# taz.de -- Seltene Schafe in Österreich: Bei den Antifaschäfchen
       
       > Im Westen Österreichs lebten früher die Montafoner Steinschafe – bis die
       > Nazis sie fast ausrotteten. Heute sind sie das Maskottchen der Region.
       
 (IMG) Bild: Steinschafe gelten als widerstandsfähig und sanftmütig. Doch Hitler bevorzugte das größere, dickere und reinweiße Tiroler Schaf
       
       Aus dem Montafon taz | Plötzlich habe ich diesen Heidi-Moment auf der vom
       Regen glitzernden Wiese vor den dunstverhangenen blauen Bergen. Martin
       Mathies hat die Hände um den Mund gelegt und lässt ein langgezogenes „Ko,
       bidi-bidi, ko, bidi-bidi“ ertönen. Drüben am Waldrand bewegen sich erst die
       Ohren, dann zucken Köpfe hoch. Eine Herde Schafe. Sie wollen wissen, was
       los ist. „Ko, bidi-bidi“ ist Muntafu, der hiesige Dialekt, „bidi“ kommt von
       „bigr“ – Schaf. Ein Lockruf also, und er wirkt.
       
       Beim nächsten „Ko“ drängelt sich die ganze Herde um Mathies und mich. Eins
       zwängt die Nase in meine Anoraktasche, ein Maul knabbert an der Kordel, ein
       Kopf stupst die Hand mit dem Schreibblock. Wo zuerst hingucken, wen zuerst
       streicheln? Das kleine Weiße, den Gefleckten? Das mit den Hörnern?
       
       „Die sind jetzt schon eine Weile hier unten im Tal“, sagt Mathies und
       unterbricht den Heimatfilm in meinem Kopf. Ihm gehört die Herde, er ist
       Schafzüchter, Biobauer. Im Nebenerwerb, wie heute üblich. Wenn es nötig
       wird, springt die ganze Familie ein. Fast wie früher und doch ganz anders.
       Mathies sieht auch überhaupt nicht aus wie der alte Alm-Öhi in dem
       Schweizer Kinderbuchklassiker. Mittelgroß, schlank, kurze braune Haare,
       Viertagebart, blau-graue Trainingsjacke, Cargo-Jeans. Seine Existenz
       sichert er als Lehrer an der Landwirtschaftsschule, um die Ferienwohnungen
       auf dem Hof kümmert sich der Vater, auch eine Tischlerei gibt es. Aber die
       Tiere sind so etwas wie Mathies’ Lebensprojekt.
       
       Ich bin hier, weil ich herausfinden will, was es mit dem Montafoner
       Steinschaf auf sich hat, welche Rolle Adolf Hitler bei dessen Verschwinden
       spielte, warum die ganze Region das dünne, wollige Geschöpf nun zum
       Maskottchen gemacht, oder eher: zum Teil seiner Identität erklärt hat. Das
       Montafon ist das westlichste Tal Österreichs, an der Grenze zur Schweiz,
       eingerahmt von den Gebirgsstöcken Verwall, Silvretta und Rätikon. Und es
       will Modellregion für nachhaltigen Tourismus werden.
       
       ## Bis vor kurzem fast ausgestorben
       
       Arthur heißt das jüngste von Mathies’ Tieren, das einzige ohne Knopf im
       Ohr. Den gelben Zettel, der anzeigen würde, zu wessen Herde das Lamm
       gehört, gibt es erst nach einem Gentest – und dann auch nur, wenn Arthur
       ein hundertprozentiges Montafoner Steinschaf ist. Denn die Herde ist Teil
       eines Zuchtprogramms. Die alte Rasse galt bis vor Kurzem als nahezu
       ausgestorben – wobei es besser ausgerottet heißen müsste. Denn sie
       verschwand nicht von selbst, sondern wurde seit den 1930er-Jahren
       systematisch verdrängt.
       
       Dazu muss man wissen, dass die Agrarwirtschaft ein zentraler Sektor im
       Nationalsozialismus war, sie sollte das Reich unabhängig von Importen
       machen. Die zähen Bergbauern konnten da wegen der kargen Gegebenheiten zwar
       ertragsmäßig nicht mithalten, aber sie galten als 1a-Repräsentanten der
       Blut-und-Boden-Ideologie, eben weil sie den heroischen Kampf mit der
       widerspenstigen Natur aufnahmen. Deshalb wurden sie besonders unterstützt,
       mussten aber Reformen mitmachen: Förderprogramme und
       Pflichtgenossenschaften sollten ihren ökonomischen Status verbessern. Diese
       nahmen ihnen aber auch die Eigenständigkeit, die Vorgaben kamen nun aus
       Berlin.
       
