# taz.de -- Sein, was man isst: Identität als Hauptspeise
       
       > Früher ging es beim Essen hauptsächlich darum, satt zu werden. Heute ist
       > das Kulinarische auch eine Frage der Gruppenzugehörigkeit.
       
 (IMG) Bild: Essen exklusiv und immer verfügbar
       
       „Der Mensch ist, was er isst.“ Dieses Zitat des Philosophen Ludwig
       Feuerbach (1804–1872) hat seit etwas über 150 Jahren einen festen Platz in
       allen möglichen Aphorismensammlungen. Es ist eben ein schönes und
       prägnantes Wortspiel. Seit einigen Jahren aber wird in der Wissenschaft
       diskutiert, ob sich hinter dem Bonmot nicht auch eine eigene Philosophie
       verstecken könnte.
       
       Vor allem der Hamburger Philosoph Harald Lemke interpretiert das
       Feuerbach’sche Zitat als Gegenthese zu René Descartes „Cogito ergo sum“
       (Ich denke, also bin ich) und erster radikaler Kritik an einer Philosophie,
       die über Jahrhunderte Seele, Geist und Verstand über Körper, Bauch und
       Gefühl gestellt hat.
       
       Ob Lemke recht hat? Interessant ist auf jeden Fall die neue Perspektive auf
       die sechs Worte. Sie entspricht einem neuen Zeitgeist. Fragen der
       Ernährung, des Stoffwechsels, der Diätetik haben in den westlichen
       Gesellschaften eine hohe Aufmerksamkeit bekommen. Davon kann man sich
       überzeugen, wohin man auch schaut, egal ob auf den Buchmarkt, Fernsehen,
       Radio, Podcasts oder in andere Medien.
       
       [1][Koch- und Dinner-Formate] sind im TV längst ein eigenes Genre so wie
       Krimis, Naturdokus oder Talkshows. Und in den sozialen Medien publizieren
       Millionen von Menschen tagtäglich Fotos vom Inhalt ihrer Teller und Töpfe,
       werden unzählige alte und neue Diäten diskutiert. Für viele ist es zu einer
       lebensentscheidenden Frage geworden, ob sie sich vegetarisch, [2][vegan],
       mit Fleisch, ohne Kohlenhydrate (low carb), wie in der Steinzeit oder mit
       Slow Food ernähren. Und dabei jagt ein Trend den anderen.
       
       ## Geschmacksempfinden gestört
       
       Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich vergleicht das Phänomen mit dem
       Aufkommen des Designs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals empfanden
       viele Kulturkritiker, aber auch Architekten und Gestalter die
       durchschnittliche Qualität von Häusern, Möbeln oder Geschirr als ziemlich
       dürftig. Sie machten sich Sorgen, dass die Menschen durch schlechtes Design
       nicht nur in ihrem Geschmacksempfinden gestört würden, sondern insgesamt so
       verrohen, dass letztlich die gesamte Gesellschaft in einen Zustand der
       Verwahrlosung geriete.
       
       1907 wurde der Deutsche Werkbund mit dem Ziel gegründet, Kriterien für ein
       verantwortungsvolles Design zu entwickeln. Es begann das Nachdenken über
       Warenästhetik, über die „gute Form“ im Doppelsinn des Wortes – die
       Gestaltung sollte ästhetisch wie moralisch gleichermaßen einwandfrei sein.
       
       Mehr als hundert Jahre später geht es um das „gute Essen“, und gut ist
       dabei am wenigsten eine Sache des Geschmacks. Dafür geht es neben all den
       Fragen um Gesundheit, Körper und Selbstoptimierung auch um Identität,
       Gruppenzugehörigkeit und Distinktionsgewinn.
       
       Bestes Beispiel ist die Auster, in den Großstädten aktuell Trendfood der
       Generation Z, von der wir eigentlich dachten, sie würde die erste ernsthaft
       vegetarische Generation der westlichen Überflussgesellschaft werden. Was
       heißt es, wenn die nun eine dekadente Reichenmuschel in sich
       hineinschlürft, ein Tier, das noch lebt und von dem man gerade nicht weiß,
       ob es der oder die Auster ist, weil sie ihr Geschlecht wechseln kann. Lesen
       wir es einfach als größt anzunehmender ausgestreckter Mittelfinger.
       
