# taz.de -- Argentinische Rockband Reynols: Der spitze Schrei von Villa 31
       
       > Selten gehörte Freiheit zwischen Luxusimmobilie und Slum-Wolkenkratzer:
       > Die Band Reynols lebt auch von ihrem unzähmbaren Größenwahn.
       
 (IMG) Bild: Am Ende gewinnen immer Reynols: Alan Courtis, Miguel Tomasín, Roberto Conlazo (v. l. n. r.)
       
       Seit November weiß ich wieder mit etwas größerer Sicherheit, dass ich
       nichts oder zumindest nicht so besonders viel weiß. Über Südamerika etwa.
       Über Argentinien. Über die dortigen Bands, Künstlerinnen, Musiker und
       Politiker. Und den ganzen Rest. Seit November weiß ich zumindest, dass es
       mitten in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires einen Slum gibt, dort
       „villa“ genannt, wo die selbst errichteten Gebäulichkeiten mehrere
       Stockwerke hoch sind. Eine surreale, dabei mehr als reale Wirrnis aus Blech
       und Stein und Plastikplanen, die einfach zusammenstürzen muss, wenn der
       Wind einmal etwas stärker bläst. Wenn die Erde beben sollte – und die
       bisher nicht zusammengestürzt ist.
       
       [1][Ein erster Hinweis darauf, dass in Südamerika anscheinend andere
       Naturgesetze gelten als auf dem Rest des Planeten], ja, dass man sich
       vielleicht sogar auf einem anderen Sonnentrabanten als dem unseren
       befindet. Wo man kaum Englisch spricht. Wo die Klimakatastrophe angesichts
       der sozialen Katastrophen als Wohlstandsproblemchen erscheint. Wo
       offensichtlich kein Sternchen oder Doppelpunkt das Miteinander der
       unterschiedlichsten sexuellen Präferenzen definiert, sondern sich einfach
       eine sehr entspannte Praxis entwickelt hat, mit der die meisten wohl
       bestens zu leben verstehen. Wo jeder Mückenstich Denguefieber bedeuten kann
       und die Einschränkungen während der Pandemie länger galten als selbst in
       China; wo nur die wenigstens noch wissen, dass ein paar Flugstunden
       entfernt ständig teuerster Impfstoff vernichtet worden ist, weil er sein
       Verfallsdatum erreicht hat.
       
       [2][Wo am Tag vor der Stichwahl zwischen dem späteren Wahlsieger Milei
       (verrückt) und seinem Konkurrenten Massa (korrupt) Tausende durch die
       Innenstadt ziehen,] um für die Freigabe von Marihuana zu demonstrieren –
       doch in der Wahlnacht alles gespenstisch ruhig bleibt und höchstens alle
       fünf Minuten ein Kleinwagen mit Argentiniens Flagge über die Plaza de Mayo
       rumpelt.
       
       Wo die Geldentwertung 300 Prozent erreicht hat und das Land nun von einem
       Mann regiert wird, der früher in einer Rolling-Stones-Cover-Band gespielt
       hat. Wo dieser Kampfhund der Reaktion vor allem von den gut ausgebildeten
       Jungen und von den Ärmsten gewählt worden ist: Alles besser als die endlose
       Korruptionsmaschine rund um die als links geltenden Peronisten.
       
       Aber ich wollte ja eigentlich die Villa 31 am Bahnhof von Buenos Aires als
       Metapher aufbauen: Dass sich unfassbar reiche Menschen und unfassbar arme
       Menschen abends gegenseitig in die Fensterlöcher starren können.
       Argentiniens Oberschicht in den Hochhäusern um Retiro und der bettelnde,
       kleinkriminelle Abschaum einen Steinwurf weiter Richtung Bahnhof. Wir und
       Südamerika, Auge in Auge, wenn man so will. Blind füreinander.
       
       ## Eine Diskografie mit mehr als hundert Einträgen
       
       Deutschland kennt man hier vor allem der Toten Hosen wegen; allein die
       Tatsache, dass ich im selben Hotel wohne wie einst die Pantalones, nötigt
       Gesprächspartnern Anerkennung ab, als sei es ein Beweis der
       Völkerfreundschaft. Und als ich erwähne, dass ich abends ein Bier trinken
       gehen werde mit Alan Courtis, zeitigt dies einen spitzen Schrei: „Der von
       Reynols?“ Genau der!
       
       Wobei ich von der Band Reynols bis vor ein paar Wochen ebenfalls noch nie
       gehört habe und von Alan Courtis auch nicht, obwohl ich dann im Internet
       eine Diskografie mit mehr als hundert Einträgen finde, Alben auf Vinyl,
       CDs, Kassetten, veröffentlicht von kleinen und kleinsten Labels auf der
       ganzen Welt. Dass in der Mixtur aus Schweinerock, Cumbia und viel
       schrecklichem R&B, die den öffentlichen, akustischen Raum in Buenos Aires
       beherrschen, einer wie Alan Courtis, drei wie Reynols einen so prominenten
       Platz einnehmen, ist kaum zu erklären.
       
