# taz.de -- Roman „Muskeln aus Plastik“: Hot und behindert
       
       > Chronisch erschöpft sein und trotzdem horny. Selma Kay Matter verhandelt
       > im Roman „Muskeln aus Plastik“ Transness, Non-Binarität und Post-Covid.
       
 (IMG) Bild: Fatigue und Schmerzen: Selma Kay Matter
       
       „Also, Boy. Stell dir vor: Du bist ich“, schreibt Selma Kay Matter. Dieses
       Ich heißt Kay und ist, ebenso wie Autor_in Matter, [1][Mitte zwanzig,
       nicht-binär trans-maskulin und hat Post-Covid.]
       
       Matter berichtet in deren erstem Prosawerk „Muskeln aus Plastik“ ungeschönt
       von Fatigue und Schmerzen, die Kay nach jeglicher physischer und
       emotionaler Belastung befallen. Post-Covid und das damit oft einhergehende
       ME/CFS- oder chronische Fatigue-Syndrom werden auch als „unsichtbare
       Erkrankung“ beschrieben, denn die Krankheit ist von außen nicht erkennbar.
       
       Niemand sieht, wie Kay sich von simplen Aufgaben wie dem Ausräumen der
       Spülmaschine 23 Stunden lang erholen muss oder wie Kays Finger schon vom
       Tippen am Laptop schmerzen. Selbst die WHO hat keine einheitlichen
       Diagnosekriterien für Post-Covid. Wie also über eine Krankheit schreiben,
       die sich nicht beschreiben lässt? „Muskeln aus Plastik“ ist ein Versuch,
       diese Frage zu beantworten.
       
       Für Kay steht seit der Erkrankung alles in Relation zu Schmerz. Jeder
       Handgriff kann ernste Folgen für ihre Gesundheit haben. Selbst verlieben
       darf Kay sich nicht Hals über Kopf, weil das zum Überschreiten des
       Maximalpulses führen könnte. Dabei ist Kay total verknallt in Aron. Aus
       Angst, als kranke Person für Aron weniger begehrenswert zu sein, versucht
       Kay beim Flirten weniger behindert zu wirken. Dey (genderneutrales Pronomen
       in Anlehnung an das englische „they“) verschweigt Schmerzen und Ermüdung
       und ärgert sich im Stillen über Arons Privileg, keine Gedanken an so etwas
       wie einen Maximalpuls verschwenden zu müssen.
       
       Matter kontextualisiert Kays Gefühl als Internalisierung von ableistischen
       gesellschaftlichen Schönheitsidealen, die behinderte Personen als nicht
       begehrenswert darstellen. Zwischen Aron und Kay tut sich ein Spannungsfeld
       zwischen Intimität und Distanz auf. Sie sind in einer t4t-, „trans for
       trans“-Beziehung und haben ähnliche Perspektiven auf Themen wie Gender und
       Transition, aber die gegensätzlichen Erfahrungen in Bezug auf Behinderung
       stehen zwischen ihnen.
       
       ## Ikea-Filiale ohne Ausgänge
       
       Die Grenzen des gegenseitigen Verständnisses werden spürbar, als Kay Ilay
       kennenlernt. Ilay ist ebenfalls chronisch krank und kann Kays Bedürfnisse
       deswegen leicht nachvollziehen. Access intimacy nennt die Autorin und
       Aktivistin Mia Mingus dieses grundlegende Verständnis unter behinderten
       Personen. In einem surrealistischen Kapitel streifen Ilay und Kay durch
       eine dystopische Ikea-Filiale ohne Ausgänge.
       
       Die Türen öffnen sich zu Momenten aus Kays Vergangenheit, die Kay und Ilay
       gemeinsam analysieren. Im nächsten Augenblick wechselt die
       Erzählperspektive und „du“ wirst plötzlich dazu aufgefordert, Zeug_in von
       Kays Schmerzen zu werden. Kay ist so schwach, dass dey die Wohnung nicht
       verlassen kann. Einsam und horny lädt dey Grindr herunter und versinkt in
       Fantasien von Wohnungen, die speziell für kranke und behinderte Personen
       eingerichtet sind – ein „Sickboy Apartment“, in dem Kay gleichzeitig „hot
       und behindert“ sein könnte.
       
