# taz.de -- Bildungswende in Brandenburg: Praxis ohne Schock
       
       > Um den Lehrer*innenmangel zu lindern, experimentiert Brandenburg mit
       > einem praxisorientierten Studienmodell für Grundschulen – mit Erfolg.
       
 (IMG) Bild: Ausprobieren, üben, basteln: Bianca Wagner (l.) und Alexandra Schapp in einer der Lernwerkstätten auf dem BTU-Campus in Senftenberg
       
       Senftenberg taz | Manchmal kann Bianca Wagner es selbst noch nicht so ganz
       fassen: „Dass ich eines Tages mal studieren würde, hätte ich wirklich nicht
       gedacht.“ Die 34-Jährige sitzt vor der Mensa der Brandenburgischen
       Technischen Universität (BTU) in Senftenberg. Entlang der Wege über den
       Campus stehen kniehoch die Blühwiesen, einige Studierende schlendern
       zwischen den Gebäuden.
       
       Wagner hat seit ihrem Schulabschluss schon einiges gemacht: in der Gastro
       gejobbt, Kinder im Cheerleading trainiert, eine Ausbildung zur Erzieherin
       abgeschlossen. Vor einem Jahr dann sieht sie auf Instagram Werbung für
       einen neuen Studiengang für Grundschullehramt in Senftenberg, eine knappe
       Dreiviertelstunde mit dem Auto von ihrem Wohnort entfernt. Sie bewirbt sich
       – und schon bald darauf studiert sie an der BTU Deutsch und Mathe für
       Grundschulen.
       
       Bianca Wagner gehört zusammen mit rund 60 weiteren Studierenden zum ersten
       Jahrgang des Bachelor-Studiengangs an der BTU. Senftenberg, eine
       Mittelstadt im äußersten Süden Brandenburgs, ist damit seit einem Jahr
       neben Potsdam der einzige Ort in dem Bundesland, an dem
       Grundschullehrer*innen ausgebildet werden.
       
       Laut [1][Zahlen] des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und
       Sozialökonomie (FiBS) fehlen bis 2035 bundesweit 16.000
       Grundschullehrkräfte. Allein in Brandenburg [2][rechnet die
       Kultusministerkonferenz der Länder (KMK)] mit einem Bedarf von 5.300
       Grundschullehrer*innen bis 2035. Für das neue Schuljahr wurden an
       öffentlichen Grundschulen in dem Bundesland rund 1.150 Lehrkräfte
       eingestellt, mehr als die Hälfte allerdings befristet. Die Schulämter haben
       weiterhin große Schwierigkeiten, alle Stellen zu besetzen – insbesondere im
       ländlichen Raum.
       
       ## Hohe Abbruchquoten
       
       Angesichts dieser angespannten Situation ist der Lehramtsstudiengang in
       Senftenberg ein Versuch, genau hier Abhilfe zu schaffen. Doch um mehr
       Lehrkräfte auszubilden, reicht es nicht, einfach zusätzliche Studienplätze
       zu schaffen. Mindestens genauso wichtig ist, dass die Studierenden ihr
       Studium abschließen und ein Referendariat absolvieren. Die
       [3][Abbruchquoten beim Lehramt] sind hoch.
       
       Deshalb versuchen die Verantwortlichen in Senftenberg, die angehenden
       Lehrer*innen behutsam an die Schule als Arbeitsort heranzuführen – und
       so den Praxisschock abzumildern, den viele Studierende erleiden, wenn sie
       das erste Mal vor einer Klasse stehen. „Praxisintegriert“ heißt dieses
       Studienmodell für den Bachelor. Unter anderem verbringen die Studierenden
       in den ersten beiden Semestern für jeweils 9 Wochen einen festen Tag an
       einer Grundschule in der Region. Begleitet wird der Einsatz von
       wöchentlichen Reflexionssitzungen.
       
       „Wir konfrontieren unsere Studierenden nicht mit einem Praxisblock, sondern
       brechen das Praktikum in kleine Schritte auf“, erklärt die
       Erziehungswissenschaftlerin Juliane Noack Napoles. Sie leitet den
       Studiengang und hat ihn maßgeblich mitgestaltet. „Praxisintegriert“ bedeute
       nicht, dass man viel mehr praktische Inhalte habe als andere Unis, fügt sie
       hinzu: „Aber wir gehen anders heran.“
       
       ## Praxisteile erhöht
       
       In vielen Punkten ähnelt dieses Modell bereits einem dualen Studium. Ab
       2026 – pünktlich zum Abschluss des ersten Bachelor-Jahrgangs – wird es in
       Senftenberg dann einen dualen Master geben. Dafür werden Studium und
       Referendariat miteinander verbunden, also voraussichtlich die Praxisanteile
       im Master erhöht und der Übergang ins Referendariat erleichtert.
       
