# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Wenn der andere im Regen steht
       
       > Anfang Juli wählt Großbritannien. Die Tories stecken in der Krise, die
       > sozialdemokratische Labour-Partei hat gute Chancen. Doch Linke sind
       > enttäuscht.
       
 (IMG) Bild: Profitiert davon, dass es bei den Tories nicht läuft: Labour-Chef Keir Starmer beim Wahlkampf in Gillingham
       
       Es ist einfach, in Großbritannien Gründe zu finden, warum die Konservativen
       am 4. Juli abgewählt gehören. Das klingt etwa so: „Jeder weiß, dass unser
       Land nicht mehr funktioniert. Unsere Wirtschaft steckt im Chaos, wir
       kontrollieren unsere Grenzen nicht, die Kriminalität ist außer Kontrolle,
       unser Gesundheitssystem bricht zusammen, unsere Streitkräfte sind
       mangelhaft ausgerüstet, unsere Alten verrotten in schlechten
       Pflegeeinrichtungen. Derweil verfallen unsere Schulen, unsere Straßen sind
       löchrig, unser öffentlicher Verkehr ist unzuverlässig, unser Wasser ist
       verdreckt, unsere Energie ist teuer, und uns fehlen ein paar Millionen
       Wohnungen.“
       
       Das ist kein Labour-Flugblatt. Es ist die neueste Kolumne der [1][rechten
       Kommentatorin Julia Hartley Brewer im Boulevardblatt Sun], das gern die
       Behauptung pflegt, wahlentscheidend zu sein. Die Sun war lange stramm
       konservativ. Und jetzt?
       
       Der Frust der Briten nach 14 Jahren Tory-Regierung sitzt so tief, dass der
       Chef der oppositionellen Labour-Partei Keir Starmer scheinbar gar nichts
       machen muss, um haushoch zu gewinnen. Den Sun-Vorwurf „Nichts funktioniert
       mehr“ erhob auch Starmer in seinem ersten Kampagnenvideo am Mittwoch,
       direkt nachdem Premierminister Rishi Sunak von den Tories beim
       Wahlkampfauftakt im Regen stand.
       
       ## Unbeliebtes Spitzenpersonal
       
       „Das Labour-Team konnte sein Glück kaum fassen“, beschreibt [2][die linke
       Kolumnistin Polly Toynbee im Guardian] den denkwürdigen Moment, als, wie
       [3][der konservative Kolumnist Fraser Nelson im Daily Telegraph]
       rekonstruiert, die in 10 Downing Street versammelten Minister „erbleichend“
       mitansahen, „wie draußen Sunaks Anzug stetig den Regen aufsog und seine
       Worte fast vollständig in der Labour-Wahlkampfmusik um die Ecke
       untergingen“.
       
       Ist der britische Wahlkampf also schon gelaufen? So einfach ist das nicht.
       
       Keir Starmer folgte als Labour-Chef 2020 auf Jeremy Corbyn, der die Wahl
       2019 gegen Boris Johnson krachend verloren hatte. Starmer trieb den linken
       Flügel aus der Partei hinaus – Corbyn kandidiert jetzt in seinem Londoner
       Wahlkreis als Unabhängiger. Viele linke Aktivisten sind bei den Grünen
       gelandet, oder bei der propalästinensischen Workers Party. Je sicherer ein
       Labour-Wahlsieg erscheint, desto ungefährlicher erscheint es linken
       Wählern, jetzt schon mal eine Proteststimme abzugeben – gegen Keir Starmer.
       Ebenso wie auf der rechten Seite viele Konservative im Angesicht des
       Tory-Untergangs zu den Rechtspopulisten von Reform UK wechseln, wie es
       Julia Hartley-Brewer in der Sun nahelegt.
       
       Weder Sunak noch Starmer sind wirklich beliebt. Starmer war für Corbyn und
       Sunak war für Johnson, bevor beide ihre Vorgänger in die Wüste schickten.
       Linken dreht sich der Magen um, wenn Starmer dem Premier vorwirft, zu viele
       Flüchtlinge ins Land zu lassen, oder Labour „die wahre Partei des
       Patriotismus“ nennt. Starmer verspricht jetzt Wirtschaftswachstum und
       öffentliche Investitionen – genau wie Sunak.
       
       ## Kaum Unterschiede im Programm
       
       Mitte Mai enthüllte Starmer „sechs Bekenntnisse“ als „erste Schritte“ nach
       der Regierungsübernahme: Ausgabenkontrolle, Gründung eines CO2-freien
       staatlichen Energieversorgers, 40.000 zusätzliche Arzttermine pro Woche;
       eine Grenzschutzeinheit gegen Bootsflüchtlinge, mehr Nachbarschaftspolizei,
       6.500 zusätzliche Lehrkräfte.
       
       Das unterscheidet sich nur in Nuancen vom Tory-Programm. Am Freitag wurde
       Starmer [4][in einem Interview] daran erinnert, was er früher alles
       versprochen hatte und über Bord warf: Abschaffung der Studiengebühren,
       Verstaatlichung privatisierter Dienstleistungen, höhere Steuern für Reiche,
       28 Milliarden Pfund (33 Milliarden Euro) Klimainvestitionen pro Jahr. Was
       ist damit? Als Antwort eierte Starmer herum und erklärte, man müsse sich
       eben zwischen Ende der Studiengebühren und kürzeren Wartezeiten beim Arzt
       entscheiden. Er wirkte defensiv und dünnhäutig.
       
       Darin erinnert Starmer an die einstige Tory-Premierministerin Theresa May,
       die 2017 ebenfalls mit einem 20-Prozent-Vorsprung in den Wahlkampf startete
       und dann fast verlor. Ihr Glück war Labours Krise unter Corbyn. Starmers
       Glück jetzt ist der desolate Zustand der Tories unter Sunak. Für einen
       Wahlsieg dürfte das reichen. Aber auch fürs Regieren?
       
       24 May 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.thesun.co.uk/news/28099777/labour-tories-election-julia-hartley-brewer/
 (DIR) [2] https://www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/may/23/labour-election-battle-keir-starmer-rishi-sunak
 (DIR) [3] https://www.telegraph.co.uk/news/2024/05/23/sunak-playing-risky-game-by-making-campaign-presidential/
 (DIR) [4] https://x.com/SkyNews/status/1793920212414120412
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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