       Eine Ausstellung im Heimatmuseum in Schruns zeigt, was dieses „Leben unterm
       Hitler“ auch bedeutete: Selbst die Schafe mussten „vorzeigbar sein“, so wie
       der Faschist sich das wünschte: weiß, wohlgeformt, mit viel Fleisch und
       gleichmäßiger weißer Wolle. Das ziemliche Gegenteil der Montafoner Rasse
       also. „Schaut’s“, sagt Mathies. „Die waren dem viel zu bunt.“ Und
       tatsächlich: Klein und schlank mit harten Klauen sind seine Tiere alle,
       praktischerweise auch sanftmütig und standorttreu. Aber die Farben gehen
       sehr auseinander: Es gibt weiße, wollweiße mit dunklen Brillen, schwarze,
       braune, rehfarbige mit hellem Bauch, rötliche, manche haben Hörner, manche
       Mähnen aus Grannenhaar auf den Brustlatzen.
       
       Mathies greift in Arthurs Fell und reibt es zwischen den Fingern: „Die
       Wolle ist auch nicht besonders weich.“ Die glänzende Mischung aus feinem
       Unter- und grobem Grannenhaar schützt die Schafe vor Regen und Kälte – und
       kann gut gesponnen, gewoben, gefilzt, gewalkt oder verstrickt werden. Die
       vielfältigen Varianten machen die Rasse anpassungs- und widerstandsfähig.
       Aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen, warum sie damals trotzdem gegen
       das deutlich größere und dickere reinweiße Tiroler Schaf ausgetauscht
       wurde.
       
       Die Rückbesinnung kam spät, Ende der 1980er-Jahre. Nur in Gaschurn, der
       hintersten Ecke des Montafons, hatten sich noch einzelne Schaffamilien
       gehalten. Dabei muss auch woanders schnell klar geworden sein, dass die
       eingeführten schweren Rassen gar nicht mit der dreistufigen alpinen
       Landwirtschaft klarkamen.
       
       Wie die aussieht, lässt sich am anschaulichsten auf dem „Themenweg
       Montafoner Steinschaf“ erwandern und nachlesen, dessen knapp zehn Kilometer
       und 492 Höhenmeter sich gemütlich in dreieinhalb Stunden zurücklegen
       lassen. Die Tiere verbringen den Winter unten im Tal, nur wenn Schnee
       liegt, sind sie direkt auf dem Hof oder im Stall, im Frühjahr und Herbst
       leben sie auf dem sogenannten Maisäss auf halber Höhe zu den ganz steilen
       Hängen der Almen, wo sie sich im Sommer rumtreiben dürfen.
       
       Dieser Kreislauf erhält die Kulturlandschaft, weil die Schafe junge
       Buschsprossen fressen und die bekannten grünen Kuppen auf diese Weise
       freihalten. Außerdem treten sie den Boden fest und verringern so die Gefahr
       von Erdrutschen.
       
       Seit 1988 soll ein Zuchtprogramm die Rasse deshalb wieder aufpäppeln. Mit
       Hilfe der Stiftung Pro Specie Rara aus der Schweiz legte der letzte
       verbliebene Halter der Schafe ein privates Zuchtbuch an. Arche Austria, ein
       österreichischer Verein zur Erhaltung alter Nutztierrassen, half, die
       Rassestandards zu formulieren. 2001 richtete der Vorarlberger
       Schafzuchtverband dann das offizielle Herdebuch ein. Seit 2008 gehört auch
       Mathies mit zu den treibenden Kräften. „Es braucht immer noch eine Menge
       Überzeugungsarbeit bei vielen Landwirten“, sagt er.
       
       ## Aushängeschild Antifa
       
       Gern gesehen wird die Wiederentdeckung des besonderen Schafs dagegen von
       den Gemeinden, die mit Bürgerräten und Vertretern der Wirtschaft einen
       Markenprozess gestartet haben. Denn ein kuscheliges Antifaschaf taugt als
       Aushängeschild. Die aktuelle Vision vom Montafon stellt neben der
       „einzigartigen Landschaft“ und der „Kooperation von Politik, Wirtschaft und
       Gesellschaft“ ein gleichberechtigtes Miteinander von Talbewohnern, Gästen
       und Unternehmen in den Mittelpunkt. Auswüchse wie im benachbarten Ischgl,
       wo auf 1.700 Einheimische 390 Hotels kommen und die Bergwelt wie eine
       Kirmesveranstaltung anmutet, will man vermeiden.
       
       Erzeuger und Händler gründeten den Verein „bewusst-erleben“, der
       Nachhaltigkeit als Ziel definierte und inzwischen „[1][bewusstmontafon]“
       heißt – wie auch das Logo, das die regionalen Produkte kennzeichnet. Er
       veranstaltet den Buratag, das Bäuerinnenbuffet, erfand die Genusskiste und
       eine Genusslandkarte, Regionallädli entstanden. Und natürlich findet das
       alles auch auf Social Media statt.
       
