# taz.de -- Psychologie des Grübelns: Raus aus dem Gedankenkarussell
       
       > Beim Grübeln tauchen Gedanken immer wieder auf, ohne zu einer Lösung zu
       > führen. Unsere Autorin versucht sich an den Strategien ihrer Therapeutin.
       
 (IMG) Bild: Beim Grübeln schwingen oft Vorwürfe mit, die von einem zu hohen Anspruch an sich selbst kommen
       
       Es ist 1.32 Uhr, und ich gucke mit halb geöffneten Augen auf eine weiße
       Wand. Es ist nicht kalt in meinem Zimmer, trotzdem friere ich.
       Wahrscheinlich, weil ich so müde bin. Was soll das hier eigentlich, denke
       ich schlecht gelaunt. Ich könnte gerade in meinem warmen Bett liegen und
       tropischen Ameisen beim Nestbau zusehen. Oder nordfriesischen Wildgänsen
       bei der Paarung. Mein Geheimtipp aus den vergangenen Monaten: die Doku „Die
       Eifel und ihre Eulenhüter“. Die Erzählerin hat eine beruhigende Stimme, ich
       schlafe im Schnitt nach zweieinhalb Minuten ein.
       
       Arte-Tierdokus helfen, wenn mein Kopf mal wieder keine Ruhe finden will und
       sich stattdessen mit Fragen beschäftigt wie: Fand der Freund der Freundin
       meines Freundes mich komisch, letztens auf der Party, als ich viel zu
       betrunken war? Warum habe ich nicht mehr Sport getrieben in letzter Zeit?
       Und überhaupt, mache ich eigentlich genug aus meinem Leben?
       
       Als ich meiner Therapeutin von meinen Gedanken erzähle, hat sie sofort eine
       Diagnose parat. „Herzlichen Glückwunsch, Sie sind eine grandiose
       Grüblerin.“ Statt mir eine Goldmedaille um den Hals zu hängen, drückt sie
       mir eine Liste mit dem Titel „Grübelstoppstrategien für Zuhause“ in die
       Hand.
       
       Habituelles Grübeln, also Grübeln als Gewohnheit, wird im Englischen als
       rumination bezeichnet. Das wiederum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet
       „[1][wiederkäuen]“. Ähnlich wie bei der Kuh die Nahrung, kommen beim
       Grübeln bestimmte Gedanken immer wieder hoch – ohne zu einer Lösung zu
       führen. Samy Egli, Psychologe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in
       München, spricht von drei Kriterien, die Grübelgedanken erfüllen müssen, um
       als solche zu gelten: Sie sind unkontrollierbar, abstrakt und negativ.
       
       Wenn man die Kontrolle darüber verliert, worüber man sich Gedanken macht,
       und zugleich merkt, dass die Fragen zu abstrakt sind, um sie zu
       beantworten, sorgt das für schlechte Stimmung. Dieser Prozess wird auch
       dysfunktionales Grübeln genannt. Nimmt es Überhand, kann es zu einem großen
       Problem werden. „Grübeln kann als wesentliche Ursache und gleichzeitig als
       Symptom einer Depression gelten“, erklärt Egli. Das Prinzip dahinter: Wenn
       es mir schlechter geht, dann grübele ich mehr, und wenn ich mehr grübele,
       dann geht es mir schlechter – ein Teufelskreis.
       
       Nach Angaben der Deutschen Depressionshilfe erkranken 5,3 Millionen aller
       Erwachsenen in Deutschland im Laufe eines Jahres [2][an einer depressiven
       Störung]. Frauen erhalten die Diagnose doppelt so häufig wie Männer. Die
       Zahl der Menschen, die unter regelmäßigem dysfunktionalen Grübeln leiden,
       ist nicht bekannt, könnte laut Egli aber noch höher liegen. Exzessives
       Grübeln erhöht zudem das Risiko für andere psychische Erkrankungen und kann
       zu Angst- und Schlafstörungen führen.
       
       ## Grübeln nur an ungemütlichen Orten
       
       Das Einschlafen fällt mir oft schwer, so auch heute Nacht. Also befolge ich
       den Ratschlag meiner Therapeutin – „Niemals an einem Ort grübeln, den Sie
       schön finden!“ – und verlasse schnell mein Bett. Der Stuhl, auf dem ich nun
       sitze, steht direkt an meiner Zimmerwand, meine Knie reiben an der rauen
       Tapete und schmerzen. Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen. Klingt
       ungemütlich? Gut so, das soll es sein. An genau so einem ungemütlichen Ort
       soll ich mir bewusst 15 Minuten Zeit fürs Grübeln nehmen, steht auf meiner
       Liste.
       