       In jedem der sechs Kapitel wird aus einem anderen Winkel auf Behinderung,
       Genderidentität und deren Intersektionen geblickt. So spielt Matter etwa
       mit Ideen wie „Hanky Codes“ für Care-Arbeit. Hanky Codes sind kleine
       Stofftaschentücher, die unter schwulen Männern als Erkennungszeichen für
       sexuelle Präferenzen getragen wurden. In Matters Vorstellungen von Hanky
       Codes verschmelzen Fürsorgebedürfnisse mit queeren Konzepten und
       Forderungen der Disability-Justice-Bewegung.
       
       ## Autofiktionaler Stil
       
       Die Erzählung ist untermalt mit Zitaten aus Essays und Memoiren anderer
       queerer, kranker oder behinderter Personen. Selma Kay Matter bezieht sich
       unter anderem auf Susan Sontag, Eve Kosofsky Sedgwick und Leah Lakshmi
       Piepzna-Samarasinha und bindet direkte Zitate in den sonst autofiktionalen
       Stil ein.
       
       „Muskeln aus Plastik“ gibt eine breitgefächerte Einführung in Literatur und
       Aktivismus der „Disability Justice“-Bewegung und liefert dabei eine
       grundsätzliche gesellschaftspolitische Einordnung von Transness,
       Behinderung und Sorgearbeit. Theorie ist mit Autofiktion verbunden, die
       auch durch den umgangssprachlichen Ton lebendige Gedankenspiele zulässt und
       jede Seite in mehrere Absätze unterteilt. Das macht den Text trotz
       Informationsdichte zugänglich.
       
       Die Suche nach Worten für chronische Krankheit und Schmerz jedoch scheitert
       trotz vielfältiger Annäherungsversuche letztendlich. Der unsichtbare
       Schmerz will eine Leerstelle bleiben, konkludiert Matter. Mit „Muskeln aus
       Plastik“ füllt Selma Kay Matter dennoch eine Leerstelle in der
       deutschsprachigen Literaturlandschaft mit einem persönlichen und
       informativen Buch zu Post-Covid aus [2][queerer Perspektive.]
       
       10 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Long-Covid-und-Transition/!6046786
 (DIR) [2] /Neuer-Roman-von-Hengameh-Yaghoobifarah/!6036571
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilo Toerkell
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Debütroman
 (DIR) Non-Binary
 (DIR) Transgender
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA
 (DIR) Long Covid
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA
 (DIR) deutsche Literatur
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA
 (DIR) Gewalt
 (DIR) Long Covid
 (DIR) Schwerpunkt LGBTQIA
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Roman „Hundesohn“: Sie scharren an ihren Körpern
       
       Zwischen den Sprachen und anderen Männern: Ozan Zakariya Keskinkılıç’ Roman
       „Hundesohn“.
       
 (DIR) „Play Boy“ von Constance Debré: Das Selbst abreißen
       
       Constance Debré beschreibt in „Play Boy“ ihren Wandel von einer
       heterosexuellen Pariser Anwältin und Mutter zur lesbischen
       Schriftstellerin.
       
 (DIR) Natascha Gangl gewinnt in Klagenfurt: Kein Wiedersehen am Wörthersee?
       
       Natascha Gangl gewinnt den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis in
       Klagenfurt. Dort ging es viel um die unsichere Zukunft des
       Literaturwettbewerbs.
       
 (DIR) Queere Wohnungs- und Obdachlosigkeit: Besonders schutzbedürftig
       
       LGBTQIA sind häufiger und schwerer von Wohnungslosigkeit betroffen. Eine
       neue Berliner Studie zeigt: Hilfsangebote werden selten in Anspruch
       genommen.
       
 (DIR) Debütroman von Jayrôme C. Robinet: Bis die ersten Steine fliegen
       
       Mehr als nur ein Leihvater: Welchem Hass ein schwangerer trans Mann
       begegnet, davon erzählt Jayrôme C. Robinet in seinem Roman „Sonne in
       Scherben“.
       
 (DIR) Long Covid und Transition: „Ich bin nicht so der Typ für Utopien“
       
       Der Autor Selma Kay Matter hat sein Debüt „Muskeln aus Plastik“
       herausgebracht. Ein Gespräch über trans*ness, chronische Krankheiten und
       Literatur.
       
 (DIR) Neuer Roman von Hengameh Yaghoobifarah: Böller durch die Magengrube
       
       In luftiger Höhe: Hengameh Yaghoobifarah nimmt in „Schwindel“ auf höchst
       unterhaltsame Weise eine queere Dreiecksbeziehung in den Blick.