# taz.de -- Jahresrückblick 2024: Es war nicht alles schlecht
       
       > Kriege, Nazis, Trump: 2024 war hart – aber es gab auch gute Nachrichten:
       > Ein versöhnlicher Rückblick mit hoffnungsvollen Botschaften aus aller
       > Welt.
       
 (IMG) Bild: Positive Lehren aus harten Zeiten: Ruanda, hier die Hauptstadt Kigali, hat den Umgang mit dem Marburg-Virus gemeistert
       
       Ruanda: Virus gestoppt
       
       Der Countdown begann am 30. Oktober. Das war der Tag, als in Ruanda der
       letzte Fall [1][des gefährlichen Marburg-Virus] im Labor bestätigt wurde.
       Laut den Regeln der Internationalen Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird
       eine Seuche dann als beendet erklärt, wenn 42 Tage, also zwei
       Inkubationsperioden, nachdem der letzte bestätigte positive Fall wieder
       negativ ist, kein neuer Infektionsfall mehr bekannt geworden ist. Und
       tatsächlich hat das ruandische Gesundheitsministerium am 20. Dezember das
       Ende der Seuche erklärt.
       
       Obwohl das Marburg-Virus neben dem verwandten Ebola-Virus eine der
       tödlichsten Krankheiten der Welt verursacht, starben beim jüngsten Ausbruch
       in Ruanda nur 15 Patienten. Seit dem offiziellen Ausbruch der Seuche am 27.
       September wurden landesweit 66 Patienten positiv getestet, darunter vor
       allem Ärzte und Pfleger von Krankenhäusern, wo das Virus sich zu Beginn
       zunächst unbemerkt verbreitete.
       
       Typische Symptome sind hohes Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen sowie
       Übelkeit und Bauchkrämpfe. Ähnlich wie bei Ebola wird das Marburg-Virus
       nicht über die Luft oder durch Tröpfcheninfektion, wie bei Corona,
       übertragen, sondern lediglich über Körperflüssigkeiten. Allerdings zählt es
       mit einer Sterblichkeitsrate von fast 25 Prozent zu einem der tödlichsten
       Viruserkrankungen für den Menschen.
       
       Es war der drittgrößte Ausbruch in der Geschichte. Der Ursprung der Virus
       liegt im Osten Afrikas. Als Träger des Virus werden Flughunde vermutet,
       über die das Virus auch auf Affen oder gar Menschen übertragen werden kann.
       In Ruanda hat sich der erste Patient im September in einem Steinbruch
       angesteckt.
       
       Das Virus ist benannt nach der hessischen Stadt Marburg. Es kam 1967,
       offenbar über infizierte Affen, von Uganda nach Deutschland, wo die
       Primaten bei Tierversuchen des Pharmakonzerns Behringwerke, der auf der
       Suche nach einem Polio-Impfstoff war, benutzt werden sollten. Innerhalb
       weniger Tage starben damals zahlreiche Labormitarbeiter an hohem Fieber.
       
       Ruanda hat in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen darin gesammelt, die
       Verbreitung von Seuchen zu verhindern. Kurz nach Ende der Coronapandemie
       breitete sich im Nachbarland Kongo das Ebolavirus aus. In diesem Jahr
       grassieren zudem die Affenpocken in der Region. Ruandas Gesundheitsbehörden
       arbeiten seit der Coronapandemie eng mit der WHO zusammen.
       
       „Dieser Ausbruch zeigt, dass mit der besten verfügbaren Behandlung eine
       Genesung möglich ist und Beiträge zur Wissenschaft geleistet werden
       können“, sagte Sabin Nsanzimana, Ruandas Gesundheitsminister. „Die
       Erkenntnisse, die dieser Ausbruch liefert, werden dazu beitragen, künftige
       Überwachungsmaßnahmen zu gestalten und künftige Ausbrüche zu verhindern.“
       Nach Angaben des ruandischen Gesundheitsministeriums wurden landesweit in
       nur kurzer Zeit mehr als 7.400 Tests durchgeführt und über 1.700 Menschen
       mit einer Einzeldosis eines Wirkstoffs des in den USA ansässigen Sabin
       Vaccine Institute geimpft. So sei es gelungen, die Infektions- sowie
       Sterblichkeitsrate weit unter dem globalen Durchschnitt vergangener
       Ausbrüche zu halten, lobte auch die WHO.
       