       Heute auf der Grübelagenda: Warum melde ich mich eigentlich so wenig bei
       meinen Großeltern? Sie sind einsam, mittlerweile sehr alt, und ich bin ihre
       älteste Enkelin. Ich bin ein egoistischer Mensch und ein fauler noch
       dazu, sagt mir mein grübelndes Ich.
       
       Dass diese Gedanken vor dem Einschlafen aufkommen, liegt daran, dass man
       sich nachts nicht so leicht ablenken kann wie tagsüber. Oft entkoppeln sich
       Grübelgedanken von dem Kontext, zu dem sie eigentlich gehören. Statt also
       an die Großeltern zu denken, während man den nächsten Besuch plant oder
       sich alte Familienfotos ansieht, verknüpft sich der Gedanke mit einem neuen
       Auslöser wie dem Schlafengehen.
       
       Anders als bei Sorgen, die sich auf Ereignisse beziehen, die in Zukunft
       geschehen könnten, geht es in der Grübelei hingegen meist um die Frage,
       warum eine Situation in der Vergangenheit so und nicht anders verlaufen
       ist.
       
       Edward Watkins, Psychologe an der University of Exeter, hat dazu eine Regel
       formuliert: Wer funktional nachdenkt, stellt Wie-Fragen. Zum Beispiel: „Wie
       kann ich es beim nächsten Mal anders machen?“. Wer dysfunktional grübelt,
       stellt Warum-Fragen wie: „Warum musste mir das passieren?“. Letztere sind
       abstrakt und hypothetisch und nicht auf eine Antwort ausgelegt. Stattdessen
       schwingen Vorwürfe mit, die meist von einem zu hohen Anspruch an sich
       selbst kommen. „Ich sollte eigentlich besser sein, es ist nicht gut genug
       so, wie ich das mache.“
       
       Nach fünf Minuten vor der weißen Wand habe ich keine Lust mehr. Meine Augen
       brennen, und mir ist schwindelig. Ich stehe auf und gehe auf die Toilette.
       Wann hat das überhaupt alles angefangen, frage ich mich, während ich meine
       Stirn an die kalten Badfliesen lehne.
       
       In welchem Alter Menschen anfangen zu grübeln, ist unklar. „Möglicherweise
       beginnt es in dem Alter, in dem sich Kinder die Denkstrategien von ihren
       Eltern und anderen Bezugspersonen abschauen“, sagt der Psychologe Samy
       Egli. Dass das Grübeln vorwiegend als Problem der jungen Generation gilt,
       habe auch mit den zunehmenden Vergleichsmöglichkeiten zu tun. Vor allem
       soziale Medien seien dabei ein Faktor. Egli spricht vom sogenannten
       Auswahlparadox, das besagt: Je mehr Auswahl wir haben, desto
       unzufriedener sind wir.
       
       Studien belegen, dass Frauen mehr grübeln als Männer. Psycholog:innen
       haben dafür unterschiedliche Begründungen. Zum einen, sagt Egli, sei das
       Risiko für Depressionen und auch, wie intensiv Gefühle wahrgenommen werden,
       ein Stück weit genetisch bedingt.
       
       Zum anderen spiele es eine große Rolle, wie wir im Laufe unseres Lebens
       lernen, mit Problemen und Herausforderungen umzugehen. Da das
       gesellschaftlich etablierte Bild von Weiblichkeit immer noch vorsieht,
       dass Frauen mehr Anteil an den Nöten anderer nehmen als Männer, werden sie
       von klein auf ermutigt, ihre Gefühle zuzulassen und auszudrücken. Zudem
       grübeln manche Menschen mehr als andere, weil sie in ihrem Leben mehr
       soziale Belastungen erfahren, die ihnen Anlass dazu geben.
       
       ## 15 Minuten sind lang, wenn man bewusst grübeln soll
       
       Dass ich womöglich gesellschaftlich dazu erzogen wurde, mir nachts Gedanken
       über unwichtige Typen oder meinen Körper zu machen, frustriert mich. Und
       doch finde ich mich immer öfter auf dem Stuhl vor der Wand wieder. 15
       Minuten habe ich es noch nie durchgehalten, meistens gehe ich vorher und
       mit schlechter Laune zurück ins Bett.
       
