# taz.de -- Choreografie zu Vivaldi: Zu Zeiten out of control
       
       > Vom Zerbrechen der „natürlichen“ Ordnung erzählt ein Tanzstück von Anne
       > Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga. Deutschlandpremiere war in
       > Berlin.
       
 (IMG) Bild: Lav Crnčević, José Paulo dos Santos und Boštjan Antončič in „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“
       
       Diese vier Männer auf der Bühne, mit sportlichen Hosen, langen
       transparenten Shirts, die Brusthaare und Muskulatur sehen lassen, man kann
       sie sich auch als Teil einer Basketballmannschaft denken. Tatsächlich
       kommen die vier manchmal in einem Kreis zusammen, ein kurzes Gruppenritual
       schweißt sie zusammen. Aber das ist nur eines von den vielen Bildern, die
       in diesen Tanzabend eingestreut sind.
       
       Die [1][Choreografie stammt von Anne Teresa De Keersmaeker] und Radouan
       Mriziga. Ihr Stück „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ (Der Prozess
       der Harmonie und der Erfindung) hatte in Brüssel Premiere und wurde nun im
       [2][Haus der Berliner Festspiele], einem von vielen Co-Produzenten, an zwei
       Abenden gespielt und tourt nun weiter durch Europa.
       
       Radouan Mriziga, 1985 in Marokko geboren, ist eine Generation jünger als De
       Keersmaeker und hat an der von ihr gegründeten Choreografen-Schmiede
       P.A.R.T.S in Brüssel studiert. Gemeinsam haben sie sich den Zyklus der
       flirrenden Violinkonzerte „Die vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi
       vorgenommen. Klassischen Musikstücken einen neuen Rezeptionsraum zu
       schaffen, der ihre Abnutzung vergessen lässt, ist eine der Stärken von
       [3][De Keersmaeker.]
       
       Der Bühnenraum ist extrem nüchtern, begrenzt von dunklen Wänden, gegliedert
       von Neonröhren. Anfangs flackern sie rhythmisch, bevor der Tanz beginnt. Es
       ist eine kalte und künstliche Welt, fern der Natur. Und es ist sehr lange
       und oft still in diesem Bühnenraum, die Musik begleitet den Tanz nur
       abschnittsweise. Über lange Passagen hinweg kommen Takt, Rhythmus und
       Phrasierung allein aus der Bewegung der Tänzer.
       
       Boštjan Antončič beginnt mit einem Solo in dämmerndem Licht. Die lyrischen
       und gedehnten Bewegungen, die ausdrucksstarken Armgesten, das Hinaussehnen
       in eine unbekannte Weite unterbricht er für Momente mit aufstampfenden
       Füßen und profanen Schritten.
       
       ## Durchkreuzen der Erwartung
       
       Dieses Durchkreuzen einer Bewegungssprache, das Aufbrechen der Spannung und
       Erwartung, die sie beim Zuschauenden erzeugt, zieht sich durch die
       Choreografie. Sie ist bewusst nicht aus einem Guss. Erfindungsreicher
       Breakdance ist zu erleben, eine komödiantisch aufgeladene Tapdance-Nummer,
       Sport und Competition blitzen auf, Urban Dance und zeitgenössisches Ballett
       verbinden sich.
       
       Das ist nicht nur abwechslungsreich, sondern steht oft auch in einem
       Spannungsverhältnis [4][zur Musik von Vivaldi]. Nur in einigen Passagen
       trägt sie die Tänzer, lassen sie sich von ihren Wirbeln in Kreise und
       Drehungen spülen, eins mit ihrer Umgebung, die Harmonie genießend. Meist
       aber ist das, was die Körper erzählen, eine eigene Geschichte, die vor und
       nach dem Musikeinsatz weitergeht.
       
       Die vier Tänzer Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José
       Paulo dos Santos können sich in diesem Konzept auch in ihrer Individualität
       entfalten. Nassim Baddag, der sich nicht nur auf den Füßen, sondern vor
       allem auch auf dem Kopf und den Händen dreht und über die Schulter rollt,
       bezaubert durch die Weichheit und Zartheit in diesem artistisch
       herausfordernden Streetdance-Stil. Lav Crnčević unterlegt seine höchst
       romantischen Gesten, das taumelnde Glück in Spiralen und Pirouetten mit
       einem leicht ironischen Unterton – und manchmal bellt er ein bisschen. José
       Paulo dos Santos packt in seine bockbeinigen Sprünge am meisten von der
       Energie eines Fußballers.
       
       Der Zyklus der „Vier Jahreszeiten“ beginnt hier mit Herbst und Winter und
       endet auch dort wieder. Der Sommer dazwischen endete mit Bildern der
       Betrunkenheit und des Torkelns, die Hosen um die Fußgelenke gerutscht, out
       of control. Der zweite Herbst beginnt verkatert. Dies ist keine Feier der
       Jahreszeiten mehr, ihr Zyklus nicht mehr der zuverlässige Lieferant einer
       Struktur.
       
       Am Ende ist ein Gedicht von Asmaa Jama zu hören, eine trauernde Klage über
       das Ausbleiben der von der Erde selbst herbeigesehnten Jahreszeiten. Allein
       der Text zum Schluss ist mehr eine nachdenkliche Zugabe: In der
       vorausgegangenen Zeit wurde dies als Thema nicht besonders deutlich.
       
       De Keersmaeker und Mriziga arbeiten mit einer [5][Einspielung der Konzerte
       von Amandine Beyer und deren Ensemble Gli Incogniti]. Schon durch die
       begrenzte Auswahl der Stücke und dem Gegenhalten der Stille bilden sie
       nicht mehr ein Kontinuum ab. Was dem Barock als „natürliche“ Ordnung galt,
       ist zerbrochen. Das nimmt man dann doch aus diesem Tanzabend mit.
       
       22 Oct 2024
       
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