       Simone Schlindwein, Kampala 
       
       Japan: Neues Jahr, neues Eheglück?
       
       Japan ist das einzige Mitglied der G7-Nationengruppe, das
       gleichgeschlechtliche Ehen noch nicht zulässt. Doch dieses Jahr markiert
       einen Wendepunkt: Mehrere wichtige Gerichtsurteile haben bewirkt, dass der
       Druck auf die Politik wächst, die Gesetzeslage zu liberalisieren. Im April
       waren bei der Rainbow-Pride-Parade in Tokio 15.000 Menschen mit
       Regenbogenfahnen durch den Bezirk Shibuya gezogen und hatten damit auch
       gefeiert, dass es neuen Anlass zur Hoffnung auf mehr Anerkennung und
       Gleichberechtigung für die japanische LGBTQ+-Community gibt. Denn kurz
       zuvor hatte das oberste Gericht von Sapporo das Verbot der
       gleichgeschlechtlichen Ehe für verfassungswidrig erklärt.
       
       Dieses erste Urteil eines obersten Regionalgerichts zog im Jahresverlauf
       zwei ähnliche Entscheidungen der obersten Gerichte in Nagoya und Fukuoka
       nach sich. Zwar scheiterten alle Klägerinnen und Kläger mit ihrer Forderung
       nach einer Entschädigung von symbolischen rund 6.000 Euro. Doch sie
       verfolgen gezielt diesen Weg, um in Berufung zu gehen und diese Frage vor
       das nationale Oberste Gericht zu bringen. Dort müsste die letzte Instanz
       dann eine endgültige Entscheidung treffen und im Erfolgsfall die Politik
       zum Handeln zwingen.
       
       Im Dezember urteilte das oberste Gericht von Fukuoka ausdrücklich, dass
       zivilrechtliche Bestimmungen, die gleichgeschlechtliche Ehen verbieten,
       gegen Artikel 13 der Verfassung verstoßen. Dieser Artikel garantiert das
       Recht auf Streben nach Glück. Zudem verletze das Verbot die Gleichheit vor
       dem Gesetz und die Würde des Einzelnen. „Es gibt keinen Grund mehr, die Ehe
       zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren nicht rechtlich anzuerkennen“,
       erklärte der Vorsitzende Richter Takeshi Okada.
       
       Nach dem Urteil hielten vier Kläger vor dem Gericht ein Schild mit der
       Frage hoch, warum das Parlament die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht
       legalisiert hat. Der 35-jährige Kläger Kosuke sagte, das Urteil „verändere
       die gesellschaftliche Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe“. Er habe
       nicht aufhören können zu weinen, als der Richter das Urteil vorlas. Sein
       37-jähriger Partner Masahiro sagte, das Urteil „habe unser Leid verstanden,
       ich fühlte mich sehr beruhigt“.
       
       Im März entschied das Oberste Gericht der Inselnation zudem, dass
       gleichgeschlechtlichen Paaren gesetzliche Hinterbliebenenleistungen
       zustehen. Ein Mann, der rund 20 Jahre mit einem Partner zusammenlebte,
       klagte nach dessen Ermordung auf Opferentschädigung. Erst in letzter
       Instanz entschied die Justiz zugunsten des Klägers. Das
       Entschädigungsgesetz soll die Folgen des Todes eines geliebten Menschen
       mildern, hieß es in der Entscheidung. Dabei „macht es keinen Unterschied,
       ob die Person, die mit dem Opfer zusammenlebte, das andere oder das gleiche
       Geschlecht hatte“.
       
       Laut dem Verband der Rechtsanwaltskammern gibt es in über 200 japanischen
       Gesetzen und Verordnungen Bestimmungen, die Lebenspartner nach dem
       Gewohnheitsrecht wie rechtmäßige Ehepartner behandeln. Die Gleichheit der
       Partnerschaft sei jedoch nicht ausreichend, kommentierte die liberale
       Zeitung Mainichi das Urteil. Vielmehr sollte in Japan die
       gleichgeschlechtliche Ehe rechtlich umfassend anerkannt werden.
       