       Die Frage: „Bin ich mit der Lösung meines Problems vorangekommen?“, steht
       auf der Liste meiner Therapeutin. Meine ehrliche Antwort: Nein. „Bin ich
       weniger selbstkritisch geworden?“, steht dort als nächstes. Auch nicht.
       „Habe ich etwas verstanden, das mir vorher noch nicht klar war?“ Nun, denke
       ich, vielleicht hat meine Therapeutin mit einer Sache recht: An einem
       ungemütlichen Ort höre ich tatsächlich irgendwann freiwillig mit dem
       Grübeln auf.
       
       29 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Die-Wahrheit/!5991905
 (DIR) [2] /Umgang-mit-Depressionen/!5846418
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Federl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Zukunft
 (DIR) Depression
 (DIR) psychische Gesundheit
 (DIR) Psychotherapie
 (DIR) Psychologie
 (DIR) Psychologie
 (DIR) Schlafentzug
 (DIR) ADHS
 (DIR) Zukunft
 (DIR) psychische Gesundheit
 (DIR) Kolumne Schnelle Brille 
 (DIR) Paris
 (DIR) Schizophrenie
 (DIR) psychische Gesundheit
 (DIR) Kolumne Starke Gefühle
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Psychiater über Otrovertierte: „Manche Leute gehen mit einem Alien-Gefühl durchs Leben“
       
       Oft ist in der Psychologie von Introvertierten und Extrovertierten die
       Rede. Psychiater Rami Kaminski will einen dritten Typus identifiziert
       haben.
       
 (DIR) Neuer Psychologie-Podcast „Mind Date“: Risikofrei betrunken
       
       Im Podcast „Mind Date“ erforschen Timon Krause und Hannah Reiss das
       menschliche Gehirn. Statt großer Analysen gibt es partytaugliche
       Erklärungen.
       
 (DIR) Schlafstörungen: Wütend auf den eigenen Schädel
       
       Was macht man, wenn man nachts im Bett liegt und einfach nicht einschlafen
       kann? Unsere Kolumnistin hat schon alles probiert – vergeblich.
       
 (DIR) ADHS im Erwachsenenalter: Ein Leben, das unmöglich schien
       
       Unsere Autorin hatte viele Jahre lang Depressionen. Bis sie erkennt, dass
       diese nur eine Folge sind: von ADHS.
       
 (DIR) Dankbarkeit für die Psyche: Finger in die Luft!
       
       Wenn man sich freut, soll man den Zeigefinger hochstrecken und laut
       „Delight“ rufen. Ist das Quatsch oder hilfreich?
       
 (DIR) Psychische Gesundheit bei Minderjährigen: Depressive Jugend
       
       Bei Kindern und Jugendlichen ist jede fünfte Krankenhausbehandlung auf eine
       psychische Erkrankung zurückzuführen – vor allem Depressionen nehmen zu.
       
 (DIR) Woher kommt das Ekelgefühl?: Das widerliche Reich der Männer
       
       Unsere Kolumnistin arbeitete als Putzkraft und merkte, dass sie sich nicht
       vor allem gleich ekelte. Ist Ekel selektiv?
       
 (DIR) Filmdoku über Psychiatrie: Um den Rest von Freiheit kämpfen
       
       Zugewandtheit und Widerständigkeit: Nicolas Philiberts Dokumentarfilm
       „Averroès & Rosa Parks“ widmet sich einer psychiatrischen Klinik in Paris.
       
 (DIR) Placebos: Heimlicher Star der Psychiatrie
       
       Placebos können bei verschiedensten psychischen Erkrankungen so effektiv
       sein wie Medikamente mit Wirkstoffen. Das zeigt jetzt eine neue Studie.
       
 (DIR) Therapeutin über seelische Gesundheit: „Fitness-Studio für die Psyche“
       
       Das ehrenamtliche Bremer Projekt Brynja schlägt mit Gruppenangeboten wie
       fairem Raufen oder Winterbaden eine Brücke zwischen Therapie und Alltag.
       
 (DIR) Mental Health Coaches: Psychologische Aufklärung jetzt!
       
       Das Familienministerium hat ein Modellprogramm gestartet, mit dem es die
       mentale Gesundheit von Schüler*innen stärken will. Na endlich.