# taz.de -- Roms vergessene Architektin: Rehabilitierung einer Baukünstlerin
       
       > Plautilla Bricci war die erste Architektin der Neuzeit. Doch sie wurde
       > vergessen. Melania Mazzucco verleiht ihr nun literarisch eine Stimme.
       
 (IMG) Bild: Der Zufall rettete ihre Entwürfe. Plautilla Bricci: Skizze für die Villa Vascello, 1663
       
       Von einer Frau, noch dazu auf dem Baugerüst, nahm der capomastro Beragiola
       keine Anweisungen entgegen. Da half nur der Gang zum Notar. Mit einem
       sechsseitigen Leistungsverzeichnis erzwang Plautilla Bricci die pünktliche
       und getreue Ausführung ihres Entwurfs der Villa am westlichen Stadtrand von
       Rom. Und sie verlangte von dem renitenten Bauleiter die Anrede mit
       architettrice, Architektin: ihre Schöpfung aus der männlichen
       Berufsbezeichnung architettore. Eine Revolution.
       
       Es war ein extravaganter Entwurf. Die 47-jährige Architektin ersann das
       Landhaus für Abt Benedetti in Gestalt eines auf einem Felsen gestrandetem
       Segelschiff. Der steil aufragende Schiffsbug mit Galionsreling schien
       furchtlos auf den Petersdom zu zusteuern. Wie ein Disney-Schloss musste den
       Zeitgenossen die „Il Vascello“, „Das Schiff“ genannte Villa Suburbana auf
       dem Gianicolo-Hügel erschienen sein. Keine schlechte Idee, um sich in Szene
       zu setzen. Benedetti war schließlich Diplomat des mächtigen Sonnenkönigs.
       
       Das war 1663. Für knapp zwei Jahrhunderte als Kuriosität in allen
       Romführern erwähnt und mehrfach illustriert, setzte Kanonenfeuer während
       der Revolution von 1849 ihrem Ruhm abrupt ein Ende. Nur der künstliche
       Felsen mit dem eingemeißelten Wellenspiel, ein von Bernini inspiriertes
       Motiv, hat überlebt. Die Villa geriet in Vergessenheit – wie ihre geniale
       Baumeisterin Plautilla Bricci. Die Historiografie hatte noch kein Interesse
       an Künstlerinnen.
       
       Es bedurfte einer Feministin mit der Passion für Kunstgeschichte wie
       [1][Melania G. Mazzucco,] um die erste Baumeisterin des Barocks aus dem
       Dunkel der Archive zu befreien. Ihre fiktive Biografie „L’architettrice“
       war 2019 eine Sensation in Italien. Mit der Übersetzung versucht nun der
       Folio Verlag das deutschsprachige Publikum zu erobern: „Die Villa der
       Architektin“.
       
       Wie konnte die erste Architektin der Neuzeit vergessen werden? Das fragte
       sich die römische Erfolgsautorin, als sie 2002 zufällig bei einer Recherche
       zu der Villengeschichte über den Namen Plautilla Bricci stolperte. „Ich
       entdeckte, dass so gut wie nichts über ihr Leben bekannt war.“ Die Suche
       nach einer Antwort ließ sie über ein Jahrzehnt Archive und Museumsdepots
       durchforsten, Nachlässe, Kataster und Skizzenbücher auswerten, um den
       verborgensten Winkel ihrer Existenz zu ergründen.
       
       ## Kein Platz für Frauen
       
       Daraus entstand ein historischer Roman von epischer Kraft. Mazzucco lässt
       die Protagonistin, ein Mädchen aus dem Volk, persönlich ihr Leben erzählen.
       Dabei schwenkt sie wie mit der Kamera durch das Rom des 17. Jahrhunderts,
       eine Stadt voller barocker Kunstfreude und archaischer Gewalt, in der
       Heerscharen von Handwerkern und Künstler um Aufträge und Ruhm am Papsthof
       buhlen. Den Frauen hingegen scheint nur ein Platz hinter den Mauern
       zugewiesen zu sein.
       
