# taz.de -- Neues Buch von Michel Foucault: Am Ende der Tradition
       
       > Ein Manuskript aus dem Nachlass des Philosophen: Michel Foucault über den
       > „Diskurs der Philosophie“ und das Denken des Heute.
       
 (IMG) Bild: Michel Foucault, der einflussreichste postmoderne Philosoph, ist 1984 gestorben
       
       Im laufenden Kafka-Jahr wurde oft an Max Brods Weigerung erinnert, der
       Forderung seines Freundes nachzukommen und alle nachgelassenen Manuskripte
       zu verbrennen. Der Literaturgeschichte ist so ein Werk des zu Lebzeiten
       kaum bekannten Autors erhalten geblieben, dessen Verlust man sich kaum
       vorstellen will.
       
       [1][Als der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault im Juni
       1984 an Aids starb], war er schon weltberühmt und sein veröffentlichtes
       Werk immens und in vielen Sprachen zugänglich. Die testamentarische
       Anweisung [2][„Keine posthumen Veröffentlichungen“] hat Nachlassverwalter
       und Familie einige Jahrzehnte lang gebunden, aber dann haben die große
       Nachfrage einerseits und die Einschätzung des öffentlichen Interesses
       andererseits die Autorintention übertrumpft.
       
       Inzwischen gehören die meisten Manuskripte, Notizen und Mitschriften den
       staatlichen französischen Archiven, waren der Forschung ohnehin schon
       zugänglich und finden nun [3][in stetigem Strom in sorgfältig editierter
       Form ans Licht].
       
       ## Im Jahr 1966
       
       Mit „Der Diskurs der Philosophie“ gelangt ein fertiggestelltes, aber gleich
       aufgegebenes Manuskript an die Öffentlichkeit, an dem Foucault im Sommer
       und Herbst 1966 gearbeitet hatte, kurz nachdem „Die Ordnung der Dinge“
       erschienen war.
       
       Dieses Buch, das seinen Ruf als eines der originellsten Denker seiner
       Generation begründete und dem ein erstaunlicher Erfolg auch beim breiteren
       Publikum beschieden war, hatte mit seiner These vom „Ende des Menschen“ zu
       Polemiken und scharfen Auseinandersetzungen geführt, die unter anderem als
       frühe Vorboten der intellektuellen Debatte über die „Postmoderne“ ab Anfang
       der 1980er Jahre verstanden werden können.
       
       Der Nachlasstext, stilistisch etwas spröder und schmuckloser als die
       veröffentlichten Schriften Foucaults dieser Zeit, bearbeitet ein im
       früheren Buch berührtes, aber ausgespartes Problem. Nun wird die dort
       skizzierte und methodisch eigenwillige Geschichte oder „Archäologie“ des
       Wissens, die er an einigen empirischen Wissenschaften illustriert hatte,
       auf die westliche neuzeitliche und moderne Philosophie als Disziplin und
       Tradition angewendet.
       
       Man hätte sich eine griffige Antwort Foucaults auf die ewige Frage „Was ist
       Philosophie?“ wünschen können und eine Explikation seiner eigenen
       theoretischen Praxis gleich mit, aber so einfach macht er es uns und sich
       auch in diesem Text nicht. Philosophie, wie wir sie kennen, so die
       historische These, lässt sich überhaupt nur als diskursive Figuration
       begreifen, die ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in einer allgemeinen
       Umbruchszeit der Wissens- und Schreibformen entstanden ist und sich als
       eigenständige Reflexionsweise mit bestimmten Regeln und systematischen
       Optionen gebildet hat; im Werk von Descartes wird sie mustergültig
       entwickelt.
       
       ## „Architektur der Möglichkeiten“
       
       Die Philosophiegeschichte seither, so versucht Foucault in einem
       detailversessenen, auf unzählige Positionen anspielenden Narrativ zu
       zeigen, ist eine systematisch oder formal darstellbare endlose Kombination
       von Möglichkeiten, den Weg zum sicheren Wissen zu begründen und abzuleiten.
       
       Eine ihr angemessene Geschichtsschreibung kommt ohne die Bemühung der
       Lebensgeschichten oder genialen Einfälle der Philosophen aus, sie
       beschreibt formal, gewissermaßen von außen, die „Architektur der
       Möglichkeiten“ des Denkens.
       
