# taz.de -- Saxofonistin Camila Nebbia: Brücken bauen, Archive zerstören
       
       > Die argentinische Saxofonistin Camila Nebbia tritt beim Jazzfest Berlin
       > mit dem Trio Exhaust auf. Geprägt ist ihr Stil von der Krise in ihrer
       > Heimat.
       
 (IMG) Bild: Check den Flow von Camila Nebbia
       
       Behutsam entfaltet sich die Performance auf einer Brücke in Lyon, als die
       argentinische Saxofonistin Camila Nebbia gemeinsam mit der Tänzerin und
       Choreografin Sophie Blomquist „Improvising Bridges II“ aufführt. Ein
       Zusammenspiel zweier Improvisatorinnen, von Klang und Bewegung.
       
       2020 übersiedelte Nebbia aus Buenos Aires nach Europa, wo sie neben Musik
       und Film auch Tanz und Performance studierte. Seit zwei Jahren lebt die
       Jazzmusikerin, Elektronikproduzentin und Filmemacherin in Berlin. Beim
       Jazzfest wird sie mit dem Trio Exhaust auftreten, ein Projekt mit dem
       britischen Pianisten und Organisten Kit Downes und dem Schlagzeuger Andrew
       Lisle.
       
       Die 37-jährige Künstlerin untersucht in ihrer musikalischen Praxis die
       Zerstörung von Archiven und die experimentelle Erweiterung von
       Klangtexturen. „Mit dem Trio habe ich das Gefühl, dass wir beim Spielen
       Grenzen überschreiten“, erklärt die Saxofonistin im Interview mit der taz.
       „Nicht nur musikalisch, auch physisch, indem wir bis an die Grenzen der
       Musik gehen.“
       
       ## Lautstärke und Dynamik
       
       So würden sie Lautstärke und Dynamik nutzen, um verschiedene
       Intensitätsstufen zu erreichen. Anfang des kommenden Jahres wird das
       Exhaust sein Debütalbum veröffentlichen, eine Live-Aufnahme aus dem
       Berliner Loft Morphine Raum. „Wir haben zwei lange Sets gespielt, die
       komplett improvisiert sind. Das anwesende Publikum spendete zusätzliche
       Energie, die in der Musik spürbar ist.“
       
       Geboren 1987 in Buenos Aires, vier Jahre nach Ende der Militärdiktatur,
       bekommt Nebbia im Alter von neun Jahren ihr erstes Saxofon geschenkt,
       [1][nachdem sie im Fernsehen eine Aufführung mit dem Instrument sah]. Ihrer
       Mutter hatte sie den Wunsch geäußert, sie wolle das Blasinstrument
       erlernen. „Da sie bejahte, muss ich ziemlich überrascht gewesen sein, aber
       auch begeistert.“ 1998 kommt es in Argentinien zur schweren
       Wirtschaftskrise.
       
       Das sei für die gesamte Gesellschaft und ihre Familie extrem erschöpfend
       gewesen. „Man lernt, mit diesem System zu leben, das sich sehr von der
       Stimmung in Deutschland unterscheidet, was Sicherheit angeht oder
       Inflation.“ So sei es in Argentinien zum Beispiel unmöglich, Geld zu
       sparen, um Projekte durchführen zu können oder um die Miete zu zahlen, weil
       das Geld schon am nächsten Tag entwertet sein kann. „Für mich war das immer
       ein Kampf. Man kann sich daran gewöhnen, im Alltag mit ständiger
       Unsicherheit zu leben. Ich selbst kannte gar keine andere Lebensweise, bis
       ich aus Argentinien wegging.“
       
       ## Elektrisiert von Ornette
       
       Noch in Buenos Aires studiert sie Jazz, klassische Musik und Film. Sie hört
       Aufnahmen des argentinischen Jazzsaxofonisten Gato Barbieri und das Album
       „Crisis“ von US-Freejazzikone Ornette Coleman. Dessen Sound habe sie
       förmlich elektrisiert. „Ich dachte: [2][Was ist das für eine Musik?] Ich
       spielte damals bereits Jazz, aber Ornettes Musik war eine Offenbarung. Sie
       macht auch Sinn für viele Dinge, die ich an Musik liebe, die nicht nur Jazz
       ist, sonder eher Punk- und experimentell orientiert. Als ich ‚Crisis‘
       hörte, wusste ich, das ist die Richtung, in die ich gehen möchte.“
       
       [3][Nach Amtsantritt des Rechtspopulisten Mauricio Macri als Präsident 2015
       kommt es während seiner Regierungszeit bis 2019 zu massiven Kürzungen mit
       Auswirkungen auf die argentinische Kulturszene. Viele Kunstschaffende
       verlassen das Land.] Für ein Visum schreibt sich Nebbia am Konservatorium
       in Stockholm ein. Dort bleibt sie während der Covidpandemie und beschäftigt
       sich mit elektronischer Musik. [4][Anschließend bereist sie Europa und
       zieht nach Berlin, wo sie in die Szene der Improvisation und elektronischen
       Musik eintaucht].
       
       An Berlin gefällt ihr, dass es in der Stadt eine große argentinische
       Gemeinschaft gibt. Nebbia erforscht verschiedene Konzepte von Identität,
       Migration und Erinnerung. „Ich arbeite, ähnlich wie bei meinen Digital- und
       Super-8-Filmen, mit Materialien aus meinem Familienarchiv, um dadurch auch
       mehr über meine Vorfahren zu erfahren. Bei meiner Arbeit zerstöre ich
       Archivmaterialien und setze sie neu zusammen. Es ist eine Möglichkeit, die
       Art und Weise, wie wir uns an Dinge erinnern, zu verändern.“
       
       ## Unter der Armutsgrenze
       
       So auch auf ihrem dritten Soloalbum „Una Ofrenda a la Ausencia“ (2023),
       einer musikalischen Opfergabe an die Abwesenheit, an ihre Identität in der
       Diaspora, aber auch an die Abwesenden, an die Ahnen. Mittlerweile hat sich
       die Lage in Argentinien noch verschärft. Mehr als die Hälfte der
       Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.
       
       2023 wurde während der Hyperinflation der ultrarechte Populist Javier Milei
       zum Präsidenten gewählt. „Es ist verheerend, denn viele Menschen leiden“,
       erklärt Nebbia. „Nicht nur die Armen, die Verheerung erreicht auch die
       Mittelschicht. Ich spreche viel mit meinen Freund*innen in Argentinien
       darüber, wie sich die Kulturszene dessen erwehren kann. Unsere Grundrechte
       sind in Gefahr, der Unterricht an den Universitäten unmöglich. Ich
       versuche, sie zu unterstützen, auch aus der Ferne, weil ich daran glaube,
       dass man Dinge schaffen kann, die helfen, Brücken zu bauen, damit wir uns
       gegenseitig unterstützen können.“
       
       31 Oct 2024
       
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