       Also versuche ich es: Die Gitarristen Alan Courtis und Roberto Conlazo
       jobben Anfang der 1990er an einer staatlichen Musikschule, um so ein wenig
       finanzielle Sicherheit in ihr Leben zu bringen, bevor sie Rockstars würden
       und dies alles nicht mehr nötig hätten. Da taucht ein Junge mit Drumsticks
       an der Schule auf, die er aus seinem alten Kinderbett herausgebrochen hat,
       Miguel Tomasín, und will Unterricht. Ist ja schließlich eine Musikschule.
       Aber niemand will ihn unterrichten. Miguel ist ein Downie, also bitte. Auch
       Alan und Roberto mögen gezögert haben, bekamen aber von Miguel mitgeteilt,
       sie seien jetzt in seiner Band. Und das sind sie bis zum heutigen Tag.
       
       Miguel Tomasín hat das Verhältnis der beiden semiprofessionellen Musiker zu
       ihrem Tun grundlegend herausgefordert, verändert, umprogrammiert. Mit
       unzähmbarem Größenwahn hat er das Selbstverständnis der aufstrebenden
       Rocker und Versuchsavantgardisten auf ein Level gebracht, auf dem
       Sinfonien für 10.000 Hühner möglich wurden, Konzerte, bei denen das
       Publikum gespielt worden ist oder der Eiffelturm; immaterielle
       Schallplatten wurden veröffentlicht und über Jahre eine kreative Beziehung
       mit der US-New-Age-Größe Pauline Oliveros etabliert.
       
       Das alles klingt nach einer Art Berühmtheit à la Residents, also Big in
       Obskuristan, aber nachdem es die anfangs Burt Reynolds Ensembla genannte
       Combo fast wöchentlich ins argentinische Fernsehen geschafft hatte, waren
       sie lange eine südamerikaweit bekannte Institution.
       
       ## Die immer wieder aufflackernde Flamme
       
       Allein die Tatsache, dass Miguel nur mit der Mama reist und deswegen keine
       richtigen Tourneen in Frage kommen, und dass er samt Mama seit geraumer
       Zeit im Süden Argentiniens lebt, hat eine veritable Pop-Karriere
       verhindert. Burt und das d und das Ensembla sind verschwunden, da waren ein
       paar US-Rechtsanwälte not amused, geblieben ist Reynols als immer wieder
       aufflackernde Flamme eines unauslöschlichen Verlangens nach individuellem
       Ausdruck.
       
       Miguel Tomasín, und das sind die beiden grundlegenden Missverständnisse,
       wenn es um Reynols geht, ist erstens nicht der Schlagzeuger in einem
       Inklusionsprojekt. Und zweitens ist die Musik von Reynols keinesfalls Punk.
       Vielmehr hat Miguel zwei fähige Mitstreiter gefunden, die einen
       ausführlicheren, genaueren Blick in sein Seelenleben ermöglichen, ohne sich
       zwischen ihn und seine Leistung zu drängeln.
       
       Sie genießen es, von Miguel in immer neue grandios verrückte Zusammenhänge
       gedrängt zu werden; sie lieben seinen Nichtgesang und seine erfundenen
       Textzeilen in fremdartigster, vertrautester Sprache, seine Anleihen bei
       Bolero und Schlager; sie vertrauen seinem oft rudimentären Spiel, das
       plötzlich zu einer Expertise finden kann, die einen staunen lässt. Hier ist
       ein ziemlich ungewöhnliches Schlagzeugtalent am Werk, und ganz gewiss keine
       One-Two-Three-Four-Notlösung.
       
       Wie die so maximal unterschiedlichen Lebenswelten von Luxusimmobilie und
       Slum-Wolkenkratzer, so ist auch die Realität von Reynols wohl nur am Rand
       unseres euro-/US-zentrierten Popverständnisses möglich. Einstürzende
       Neubauten, in der Tat. Ein exemplarisches Album von Reynols zu empfehlen,
       einen Rat angesichts der schier uferlosen und auch obskurantischen
       Diskografie zu geben, ist vermessen. Bei dem Dutzend Alben, das ich
       inzwischen gehört habe, ist es ohnehin meist so, dass man nie auch nur
       erahnen kann, was einen auf dem jeweils nächsten Stück erwarten wird.
       
       ## Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones
       
       [3][Kraut-Gedengel, schmalzgebackener Gesang, Drones, frühe Can] oder The
       Fall? Es ist jedenfalls eine selten gehörte Freiheit, die eine Musik von
       Reynols antreibt. Und wenn man Glück hat, kann man diesen vorbeijagenden
       Gott am Schopf packen und sich mitreißen lassen im allerbesten Sinn. Gerade
       erschienen: „Acid Mothers Reynols Vol. 3“ (Cronica Sonora), die eben dritte
       LP aus einem Zusammentreffen der Argentinier mit Japans
       Psychedeliker-Kollektiv Acid Mothers Temple.
       
       Aufgenommen 2017, beglückend ausufernde Jams, so typisch oder untypisch,
       wie es bei diesen beiden Bands nur zugehen kann. Acid Mothers Temple haben
       ihre Mütter ja im Namen, daher können sie auch ungehemmt touren: Sie
       spielen in den nächsten Tagen in München, Hamburg und Schorndorf.
       
       28 May 2024
       
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