       Das neue Jahr könnte einen Durchbruch bringen. Die hohen Stimmenverluste
       der Regierungspartei LDP bei der Parlamentswahl Ende Oktober haben die
       erzkonservativen Blockierer geschwächt. Erstmals gäbe es eine
       parteiübergreifende Mehrheit im Parlament für die Legalisierung der
       gleichgeschlechtlichen Ehe. „Das würde die Nation glücklicher machen“,
       meinte auch Premier Shigeru Ishiba. Wegen seiner schwachen Position in der
       LDP will er weitere gerichtliche Entscheidungen abwarten. Doch sein kleiner
       Koalitionspartner, die Komei-Partei, drängt auf eine gesetzliche Initiative
       im Parlament.
       
       Martin Fritz, Tokio 
       
       Norwegen: Tiefseebergbau wackelt
       
       Vor Gericht in Oslo verhandelte man gerade eine Klage des WWF gegen die
       norwegischen Tiefseebergbaupläne, als auf anderem Wege plötzlich Fakten
       geschaffen wurden. Das Leben am Meeresboden zwischen Grönland, Norwegen und
       Spitzbergen bleibt vorerst ungestört, denn die Minderheitsregierung hat
       zähneknirschend die für kommendes Jahr geplante Lizenzvergabe an
       Bergbauunternehmen auf Eis gelegt. Wie? Was?
       
       Kurzer Rückblick: Der WWF ist nicht der einzige Player in Norwegen, der
       sich gegen das Vorhaben der Regierung engagiert. Aber trotz der Proteste
       etwa von Naturschutzorganisationen, Forschungseinrichtungen und Behörden
       trieb Oslo die Pläne in diesem Jahr immer weiter voran.
       
       „Wir verstehen das Verhalten der Regierung selbst nicht“, hatte Karoline
       Andaur, Vorständin von WWF Norwegen, vor der Gerichtsverhandlung gesagt.
       Die augenscheinliche Eile bei der Lizenzvergabe war das zentrale Argument
       der Klage – der WWF ist überzeugt, dass die Regierung die
       Umweltverträglichkeitsprüfung nicht vorschriftsgemäß durchgeführt hat.
       
       Dass über die Ökosysteme am Meeresgrund noch viel zu wenig bekannt ist,
       darin sind sich die vielen Kritiker einig. Empfindliche Strukturen könnten
       unwiederbringlich verloren gehen, wenn Menschen dort unten auf der Jagd
       nach Mangan herumfuhrwerken. „Wir brauchen die seltenen Minerale, Europa
       muss sich unabhängig machen“, lautet aber die unverdrossene Parole der
       norwegischen Minderheitsregierung aus sozialdemokratischer Arbeiterpartei
       und Zentrumspartei.
       
       Stichwort Minderheitsregierung: Als solche ist man nun einmal gelegentlich
       auf die Unterstützung weiterer politischer Akteure angewiesen, zum Beispiel
       beim Beschließen des Staatshaushalts. In Norwegen verhandeln die
       Regierungsparteien dazu mit der Sozialistischen Linkspartei (SV). Und die
       kam mit einem für viele unerwarteten Verhandlungsgeschick um die Ecke.
       SV-Vorsitzende Kirsti Bergstø verkündete Anfang Dezember schließlich stolz,
       welche Anliegen ihre Partei durchgesetzt hat. Und siehe da: Ungeduldig
       wartende Bergbaukonzerne können sich den Lizenzerwerb vorerst abschminken,
       zumindest für das kommende Jahr 2025.
       
       Ministerpräsident Jonas Gahr Støre (Arbeiterpartei) räumte als guter
       Demokrat zähneknirschend ein, dass er aktuell keine andere Wahl hat: „Das
       ist ein Aufschub, den wir akzeptieren müssen.“
       
       Dass durch diesen Aufschub zugleich etwas in Bewegung gerät, hofft wiederum
       Karoline Andaur: Sie nannte es gegenüber der taz „eine Pause, die der
       Regierung Zeit zum Umdenken gibt“.
       
       Die WWF-Klage wurde derweil zu Ende verhandelt. Zu welchem Schluss das
       Gericht kommt, will es Mitte Januar bekannt geben. Dann könnte sich zeigen,
       ob aus der Pause am Ende noch das endgültige Aus für den Tiefseebergbau
       wird.
       
