# taz.de -- Fest auf dem Berliner Breitscheidplatz: Auf der Suche nach Europa
       
       > Kartoffelbällchen sind auf dem Breitscheidplatz genauso Thema wie
       > Bevölkerungsdichten. Zwischen lauter Buden mag man Europa kulinarisch
       > oder politisch finden.
       
 (IMG) Bild: Europa, symbolisch aufgefangen mit ein paar Sternen
       
       Ein paar dunkle Wolken hängen noch am Himmel über dem Berliner
       Breitscheidplatz. Gerade ist ein schöner Regenguss niedergegangen, schön
       jedenfalls für solche Menschen, die einen Schirm dabeihatten, und im
       Rinnstein der Tauentzienstraße schwimmen die weißlich leuchtenden
       Blütenblätter des Japanischen Perlschnurbaums.
       
       Bei der Gedächtniskirche haben hölzerne Buden sich aufgebaut, fast so, als
       wäre schon Weihnachtsmarkt, nur ohne jeden Lichter- oder anderen Glamour.
       Bei der nüchternen Installation handelt es sich um, so verraten an
       Bauzäunen befestigte Transparente, das „Europafest“. Hinter dem Zaun, der
       den Orga-Bereich abschirmt, lugt ein riesiges Weihnachtsmannbild hervor,
       denn sicherlich wäre es zu aufwändig, den großen Lkw, den es schmückt,
       stets passend zur Gelegenheit neu zu dekorieren.
       
       Worin genau hier dieses Europa zu finden ist, das gefeiert werden soll,
       erschließt sich nicht sofort. Kulinarische Genüsse aus vielen europäischen
       Ländern verspricht die Event-Ankündigung, doch so genau genommen wird es
       damit nicht. Ungarische Langos gibt es, die frittierten Hefefladen, und
       französische Crêpes. Ich entdecke auch ein Angebot von holländischem
       [1][Kibbeling] auf der Karte eines Standes, der sich multilingual „Bacalao
       Fish and Chips“ nennt. Direkt daneben gibt es jamaikanisches „Jerk
       Chicken“, ein nepalesisches „Momo-Haus“ und einen Stand mit peruanischen
       [2][Papas rellenas]. Willkommen in Europa, amigas! Die gefüllten
       Kartoffelbällchen hätten mich im Prinzip reizen können, aber ich bin
       bereits am Langos-Stand schwach geworden, habe mir die Variante empfehlen
       lassen, die „am ungarischsten“ ist und fühle mich im Magen nicht so recht.
       
       Die schlecht gelaunte Langos-Braterin hatte mir nicht verraten wollen,
       worin das Spezielle des speziellen Hefeteigs genau besteht („Das ist
       Betriebsgeheimnis!“), als ob ich Gastro-Spionin mir nicht jederzeit im
       Internet zweihundert Rezepte herunterladen könnte.
       
       Die am authentischsten ungarische Variante besteht jedenfalls darin, den
       fetttriefenden Brotfladen mit Knoblauchpaste sowie einer Soße aus saurer
       Sahne zu beschmieren. Dann wird das Ganze mit sehr viel Käse bestreut.
       Natürlich schmeckt das himmlisch, wie auch nicht? Fett ist der beste
       Geschmacksverstärker.
       
       Zur Anregung der metabolischen Prozesse verfestige ich meine Schritte,
       beschließe, den Platz zügig einmal ganz zu umrunden, und finde auf der
       anderen Seite der Gedächtniskirche doch noch Europa: Auf großen Schautafeln
       werden hier die Mitgliedsländer der EU einzeln porträtiert, was auf den
       ersten Blick ganz hübsch, aber bei genauer Betrachtung auch ein bisschen
       seltsam ist. Offenbar liegt diesem Straßenfest gar kein kulturelles, auch
       kein geografisches, sondern ein rein politisches Konzept von „Europa“
       zugrunde? Ach, schade. Eigentlich hätte es mich zum Beispiel interessiert,
       zu erfahren, ob Finnland wirklich das europäische Land mit der geringsten
       Bevölkerungsdichte ist (dort leben laut Schautafel nur 16 Personen pro
       Quadratkilometer) oder nicht doch eigentlich Island. Ein schneller Blick
       ins Internet bestätigt den Verdacht: Gerade einmal vier Menschen teilen
       sich auf Island einen theoretischen Quadratkilometer. Zum Vergleich: In den
       Niederlanden sind es (laut Schautafel) 423; Deutschland liegt mit 237 ein
       gutes Stück dahinter.
       
       Zwischen den Schautafeln von Estland und den Niederlanden übrigens gerät
       der zügige Schritt unweigerlich ins Stocken. Über den Leerraum, der hier
       gelassen wurde, läuft eine zu Bronze geronnene Blutspur: Sie ist Teil des
       Mahnmals für die dreizehn Menschen, die im Zusammenhang mit dem
       [3][Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016] ums Leben kamen.
       
       Sie stammten aus sechs verschiedenen Ländern: aus Deutschland, Israel,
       Italien, Polen, Tschechien und der Ukraine. Seit jenem Datum wird jedes
       Fest auf dem Breitscheidplatz nur noch hinter viele Meter dicken, viele
       Tonnen schweren Lkw-Sperren begangen. Es fühlt sich eigenartig an. Aber
       auch das ist Europa.
       
       27 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kibbeling
 (DIR) [2] https://en.wikipedia.org/wiki/Papa_rellena
 (DIR) [3] /Jahrestag-des-Breitscheidplatz-Anschlags/!5903247
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Granzin
       
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