       Dennoch gelingt es Plautilla, sich den Weg von der Malerei zur sublimen
       Kunst der Architektur zu erkämpfen – bis etwa 1900 eine absolute
       Männerdomäne. Als erste Frau entwirft und baut sie eine Villa und eine
       Kapelle, sie dirigiert Künstler wie Pietro da Cortona, nimmt an
       öffentlichen Ausschreibungen teil und wird Ehrenmitglied der berühmten
       Kunstakademie San Luca. Sie unterhält ihre eigene Werkstatt mit einem
       Gehilfen und kann von ihren Einkünften leben.
       
       Plautilla kommt 1616 als drittes Kind einer mittellosen Künstlerfamilie in
       Rom zu Welt. Wie bei anderen Malerinnen der Zeit erfolgt ihre erste
       Ausbildung in der väterlichen Werkstatt. Der gichtkranke Giovanni Briccio,
       ein erfolgloses Multitalent, gibt seiner Tochter früh eine solide
       humanistische Bildung und führt sie in die Techniken des Zeichnens und
       Malens ein, die er bei Federico Zuccari und Cavalier d’Arpino erlernt hat.
       
       Da Plautilla das Aktstudium verwehrt ist, stürzt sie sich auf religiöse
       Themen, auf Andachtsbilder, die leichter Absatz finden und zu ihrem
       konstruierten Image als „virtuose Jungfrau“ passen. Denn um zukünftig
       freier arbeiten zu können – Frauen dürfen unbegleitet kaum das Haus
       verlassen –, legt sie ein Keuschheitsgelübde ab.
       
       ## Franzosen waren aufgeschlossener
       
       Die entscheidende Wende bringt die Bekanntschaft mit dem einflussreichen
       Abt Elpidio Benedetti. Als Faktotum und Kunstagent von Premierminister
       Jules Mazarin, später dann auch für Ludwig XIV., pendelt der Geistliche
       zwischen der römischen Kurie und Paris und vermittelt Künstler wie Bernini
       für die Neugestaltung des Louvre.
       
       Die Förderung einer Frau ist kein Zufall, denn die französischen Zirkel
       sind aufgeschlossen, nicht zuletzt dank der Mutter des Sonnenkönigs, die
       die Bewegung der „Femmes fortes“ unterstützt. Elpidio versorgt Plautilla
       mit Aufträgen und macht sie zu seiner Hausarchitektin.
       
       Erste Bauerfahrung sammelt sie beim komplexen Umbau seines Stadtpalasts in
       der Via del Monserrato, der heute noch steht. Ihr Hauptwerk wird die
       besagte Villa del Vascello mit Fresken von Pietro da Cortona und einem
       Lustgarten. Nunmehr als Architektin respektiert, darf sie die Kapelle des
       Landesheiligen in der französischen Nationalkirche S. Luigi dei Francesi
       planen und bauen, ein wahres Barockmanifest aus Stuck und polychromen
       Marmor. Für eine bessere Beleuchtung des Altarblatts mit dem heiligen
       Ludwig lässt sie sogar die Kirchenmauer durch Glasfenster ersetzen. Die
       Kapelle wird die letzte Ruhestätte von Elpidio.
       
       Unklar ist, wo sie ihre Architektenausbildung machte, die damals in den
       Werkstätten der großen Baumeister wie Bernini oder Pietro da Cortona
       erfolgte. Frauen waren gelegentlich als Arbeiterinnen auf Bauhütten tätig,
       zur Unterstützung des Familienbetriebs. Frauen in Führungspositionen waren
       jedoch undenkbar.
       
       Mathematikverständnis und dreidimensionales Denken wurde ihnen ebenso
       abgesprochen wie die Fähigkeit, eine Mannschaft von Maurern zu dirigieren.
       Ihre künstlerische Tätigkeit sollte innerhalb von geschlossenen Räumen
       stattfinden, sie beschränkte sich folglich zumeist auf Kunstgewerbe und
       Miniaturen.
       