       Anne Diekhoff, Västernorrland 
       
       England: Gute Drohnen
       
       Vom obersten Stockwerk eines benachbarten Parkhauses sieht man es am
       besten: Ein leichtes Surren mischt sich in das Gurren der Tauben und dann
       hebt vom Dach des Krebszentrums im Guy’s Hospital in der Londoner
       Innenstadt ein kleiner, weißer, wie ein H geformter Flugkörper ab und
       fliegt schnurstracks und relativ schnell in Richtung Westen. Dann
       verschwindet das H vor dem Hintergrund des großen Victoria Towers des
       britischen Parlaments und des Londoner Riesenrads.
       
       Das Flugobjekt ist eine spezielle Drohne, deren Ziel das Dach des zwei
       Kilometer Fluglinie entfernten St. Thomas Hospital ist. Dort senkt sich die
       Drohne etwas und ein Krankenhausangestellter entnimmt einer Tasche, die mit
       einem Seil von der Drohne heruntergelassen wurde, einen Stahlbehälter mit
       zahlreichen Blutproben, die hier in einem Speziallabor untersucht werden
       sollen.
       
       Nach der Abgabe fliegt die Drohne sofort wieder zurück und landet, es sind
       seit dem Start kaum fünf Minuten vergangen, wieder auf dem Dach des
       Krebszentrums. Dass da über den Dächern eine mit Blut beladene kleine
       Drohne durch die Lüfte flog, hat von unten niemand bemerkt.
       
       Je nach Bedarf und bis zu zehnmal am Tag fliegen seit Mitte November Flüge
       mit Blutproben zwischen den beiden Krankenhäusern hin und her, mit
       Sondererlaubnis der britischen Luftfahrtbehörde. Die Beförderung der Proben
       auf diese Art spart wertvolle Zeit, denn bisher wurden sie per Motorrad
       oder Pkw befördert, was an schlechten Tagen im Londoner Innenstadtverkehr
       hin und zurück fast eine Stunde dauern kann.
       
       Das britische Gesundheitssystem NHS glaubt, dass nach dem Ablauf einer
       sechsmonatigen Probezeit dieses System auch andere medizinische Gegenstände
       und Proben transportieren kann, und man fühlt sich etwas erinnert an die
       fiktionale Gestalt Mary Poppins, die ebenfalls über den Dächern Londons
       unterwegs ist, allerdings mit einem altmodischen Regenschirm. Der Einsatz
       der Drohnen soll womöglich auch über London hinaus ausgeweitet werden.
       
       Der derzeitige Einsatz folgte bereits anderen Probeläufen in Dublin und in
       englischen ländlichen Regionen. So werde auch weniger Schadstoff und
       Energie verbraucht, erklärt die Krankenhausverwaltung. Hin und wieder wird
       man jedoch dennoch auf alte Methoden zurückgreifen müssen, denn bei sehr
       starkem Wind könnten die Drohnen nicht eingesetzt werden.
       
       Die Botschaft sei auch, dass Drohnen hier mal „für Gutes eingesetzt
       werden“, sagte Alec Jackson ein Projektleiter des Unternehmens Apian, die
       das Drohnenprojekt mit unterstützen.
       
       Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London 
       
       Deutschland: Grundrechte bleiben
       
       Vor rund einem Jahr machte die Correctiv-Recherche deutlich, wie akzeptabel
       in rechtsextremistischen Kreisen (inklusive AfD) das Konzept der
       „Remigration“ ist. Auch „nicht assimilierte Eingebürgerte“ sollen aus dem
       Land gedrängt werden. Darauf hat die deutsche Zivilgesellschaft, von links
       bis konservativ, mit großen Demonstrationen reagiert und deutlich gemacht,
       dass sie solche im Kern rassistischen Konzepte von Staatsbürgerschaft
       ablehnt. Das war die richtige Reaktion, auch als Selbstvergewisserung der
       freiheitlich-demokratischen Mehrheit.
       