       Diese Einheit gerät, so die zeitdiagnostische These, in eine Krise, die zum
       einen mit dem Namen Nietzsche verbunden ist und zum anderen mit den gegen
       Vernunft und Einheit skeptischen Tendenzen der Nachkriegszeit sowie
       wissenschaftlichen Entwicklungen etwa in der Linguistik und Ethnologie
       einhergehen, die sich nicht mehr im Rahmen der Philosophie bewegen und doch
       zu ihren Themen beitragen, aber auf eine alternative, dezentrierte Weise.
       
       Damit führt das wissenshistorische Narrativ selbst genau mitten hinein ins
       Jahr 1966 und Foucaults eigene Auseinandersetzung mit dem Denken seiner
       Zeit und mit dem Strukturalismus, und der gedrängte Schreibstil des Textes
       verweist auf eine Überfülle impliziter Bezugnahmen und Positionierungen,
       von denen viele erst über die Kommentierung der Herausgeber transparent
       werden. Faszinierender als diese fast schon verbissen wirkenden Manöver
       sind zwei etwas disparat wirkende Motive vom Anfang und Ende des
       Manuskripts.
       
       ## Ein Denken der Gegenwart
       
       Zu Beginn behauptet Foucault recht apodiktisch, in ihrer langen Geschichte
       sei Philosophie eigentlich immer ein Denken der Gegenwart gewesen, noch in
       ihren verwissenschaftlichsten Varianten sei sie selbst immer eine Form
       gewesen, sich über sich selbst in einem bestimmten Moment und Raum
       Rechenschaft abzulegen, und damit ein Denken des Heute, selbst wo es sich
       ganz überzeitlich präsentiert.
       
       Dieses Motiv kennen Foucault-Leser aus seinen allerletzten Texten, in denen
       er diese Beschreibung zu einem emphatischen Leitmotiv seiner eigenen Arbeit
       macht, in denen aber die Frage, ob das noch Philosophie ist oder etwas
       anderes, fast gar keine Rolle mehr spielt.
       
       Ähnlich endet das Manuskript mit Überlegungen zur Wissenskultur seiner Zeit
       und denkt unter dem Titel des „Diskurs-Archivs“ darüber nach, was es
       bedeutet, dass eine Epoche wie die seinige eine fast vollständige Sammlung
       und Verwaltung seiner Wissensbestände und damit des Gesagten und Sagbaren
       zur Verfügung hat, und wie sich die Prozesse der Thematisierung oder
       „Diskursivierung“, das heißt des Auftauchens im Raum des Sagbaren,
       verlässlich erforschen lassen.
       
       Auch hierfür spielt die Philosophie selbst als Diskurs gar keine besondere,
       höchstens eine exemplarische, illustrierende Rolle. Es ist verführerisch
       (und sicherlich etwas zu simpel), sich vorstellen, wie Foucault genau an
       diesem Punkt dieses Manuskript zugleich beendet und für überflüssig
       gehalten haben könnte.
       
       ## Ein brillanter Zwischenschritt
       
       Denn in seinem nächsten Buch, der „Archäologie des Wissens“ von 1969, wird
       er eine Art generalisierte, allgemeine Diskurstheorie oder Diskursanalyse
       entwickeln, die zugleich noch philosophisch, aber auch schon etwas ganz
       anderes ist, eine Methode, um eine Kultur zu verstehen, in der sich die
       etablierten Wissensformen und Medientechniken tiefgreifend wandeln und neu
       zusammensetzen.
       
       Foucaults Werk, von dessen interner Entwicklung hier, gegen den Willen des
       Autors, ein brillanter Zwischenschritt erhalten und nachvollziehbar
       geblieben ist, konnte vielleicht deshalb so einflussreich werden, weil es
       für eine Zeit nützlich war, die mit alten Gewissheiten und Traditionen
       endgültig brechen wollte, aber die Werkzeuge für diese Abwehr in den
       Waffenkammern genau dieser Traditionen gefunden hat. Diese Zeit ist auch
       noch die unsere.
       
       7 Jul 2024
       
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