       ## Demütigungen durch Kollegen
       
       Plautillas Karriere verläuft nicht ohne Demütigungen. Zuweilen nutzt
       Elpidio ihre unterlegene Position, um sich selbst vor dem Arbeitgeber zu
       profilieren. So präsentiert er ihre Entwurfsvorschläge für das Grabmonument
       von Kardinal Mazarin als die eigenen. Ein Rätsel, warum er in seinem 1676
       publizierten Villenführer nicht Plautilla, sondern ihren mediokren Bruder
       als alleinigen Architekten zitiert. Basilio hingegen arbeitete unter ihrer
       Ägide. Fürchtete er, der Nachwelt als zu progressiv zu erscheinen?
       
       Als hätte sie es geahnt, lässt sie in den Grundfesten der Villa eine Platte
       mit ihrem Namen eingravieren. Der Zufall rettete eine Abschrift, das
       Lastenheft und ihre Entwürfe.
       
       Die Historiografen schrieben später ihre Werke entweder Basilio zu oder
       ignorierten sie. Auch ihre produktiveren Kolleginnen [2][Artemisia
       Gentileschi] und Lavinia Fontana [3][wurden vergessen.] Keines dieser
       Existenzmodelle hat Schule gemacht, sie blieben Einzelkämpferinnen.
       Mazzucco hat aber noch eine andere Erklärung: „Plautilla hatte weder Erben
       noch Schüler. Außerdem waren die Franzosen unter Mazarin und dem
       Sonnenkönig verhasst in Rom.“ Die „falschen“ Auftraggeber also.
       
       Die im Roman auftauchenden Namen, Fakten, Daten sind historisch, postuliert
       Mazzucco im Nachwort. „Natürlich können Fakten unterschiedlich
       interpretiert werden “, räumt die Autorin ein. Zwischen dem Abt und
       Plautilla spinnt sie eine heimliche Liebesbeziehung, „weil er sie im
       Testament bedachte, wie es gewöhnlich Prälaten mit ihren Kurtisanen
       machten: mit einem lebenslangen Wohnrecht“.
       
       ## Die Forschung ist angelaufen
       
       Mit der Präzision einer Historikerin verwebt Mazzucco das Leben der
       Künstlerin mit dem der Stadt. Die Biografie gewann 2020 den
       Silvia-Dell’Orso-Preis als bestes populärwissenschaftliches Buch und regte
       zu einer Ausstellung im Palazzo Corsini an, wo erstmals ihre Werke gezeigt
       wurden. Auch die Forschung läuft seitdem auf Hochtouren: Weitere Bilder
       wurden entdeckt, und ihr Todesjahr konnte von 1705 auf November 1692
       korrigiert werden.
       
       Inzwischen erhielt ein Weg in der Villa Pamphili ihren Namen. Führungen
       durch die Altstadt zeigen ihre wenigen erhaltenen Werke und zahlreichen
       Lebensstationen, die sich zwischen den Gassen des Tridente, Borgo und von
       Trastevere abspielten. Die Kirche scheint weniger Eile zu haben, die
       vergessene Künstlerin zu rehabilitieren.
       
       Ihr Madonnenbild in Santa Maria in Montesanto hatte bis vor Kurzen nicht
       einmal eine aktualisierte Beschriftung. „Dabei entdeckte die
       Restauratorin bereits 2016 die wahre Geschichte des hochverehrten
       Altarblatts“, erzählt Mazzucco.
       
       Nicht besser sieht es in der Kapelle in San Luigi dei Francesi aus, an der
       Hunderte von Besuchern täglich vorbeilaufen, um die [4][Caravaggio-]Gemälde
       zu sehen. Hier ist „P. Bricci“ angegeben, „als könne man nicht glauben,
       dass es sich um eine Frau handelt“. Es ist nicht leicht, Spuren Plautillas
       in der Ewigen Stadt zu finden. Einen würdigen Platz in der Stadtgeschichte
       gibt ihr bisher nur der Roman.
       
       15 Sep 2024
       
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