# taz.de -- Nachfolge als Ministerpräsident: Estlands Dilemma
       
       > Kristen Michal soll Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas ersetzen.
       > Dabei erbt er ein tiefgreifendes Problem.
       
 (IMG) Bild: Zielstrebig, gut organisiert und ambitioniert: Kristen Michal
       
       Es sei ein offenes Geheimnis, dass er den Job schon lange wollte. „Seine
       Ernennung bezeichnen viele seit Jahren als unausweichlich“, schreibt das
       estnische Nachrichtenportal Postimees. Die Rede ist von Kristen Michal,
       voraussichtlich nächster Ministerpräsident Estlands. Vor einigen Tagen hat
       er sich in die Niederungen der Regierungsbildung begeben. Nötig geworden
       war dieser Schritt, weil seine Vorgängerin [1][Kaja Kallas] sich anschickt,
       den Chefdiplomaten der EU, Josep Borrell, zu beerben.
       
       Der 48-jährige gebürtige Tallinner, der als äußerst zielstrebig, gut
       organisiert und ambitioniert beschrieben wird, schloss ein Studium der
       Sozialwissenschaften ab und legte auch noch einen Master der Universität
       Tallinn in Jura nach.
       
       Seine politische Karriere startete Michal, Reserveoffizier der estnischen
       Streitkräfte und verheirateter Vater dreier Söhne, 1996. Da trat er in die
       liberale Reformpartei ein, die aktuell in einer Koalition mit den
       Sozialdemokraten und der ebenfalls liberalen Eesti 200 die
       Regierungsgeschäfte führt. 2005 wurde er ins estnische Parlament
       (Riigikogu) gewählt, dem er auch in der Zeit von 2012 bis 2015 angehörte.
       
       Am 6. April 2011 wurde Michal zum Justizminister ernannt. Das Intermezzo
       währte jedoch gerade einmal 20 Monate, weil der sogenannte
       Plastikbeutel-Skandal dazwischenkam. Bei diesem ging es um Geldwäsche und
       illegale Parteienfinanzierung – dubiose strafbewährte Betätigungen, in die
       auch Michal verwickelt gewesen sein soll. Er musste schließlich
       zurücktreten.
       
       ## Nur 7 Prozent vertrauen ihm
       
       2015 wurden die Vorwürfe jedoch aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.
       Offensichtlich haben viele Est*innen diese Ereignisse jedoch nicht
       vergessen. Laut einer aktuellen Umfrage des estnischen Unternehmens Kantar
       Emor antworteten auf die Frage, ob sie Michal vertrauten, nur 7 Prozent der
       Befragten mit Ja.
       
       Seine Parteikolleg*innen waren offensichtlich schon damals weniger
       zimperlich. Denn die unschöne Episode tat dem Fortkommen Michals, der außer
       seiner Muttersprache Estnisch auch noch Englisch, Finnisch, Deutsch und
       Russisch spricht, keinen Abbruch. Von 2015 bis 2016 stand er dem
       Ministerium für Wirtschaft und Infrastruktur vor, seit Mai 2023 war er
       Minister für Klimafragen – das Ministerium musste er von Grund auf neu
       aufbauen. Ende Juni wurde Michal auf einer Pressekonferenz gefragt, welches
       seine Stärken seien, die ihn von Kaja Kallas unterscheiden. Antwort Michal:
       Jede/r Regierungschefin habe einen eigenen Stil, aber er könne von allen
       seinen Vorgänger*innen viel lernen. Er werde versuchen, sein Ding
       durchzuziehen.
       
       Doch das dürfte so einfach nicht werden, steht doch der Neue vor einem
       veritablen Dilemma. Einerseits steht auch für Michal vor dem Hintergrund
       des Kriegs in der Ukraine die [2][„Sicherheit Estlands“] ganz oben auf
       Prioritätenliste. Hinzu kommen Hilfen für die Ukraine, die nicht zur
       Disposition stehen.
       
       Beides zusammen erfordert jedoch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben
       (schon jetzt 3,43 Prozent des BIP), was auch durch eine zeitlich befristete
       Kriegssteuer für alle finanziert werden soll. Andererseits weist der
       estnische Staatshaushalt ein Defizit auf. Schon jetzt hat Michal seine
       Landsleute auf Einsparungen eingeschworen, was bei vielen nicht gut
       ankommt.
       
       Ihm in die Quere kommen könnte auch Staatschef Alar Karis. Der will sich
       künftig mehr in die Innenpolitik einmischen. Was das heißt, war im Juni zu
       beobachten. Da weigerte sich Karis, ein Gesetz über die Besteuerung von
       Autos zu verkünden, da dieses angeblich gegen die Verfassung verstoße.
       
       18 Jul 2024
       
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