       Die genauen Rahmenbedingungen und die Gestaltung des neuen Studiengangs
       werden zurzeit in einem sogenannten Werkstattprozess erarbeitet. „Zentrales
       Motiv für das duale Studium ist: Es gibt explizit zwei Lernorte: die Uni
       und die Schule“, sagt Professorin Noack Napoles. Die Studierenden arbeiten
       dabei langfristig an einer Schule und erhalten eine Vergütung aus
       Landesmitteln.
       
       Damit zeigt sich auch in Brandenburg der bundesweite Trend, die strikte
       Trennung von Theorie und Praxis, von Studium und Referendariat aufzuheben.
       Duale Master sind dabei ein Novum. Die Kultusministerkonferenz hatte erst
       vor Kurzem für diese Modelle als Ergänzung zum traditionellen
       Lehramtsstudium geöffnet. In mehreren Bundesländern wie etwa
       [4][Baden-Württemberg], [5][Thüringen], [6][Sachsen-Anhalt] und
       [7][Schleswig-Holstein] starten nun zum Wintersemester duale oder
       praxisintegrierte Studiengänge. Die KMK hofft, so „gezielt weitere
       Zielgruppen für ein Lehramtsstudium zu gewinnen“.
       
       In Senftenberg scheint das zu funktionieren: Für Bianca Wagner und ihre
       Studienkollegin Alexandra Schapp war die Aussicht auf den dualen Master ein
       wichtiger Anreiz, überhaupt das Studium anzufangen. „So haben wir nur
       während der drei Bachelor-Jahre eine finanzielle Durststrecke. Danach schon
       Geld zu verdienen und an einer Schule zu arbeiten ist eine gute
       Perspektive“, sagt die 43-jährige Schapp. Auch Bianca Wagner nennt den
       dualen Master einen „absoluten Pluspunkt“.
       
       ## Zweifel am dualen Modell
       
       Doch manche Forscher*innen haben Zweifel an dem dualen Modell. So auch
       der Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel von der Universität
       Oldenburg. Idel bildet seit fast zwanzig Jahren angehende Lehrkräfte aus.
       Er begrüßt alternative Ideen fürs Studium, weist jedoch auf Fallstricke
       hin: „Die neueren Programme sind darauf ausgerichtet, möglichst rasch Leute
       in die Schule zu bringen und damit die Unterrichtsversorgung
       sicherzustellen. Dabei muss aber der Wissenschaftscharakter der
       Lehrkräftebildung aufrechterhalten werden“, sagt Idel, der in Oldenburg das
       Institut für Pädagogik leitet.
       
       Bei den Praktika wiederum komme es darauf an, dass die Lehrkräfte, die die
       Studierenden begleiten, entsprechend geschult werden: „Einfach mal im
       Unterricht mitlaufen und das dann nachmachen ist nicht bereits eine
       professionalisierte Lehrkräftebildung“, warnt Idel. Er stellt infrage, ob
       das Praktikum zum Studienstart überhaupt sein müsse: „Das erste Semester
       könnte auch eins sein, an dem die Studierenden sich erst mal im Studium
       einfinden.“
       
       Zurück nach Senftenberg: Studentin Bianca Wagner konnte der Einsatz an der
       Schule nicht abschrecken. Durch die Ausbildung zur Erzieherin war sie es
       gewohnt, mit Kindern zu arbeiten. „Ich sehe das sehr positiv, dass wir von
       Anfang an so viel Praxis machen. Für mich persönlich könnte es sogar noch
       mehr sein“, sagt Wagner. Doch für unerfahrenere Kommiliton*innen sei
       es besser, langsam herangeführt zu werden.
       
       Nicht nur bei der ersten Berührung mit dem Schulsystem will man in
       Senftenberg behutsam sein. Auch die Gestaltung des Studiums soll Raum
       bieten, sich auszuprobieren, und die Studierenden nicht überfordern,
       erklärt Leiterin Juliane Noack Napoles. Sie steht auf einem Gang im
       Institutsgebäude. Bis vor Kurzem waren hier noch die Maschinenbauer
       untergebracht; seit einem Jahr befinden sich hier die
       Erziehungswissenschaften.
       