       In der Folge unterzeichneten jedoch auch 1,7 Millionen Menschen eine
       Petition, die dem Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke Grundrechte wie
       die Meinungsfreiheit und die Möglichkeit zu kandidieren entziehen wollte.
       Zum Glück hat keine etablierte politische Partei diese Position übernommen.
       Feinde der Demokratie bekämpft man nicht, indem man ihnen die Grundrechte
       entzieht. Die entsprechende Grundgesetz-Vorschrift Artikel 18, die
       offensichtlich davon ausgeht, Grundrechte seien eine Gegenleistung für
       Wohlverhalten, ist historisch überholt.
       
       Der Versuch, ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD einzuleiten, war
       etwas erfolgreicher. Immerhin 113 von 733 Abgeordneten unterzeichneten eine
       entsprechende Initiative. Vor allem die Grünen bestätigten hier ihr Image
       als gängelnde Verbotspartei. Zum Glück ist der Rückhalt für ein
       Verbotsverfahren in den großen Fraktionen, also bei SPD und CDU/CSU, recht
       gering.
       
       Dass auch Parteien, die die AfD inhaltlich bekämpfen, die Verbotsinitiative
       mehrheitlich ablehnen, macht Mut. Man kann nicht Vielfalt und Pluralismus
       propagieren, aber – je nach Bundesland – bis zu einem Drittel der
       Wähler:innen davon ausnehmen. Demokratie heißt, Wahlergebnisse auch dann
       zu akzeptieren, wenn sie weh tun.
       
       So handhaben es auch fast alle anderen westlich orientierten Demokratien.
       Es wäre also ein deutscher Sonderweg, eine große oppositionelle
       Rechtsaußen-Partei einfach zu verbieten.
       
       Die Demokratie ist ein Wert an sich. Wer sie vorschnell zur Disposition
       stellt, wertet sie ab und schadet damit langfristig der Demokratie. Es war
       daher eine der guten Nachrichten des Jahres 2024, dass ein
       Parteiverbotsverfahren im Bundestag keine Chance hatte.
       
       Christian Rath, Freiburg 
       
       Kolumbien: Erfolg gegen Kinderehen
       
       „Meine Mutter war 15, als sie mich zur Welt brachte – mein Vater war 63.“
       Was die indigene Senatorin Martha Peralta (MAIS) in einer Parlamentsdebatte
       schildert, ist kein Einzelfall in Kolumbien. Doch damit soll in Zukunft
       Schluss sein. Seit 1887 erlaubt das Gesetz die Ehe ab dem 14. Lebensjahr,
       wenn die Eltern zustimmen. Seit fast 20 Jahren gibt es Versuche, die
       Regelung zu ändern. Im November klappte es im zehnten Anlauf schließlich –
       am Ende einstimmig, über alle Parteigrenzen hinweg. Heiraten ist künftig
       erst mit 18 Jahren möglich.
       
       Das soll vor allem Mädchen schützen. Denn sie betrifft die Kinderehe in den
       meisten Fällen. #SonNiñasNoEsposas – Sie sind Mädchen, keine Ehefrauen –
       hieß die Kampagne gegen die Kinderehe daher. Laut dem Zensus von 2018 waren
       15 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren und 1,8 Prozent der
       Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren verheiratet – vor allem in indigenen und
       afrokolumbianischen Gemeinden, aber nicht nur. Die Dunkelziffer dürfte
       höher liegen.
       
       Es trifft vor allem Mädchen auf dem Land aus armen Familien. In den meisten
       Fällen heiraten sie einen Mann, der mindestens 20 Jahre älter ist. Über die
       Hälfte wurde gegen ihren Willen von ihren Eltern verheiratet, belegen
       weitere Untersuchungen. Daten zeigen, dass die minderjährigen Ehefrauen in
       hohem Maße sexuelle Gewalt erleben.
       
       Und die Gewaltspirale dreht sich weiter: Von den jugendlichen Straftätern
       zwischen 14 und 18 Jahren sind 89 Prozent Kinder von Teenagermüttern.
       „Kinder, die Kinder aufziehen müssen“, sagt Alejandro Ruiz der taz. Der
       Jurist arbeitet beim kolumbianischen Ableger von SOS-Kinderdorf und hat den
       Gesetzestext entworfen. Damit es in Kraft tritt, fehlt noch die
       Unterschrift von Präsident Gustavo Petro.
       