       Der Plan scheint aufzugehen. Urlaubende finden im Montafon immer noch sehr
       viele Ferienwohnungen von privat, viele davon auf Bauernhöfen wie dem von
       Mathies. Und auch die reinen Tourismusbetriebe sind meist von
       überschaubarer Größe – wenn auch oft besonders. „Wir fühlen uns dem
       Leitbild des Tals verpflichtet“, sagt beispielsweise Stefan Carstens. Er
       ist Geschäftsführer der Amrai Suites, eines Hotels mit besonderer
       Architektur in der Ortsmitte von Schruns. Namensgeberin ist eine fiktive
       junge Frau, die durch den traditionellen Namen tief im Tal verwurzelt ist,
       aber selbstbewusst und stilsicher in der Jetztzeit lebt. Vielleicht eine
       moderne Heidi.
       
       Wie andere größere Hotels hier nutzt das Amrai die natürlichen Ressourcen
       des Tals: lokale Hölzer, Kupfer und Steine aus der Bergbautradition. Neben
       Böden und Möbeln aus Eschen- und Lärchenholz finden sich überall Produkte
       vom Montafoner Steinschaf: gefilzte Fußmatten, Wollteppiche,
       Glasuntersetzer, Sitzauflagen. An den Flurwänden hängen statt
       Hirschgeweihen jede Menge lustige Gipsköpfe von Schafen mit und ohne
       Hörner.
       
       „Liebe zur Heimat ohne Alpenkitsch“, nennt Carstens das Konzept. Er stammt
       selbst aus Baden-Württemberg, hat einige Jahre in den USA gearbeitet. Er
       fand es spannend, als Nichteinheimischer einen „Leitbetrieb“ für die
       regionale Weiterentwicklung zu übernehmen, sagt er. Und dann das Hotel mit
       dem „zu verzahnen, was da ist“, es also im Ort zu verankern, bevorzugt
       Menschen aus dem Tal zu beschäftigen, Restaurants und Spas offen zu halten,
       Montafoner Produkte anzubieten. Die meisten Gäste kommen aus Vorarlberg
       oder vom Bodensee und überhaupt aus Süddeutschland.
       
       Gut auch für Biobauer Mathies. Denn der Verkauf der Wollprodukte – und des
       Fleischs – an Betriebe mit hoher Gästefrequenz hilft, das Montafoner
       Steinschaf bekannter zu machen und das Zuchtprogramm weiter abzusichern.
       Rund 400 Exemplare gibt es inzwischen wieder in der Region, zwischen den
       Weltkriegen waren es einmal um die 4.000. 41 gehören zu Mathies Herde.
       
       Die größte Herausforderung ist aktuell vor allem der Wolf. Etliche Rudel
       leben inzwischen in den Bergen, auf den Almen sind die Schafe deshalb kaum
       zu schützen. „Und ein Wolf hört ja nicht auf, wenn er ein Tier getötet
       hat“, sagt Mathies. „Es geht dann nicht mehr ums Fressen, die geraten in
       eine Art Blutrausch.“ Verletzte Tiere blieben einfach liegen. Herdenhunde,
       die gegen die Angriffe helfen würden, verböten sich wegen ihrer
       Aggressivität in den Wandergebieten aber von selbst.
       
       Eine Lösung hat er bislang nicht gefunden, letzten Sommer sind die Schafe
       nur bis zum Maisäss gekommen, wo sie bewacht werden können. Und Ende
       September waren sie bereits wieder im Tal. „Für die Landschaft hier unten
       ist das gut“, so der Züchter. „Denn auch hier verbuschen die Flächen, wenn
       sie nicht gepflegt werden.“ Um die gesamte Kulturlandschaft
       aufrechtzuerhalten, gebe es aber einfach noch zu wenig Tiere. Eine große
       Aufgabe also für das ganze Tal.
       
       21 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.montafon.at/de/Service/Montafon-A-Z/Verein-bewusstmontafon_i_76205
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Beate Willms
       
       ## TAGS
       
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Tourismus
 (DIR) Alpen
 (DIR) Nachhaltigkeit
 (DIR) Antifaschismus
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
 (DIR) Landwirtschaft
 (DIR) Nachhaltigkeit
 (DIR) Tourismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Klimapolitik unter dem Kanzler Merz: Am Klima führt kein Weg vorbei
       
       Friedrich Merz wird es nicht mögen, aber an der Klimakrise kommt ein
       Bundeskanzler nicht vorbei. Auch Schwarz-Rot wird das Klima schützen
       müssen.
       
 (DIR) Grundeinkommen für Kleinbauern: Was ihnen blüht
       
       Dem größten Blumenfest Österreichs setzen Klimakrise und Wandel in der
       Landwirtschaft zu. Hilft ein Grundeinkommen für Landwirte?
       
 (DIR) Nationalpark Berchtesgaden: Aasökologie und Enkeltauglichkeit
       
       Er ist nicht nur ein Reservoir der Biodiversität. Er will den
       Nachhaltigkeitsgedanken auch in die Region ausstrahlen und sanften
       Tourismus fördern.
       
 (DIR) Nachhaltiger Tourismus: Kleinteilig vernetzt
       
       Ein Netzwerk für Europa. Tourismusveranstalter diskutieren auf Sardinien
       die Chancen eines ökologischen und sozialen Tourismus.