       „Eine Besonderheit des Studiengangs ist, dass alles unter einem Dach
       passiert“, betont Noack Napoles. So möchte sie die Vereinbarkeit der Fächer
       erhöhen.
       
       Im ersten Jahr wurden Deutsch und Mathematik angeboten; ab diesem
       Wintersemester kommen die Fächer Englisch sowie Sachunterricht dazu. Dann
       soll sich auch die Zahl der Studienanfänger*innen verdoppeln und pro
       Wintersemester bei 120 liegen. Im Moment gibt es keine
       Zulassungsbeschränkung. Ab dem Wintersemester 2025/26 soll es zudem möglich
       sein, in Kombination mit dem jeweiligen Erstfach Mathe oder Deutsch auch
       Kunst, Sport und Musik für Grundschulen zu studieren.
       
       Tatsächlich haben bisher nur wenige Studierende das Studium abgebrochen.
       Das unterstreicht auch Alexandra Schapp: „Es ist ein kleiner Studiengang,
       man kennt sich, und es wird nicht ausgesiebt.“ Schapp hat wie auch Wagner
       schon ein Kind. Das Studium sei gut mit der Familie vereinbar, sagt sie:
       „Wir kriegen viel Zeit fürs Selbststudium und wenig Druck.“
       
       Juliane Noack Napoles freut sich über solche Erfahrungsberichte. Sie zeigen
       ihr, dass ihr Konzept erfolgreich ist: „Wir wollen zeigen, dass Lernen
       nicht nur Arbeit bedeutet und schweißtreibend ist.“
       
       ## Zum Erzählen ermuntern
       
       Eine Schlüsselrolle spielen dabei die sogenannten Lernwerkstätten. Noack
       Napoles führt durch einen Eckraum mit hohen Fenstern. Mitten im Zimmer
       befindet sich eine Sitzgruppe mit Sofas, entlang der Wände stehen eine
       Schreibmaschine, ein Set für Linolschnitte, eine Siebdruckstation,
       Equipment für Kalligrafie. Die Arbeit in den Werkstätten ist ein fester
       Bestandteil des Studiums.
       
       „Es heißt immer: Man soll ganz viele Methoden anwenden. Hier können die
       Studierenden das schon mal üben“, sagt Noack Napoles.
       
       Bianca Wagner und Alexandra Schapp nutzen dieses Angebot häufig. Zuletzt
       haben sie etwa eine Unterrichtseinheit im sogenannten Kompetenzbereich
       Sprechen und Zuhören vorbereitet. Die Idee: ein Morgenkreis mit den
       Schüler*innen nach den Sommerferien. Dafür hat Wagner einen „Fühlsack“
       an der Nähmaschine hergestellt, in den Gegenstände kommen, die die
       Schüler*innen ertasten sollen. Das soll sie zum Erzählen ermuntern.
       Schapp hat dafür unter anderem einen kleinen Sonnenschirm mit dem
       3-D-Drucker angefertigt.
       
       Für solche kreativen Aufgaben seien die Lernwerkstätten gut geeignet, sagt
       Wagner. Sie weist aber auch darauf hin, dass kaum eine Schule so gut
       ausgestattet sei: „Da haben wir oft noch Kreidetafel, Overheadprojektor und
       CD-Spieler. Das war’s.“
       
       12 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.fibs.eu/fileadmin/user_upload/images/Leistungen/FiBS-Forum_79_Lehrkraeftebedarf_240301_final.pdf#page=15
 (DIR) [2] https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok_238_Bericht_LEB_LEA_2023.pdf#page=49
 (DIR) [3] /Lehrermangel/!5943187
 (DIR) [4] https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/duales-lehramtsstudium-kommt-als-modellversuch
 (DIR) [5] https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/news/news-detail/duales-studium-fuer-das-regelschullehramt-startet-zum-wintersemester-2024-25-an-der-universitaet-erfurt
 (DIR) [6] https://mwu.sachsen-anhalt.de/artikel-detail/uni-magdeburg-startet-modellversuch-fuer-ein-praxisintegriertes-lehramtsstudium
 (DIR) [7] https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/themen/bildung-hochschulen/lehrkraeftesh/QuerSeiteneinstieg/documents/dualSonderpaedagogik.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanno Fleckenstein
       
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