       ## Dem Körper was Gutes tun
       
       Die politische Dimension ist allerdings nichts, was einem Trend zu
       Langlebigkeit verhilft, eher trifft das Gegenteil zu. Sehr gut beobachten
       ließ sich das während und nach der Pandemie. Zu Zeiten hoher Inzidenzraten
       entdeckten viele Menschen die Biosupermärkte. Andere Wege, sein Geld
       auszugeben, gab es kaum.
       
       Mit dem Bioeinkauf versprachen sich viele, ihrem Körper was Gutes zu tun.
       Und die Branche wie auch viele in der Politik hofften, dass damit ein
       großer Schritt hin zur Ernährungswende verbunden sei. Nach der Pandemie und
       mit Beginn des Angriffs Putins auf die Ukraine kam der Rollback, die
       Discounter wurden zu Kriegsgewinnlern. Das Argument der (persönlichen)
       Ernährungssicherheit – früher Hunger – ist stark und wird in Deutschland
       immer noch am Geldbeutel gemessen.
       
       Die Wiener Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler kartiert schon seit
       einiger Zeit die kulinarischen, gastronomischen und diätetischen Trends der
       westlichen Welt in einem jährlichen Foodreport für das Zukunftsinstitut in
       Frankfurt am Main. Es ist längst eine enzyklopädische Arbeit geworden, der
       ein dickes Glossar über Begrifflichkeiten (von „Brutal Lokal“ über
       „[3][Snackification]“ bis zu „Veganmania“ und „Zero Waste“) entsprungen
       ist.
       
       Die Gesamtschau ergibt: Es formt sich eine Transformation. Die große
       Richtung ist: Internationalisierung der Zubereitungsarten, bei Produktion
       und Anbau der Lebensmittel dagegen wird Regionalisierung großgeschrieben.
       Was zum Beispiel bedeutet, dass man in Berlin wie selbstverständlich
       Caprese, eine ganz typische italienische Vorspeise, im Restaurant bekommt –
       Tomaten, Basilikum und sogar der Büffelmozzarella kommen aber aus dem nahen
       Umland in Brandenburg.
       
       ## Vergessene Kochtraditionen wiederentdecken
       
       Ein weiterer Trendcluster ist die Vegetarisierung der Gerichte. Nicht nur,
       weil immer mehr Menschen verstehen: Die Fleischlastigkeit der heutigen
       Ernährung ist auf dem Hintergrund der Klimakrise die eigentliche Gefahr für
       die weltweite Ernährungssicherheit. „Nachhaltigkeit“, schreibt die
       Ernährungswissenschaftlerin Rützler in der eben erschienenen jüngsten
       Ausgabe des Reports, „ist die zentrale Herausforderung, der sich unser
       gesamtes Ernährungssystem von der Landwirtschaft bis zur Gastronomie
       stellen muss. Und auch wenn Greenwashing an manchen Stellen nicht zu
       übersehen ist, beobachte ich viele überzeugende Entwicklungen, sich dieser
       Herausforderung ehrlich zu stellen.“
       
       Interessant auch: Parallel zur Wertschätzung von „plant-based food“
       entwickelt die Esskultur auch ein postkoloniales Bewusstsein. Bei der Suche
       nach dem „guten Essen“ werden auf dem amerikanischen Kontinent wie auch in
       Afrika derzeit indigene, oft vergessene Küchentraditionen wiederentdeckt:
       Rezepte, Zutaten, Zubereitungsweisen.
       
       Längst findet das auch ein Echo in Europa. Im September dieses Jahres etwa
       wird die ghanaische Köchin Selassie Atadika, das Gesicht der „neuen
       afrikanischen Küche“ in Berlin zu Gast sein. Es ist nicht nur
       Geschichtsarbeit mit dem Magen, diese Küchen enthalten Ansätze für eine
       Esskultur, die sowohl lokal als auch saisonal geprägt ist und damit
       nachhaltiger und zukunftsfähiger als der westliche Ernährungsstil.
       
       21 Jul 2024
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörn Kabisch
       
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