       Noch nie wurde das Thema so breit und offen im Parlament debattiert – und
       so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, sagen Kinderschützer:innen.
       Laut Anwalt Ruiz vom kolumbianischen SOS-Kinderdorf ist eine breite
       Kampagne nötig, um das Gesetz in der ganzen Gesellschaft, bei
       Institutionen, Kindern und Eltern bekannt zu machen.
       
       Doch es ist nur ein erster Schritt, betont auch Thiago Hernández. „Es geht
       um einen Kulturwandel.“ Hernández arbeitet bei der Stiftung Plan, dem
       kolumbianischen Ableger von Plan International, die den Prozess eng
       begleitet hat. Geschlechterstereotypen müssten sich ändern.
       
       Hernández warnt davor, die Diskussion auf indigene Gemeinschaften zu
       beschränken und diese so zu stigmatisieren. Das Problem sei viel größer.
       Indigene Mädchen und Frauen hätten sich längst in ihren Gemeinschaften
       gegen die frühen Ehen mobilisiert. Auch die indigene Senatorin Martha
       Peralta betonte das im Parlament. Und machte Hoffnung auf Wandel: Indigene
       Kulturen seien „niemals statisch und immer dynamisch“ gewesen.
       
       Katharina Wojczenko, Bogotá
       
       Belgien: Sühne für Kongo-Verbrechen
       
       Fünf Frauen aus der Demokratischen Republik Kongo, Töchter weißer
       belgischer Väter und schwarzer kongolesischer Mütter und alle heute über 70
       Jahre alt, erzielten am 2. Dezember einen historischen Erfolg vor Gericht
       in der früheren Kolonialmacht Belgien. In der Zeit zwischen 1946 und 1950
       waren die „Mischlinge“ im Alter zwischen zwei und vier Jahren von den
       belgischen Behörden in der Kongokolonie ihren Müttern weggenommen und in
       katholische Waisenhäuser zwangsverbracht worden. Dort wurden sie
       misshandelt und schließlich 1961 nach Ende der Kolonialherrschaft schutzlos
       in den Händen lokaler Militärangehöriger zurückgelassen.
       
       Simone Ngalula, Monique Bitu Bingi, Lea Tavares Mujinga, Noelle Verbeeken
       und Marie-Jose Loshi verklagten den belgischen Staat, aber im September
       2021 verloren sie in erster Instanz. Jetzt wertete das Berufungsgericht in
       Brüssel ihre „Entführung“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und
       sprach ihnen Entschädigungen zu.
       
       Die Kinder wurden von der Gesellschaft getrennt, weil die Existenz von
       „Mischlingen“ als Gefahr für die Kolonie gewertet wurde, sagte Anwältin
       Michèle Hirsch: Es handele sich um eine „Politik der Rassensegregation und
       der kolonialstaatlichen Entführungen“ und um einen „Identitätsdiebstahl“.
       
       Kolonialarchive belegen, dass es sich um eine organisierte staatliche
       Praxis handelte. Die Kinder wurden ihren Müttern weggenommen, mit Gewalt
       und Drohungen, und als elternlos definiert. Ihre weißen Väter hatten die
       Vaterschaft nicht anerkannt.
       
       Erst in den 1980er Jahren entdeckte Monique Bitu Bingi in alten Dokumenten
       Nachweise ihrer Herkunft; eine alte Nonne aus ihrem früheren Kinderheim
       hatte ihr einen Schlüssel zu ihren Archiven gegeben. Sie teilte ihre
       Entdeckungen mit ihren vier Leidensgenossinnen. 2014 entstand daraus ein
       Buch, das eine öffentliche Debatte anstieß. 2019 sprach Belgiens damaliger
       Premierminister Charles Michel eine Entschuldigung des belgischen Staates
       aus, aber Reparationen schloss die Regierung aus. Ebenso wurde die
       Einstufung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zurückgewiesen, da
       dieser Straftatbestand erst seit 1999 im belgischen Recht existiere.
       
