberhard
       Diepgen (CDU), damals Regierender Bürgermeister, und übers [14][Hönkeln],
       was etwas extrem Linkes war. In einer der ungefähr 12 Strophen wurde Rio
       Reiser verrappt: [15][Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn die Häuser
       gehören uns.]
       
       „Wir“ meint aber hier vor allem etwas viel Größeres, weil wir Teil einer
       Bewegung waren. Einer unser Mitbewohner mischte beim Orgateam der Demo mit.
       Er meinte, wir müssten spielen bei der Abschlusskundgebung. Aber das war
       uns zu groß, also bauten wir die Anlage auf unserem Hausdach auf.
       
       Man kann das nachhören. Das linke Videokollektiv autofocus hat einen
       [16][Bericht über die Demo damals ins Netz gestellt].
       
       Und man kann das nachsehen, jetzt in der Ausstellung „Träum weiter“. Eins
       von Annettes Fotos zeigt ein paar Polizeiwannen, die vor der
       Anti-Olympia-Demo die Rosenthaler Straße hochfahren – fotografiert aus
       ihrer Wohnung im besetzten Haus. Das war eigentlich eher unpolitisch, stand
       nicht so im Zentrum der Bewegung, hatte aber dennoch wie so viele irre
       Potenzial. Hier wohnten neben der Fotografin auch ein Filmemacher, ein
       Flussbadinitiator, ein Restaurant- und Theatermacher. Und der
       Stadtsoziologe? Ja, der auch. Sie haben die Energie dieser Zeit bewahrt und
       später auf ihre Art die Stadt mitgeprägt.
       
       Aber ist der Traum der subversiven Bewegung nicht längst aus? Spätestens
       jetzt, wo die CDU wieder den Regierenden Bürgermeister stellt, der – dumme
       Ideen sind leider sehr haltbar – [17][wieder von Olympia träumt], obwohl
       die Stadt der explodierenden Mieten wahrlich [18][andere Probleme] hat?
       
       Eine Woche nach der Großdemo im September 1993 entschied sich das IOC für
       Sydney als Austragungsort für Olympia 2000 – auch weil es nicht ins
       widerspenstige Berlin wollte. Vier Wochen nach der Großdemo schickte der
       damalige Eigentümer der K77 einen privaten Räumtrupp, der mit Kettensägen
       die Türen aufbrach, um die Besetzer:innen zu vertreiben. [19][Die
       riefen die Polizei, die die Eindringlinge rauswarf.]
       
       Klar, das waren andere Zeiten. Aber [20][das Hausprojekt] gibt es [21][bis
       heute]. Olympische Spiele gab es hier nie wieder. Berlin, träum weiter.
       
       9 Jan 2025
       
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