       Das sieht das Gericht in Brüssel nun anders. „Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit“ seien als solche im Völkerstrafrecht seit den Nürnberger
       Kriegsverbrechertribunalen von 1946 anerkannt und damit gelte das auch für
       die vorliegenden Taten aus dem Zeitraum von 1948 bis 1961. „Ein
       historisches Urteil“, sagt Klägeranwältin Hirsch. „Zum ersten Mal in Europa
       hat ein Gericht den ehemaligen Kolonialstaat wegen Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit schuldig gesprochen.“
       
       Das Urteil könnte einen Präzedenzfall darstellen. 15.000 bis 20.000
       „Mischlingskinder“ sollen die belgischen Kolonialbehörden auf diese Weise
       im Kongo ihren afrikanischen Müttern weggenommen haben. François Misser,
       Brüssel
       
       Ukraine: Umweltschutz im Krieg
       
       Das Leben in Frontnähe – ich höre oft das dumpfe Grollen von Explosionen –
       ist nicht vergleichbar mit dem Leben in dem relativ ruhigen Kyjiw oder der
       Westukraine. Gleichwohl ist es erschreckend und beruhigend zugleich, dass
       man sich an alles gewöhnen kann. Wenn ich jetzt an 2024 zurückdenke, dann
       gibt es nämlich auch Dinge, über die ich mich freue. Etwa, wie unsere
       Gruppe „Zero Waste Kharkiv“ sich entwickelt, qualitativ und quantitativ.
       Unser Ziel ist es, Mülldeponien kleiner und kleiner werden zu lassen. Denn
       Deponien sind gefährlich. In ihnen bildet sich Methangas. Und wenn eine
       Rakete in eine Deponie einschlägt, gibt es eine gefährliche Explosion.
       
       Ich freue mich auch, wenn ich bei unseren Vorträgen in Schulen und
       Jugendzentren sehe, wie begeistert die Jugendlichen sich unsere
       Informationen über das Trennen von Wertstoffen und Recycling nicht nur
       anhören, sondern in ihrem Umfeld auch aktiv werden. Sie werden immer mehr
       zu Trägern eines ökologischen Bewusstseins. Wir wollen in die EU. Und das
       bedeutet auch, dass wir europäische Umweltstandards übernehmen.
       
       Und es freut mich zu sehen, dass nun immer mehr Gemeinden im Gebiet Charkiw
       die Einrichtung öffentlicher Kompostieranlagen beschlossen haben. Es ist
       deprimierend, durch Dörfer nördlich von Charkiw zu gehen. Sie sind oftmals
       völlig durch den Krieg zerstört. Gleichwohl ist es wichtig, dass das, was
       von den Häusern übrig geblieben ist, nicht auf die Deponie kommt. Ziegel
       und andere Baumaterialien gilt es wiederzuverwenden, anstatt sie einfach zu
       entsorgen.
       
       Wir haben Ziegel und Baumaterial des weitgehend zerstörten Ratsgebäudes des
       Dorfs Ruska Lozova gesammelt. Dieses Baumaterial können Familien gut
       gebrauchen, die vom Staat keine Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer
       Häuser erhalten. Geld bekommt nämlich nur, wer die Eigentumsverhältnisse
       nachweisen kann. Und die sind häufig unklar. Anderes Material aus dem
       zerstörten Gebäude, wie Metall oder Holz, wurde entweder recycelt oder zum
       Heizen verwendet. Wieder anderen Schutt nutzten wir zum Befüllen der durch
       Einschläge entstandenen Krater. Zwar lassen sich Fenster, Türen,
       Kücheneinrichtungen und Badarmaturen, Fußböden, Möbel und technische Geräte
       beim Wiederaufbau manchmal nicht mehr in demselben Haus nutzen. Gleichwohl
       haben wir einen Ort, an den derartiges Material gebracht werden kann und wo
       sich andere Menschen dann nehmen können, was sie noch irgendwie nutzen
       können.
       
       Besonders schwierig ist es mit Türen und Fenstern. Die werden oft auch nach
       dem Wiederaufbau erneut durch die Aggression Russlands zerstört, müssen
       mitunter mehrfach ausgewechselt werden. Auch über eine Schweizer
       Organisation erhalten wir ausrangierte Fenster in gutem Zustand. Schön wäre
       es, wenn wir zudem aus EU-Ländern Türen und Fenster, auch gebrauchte,
       erhalten würden.
       
       Anna Prokajewa, Leiterin von „Zero Waste Kharkiv“. 
       
       (Protokolliert von Bernhard Clasen)
       
       31 Dec 2024
       
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