# taz.de -- Gewerkschaften gegen Wohnungsnot: „Städtebau sozial und für alle“
       
       > Tausende bezahlbare Wohnungen baute die gewerkschaftliche Gehag vor 100
       > Jahren – trotz Krise. Bauhistoriker Steffen Adam fordert davon eine
       > Neuauflage.
       
 (IMG) Bild: Wohnhäuser in der Carl-Legien-Siedlung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg
       
       taz: Herr Adam, wir haben uns in der Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer
       Berg verabredet, benannt nach dem großen Gewerkschaftsführer. An der
       Fassade vor uns prangt ein riesiger Gehag-Schriftzug samt Baujahr:
       1929–1930. Mittlerweile ist der Sozialbau Unesco-Welterbe. Was macht ihn so
       besonders? 
       
       Steffen Adam: In der Wohnstadt Carl Legien erlebt man, wie bis heute
       weltweit gewohnt wird. Seit dem 20. Jahrhundert haben alle Wohnungen eine
       gewisse gleiche Grundstruktur: kleine Flure, von denen man alle Räume
       erreichen kann, ein eigenes Bad, Küche und Balkon. Man wollte den
       schlechten Wohnverhältnissen der Kaiserzeit etwas entgegensetzen, zum Wohle
       breiter sozialer Schichten.
       
       Und die Wohnstadt ist ein erstes Beispiel dafür? 
       
       Die [1][Unesco hat 2008 mit den sogenannten Siedlungen der Berliner
       Moderne] eine Entwicklungsreihe ausgewählt: Beginnend mit der Gartenstadt
       Falkenberg von 1913, über die Siedlung am Schillerpark, die
       Hufeisensiedlung Britz, hin zur innerstädtischen Wohnstadt Carl Legien, die
       für gemeinschaftliches Grün die Straßenbreiten minimiert. Dem folgen die
       Weiße Stadt in Reinickendorf und schließlich die Siemensstadt – diese sind
       im typischen Zeilenbau konzipiert. Drei Siedlungen davon hat die Gehag
       errichtet.
       
       Wenn man über die Prenzlauer Allee hierherspaziert, fällt der
       architektonische Bruch direkt ins Auge. Im Stadtteil stehen die alten
       Mietskasernen dicht an dicht, [2][die Wohnstadt Carl Legien wirkt
       aufgelockert]. 
       
       Der Anstoß dafür kam damals vom Direktor der AOK, Albert Kohn. Die
       Krankenkasse lies die alten Wohnungen untersuchen und stellte fest: Die
       Mehrzahl waren zu nass, die Bewohner*innen darin wurden krank. Etliche
       mussten die Ärzte gleich in die Charité bringen lassen, so schlimm war das.
       Die AOK erklärte den hygienischen Wohnungsbau zur Präventivmedizin: Licht,
       Luft und sanitäre Einrichtung in jeder Wohnung. Architekten wie Bruno Taut,
       der Chefarchitekt der Gehag, haben diese Forderungen begeistert
       aufgenommen.
       
       Jetzt haben sie mit [3][Bruno Taut schon einen wichtigen Kopf der Gehag
       genannt. Ein anderer war Martin Wagner], Stadtbaurat von Schöneberg und
       später von Berlin. Was war das für ein Typ? 
       
       Wagner war Architekt und linker Sozialdemokrat. Er wollte den Städtebau
       wirklich sozial und für jedermann organisieren. Als Stadtbaurat hat er
       tollste Entwürfe von Architekten bekommen. Er soll dann immer gefragt
       haben: Was kostet das? Und wenn die Architekten selbst nicht darauf kamen,
       hat er es ihnen vorgerechnet. Zusammen mit dem Gewerkschaftschef August
       Ellinger hat er 1924 dann mit der Gehag eine eigene Wohnungsbaugesellschaft
       gegründet.
       
       Die Zwanziger waren ein Jahrzehnt der Wirtschaftskrisen. Erst
       Hyperinflation, dann Börsencrash und Weltwirtschaftskrise. Wie konnte die
       Gehag trotzdem günstig bauen? 
       
       Dafür muss man noch einmal etwas zurückgehen. Gleich nach dem Ersten
       Weltkrieg waren Wagner und Ellinger Fürsprecher der sogenannten
       Bauhüttenbewegung geworden: Bauarbeiter*innen sollten sich
       organisieren und ihre eigenen Betriebe, sogenannte Bauhütten, gründen –
       nicht um privatwirtschaftliche Gewinne zu erwirtschaften, sondern nur den
       Lohn. Die Gewerkschaften unterstützen diese sozialen Baubetriebe
       finanziell. Ab 1920 kauften sie auch Baustoffproduktionen, Ziegeleien, und
       Wälder. Damit konnte die Bauhüttenbewegung auf die eigenen Produkte
       zurückgreifen.
       
       Die Arbeiter*innen hatten [4][die zum Wohnungsbau notwendigen
       Produktionsmittel] also selbst in der Hand? 
       
       Genau. Das brachte Wagner und Ellinger dann auf die Idee, neben den
       Baubetrieben auch gemeinwohlorientierte Auftraggeber zu erschaffen. 1924
       gründeten sie mit der Stadt Berlin Gewerkschaften, Baugenossenschaften, AOK
       und weiteren gemeinwohlorientierten Akteuren die Gemeinnützige
       Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft – kurz: Gehag. Bis zum Ende
       der Weimarer Republik baute sie über 10.000 günstige Wohnungen.
       
       Gab es auch architektonische Kniffe, mit denen Kosten gespart wurden? 
       
       Schauen Sie beispielsweise auf diese Hausfassade entlang der Straße. Da
       fällt auf: Es gibt keinen Stuck. Der Architekt Taut hat sich stattdessen
       die Farbe zunutze gemacht. Die Fenster sind hier gelb umrandet, dort rot
       oder schwarz mit weiß. Es wirkt individuell, das war Taut immer wichtig.
       Wenn Sie jetzt mit mir einmal kurz in den Hof laufen, sehen Sie: [5][Jeder
       Hof hat eine eigene Farbe]. Wir gucken gerade auf den blauen Hof. Das
       sollte Identifikation unter den Bewohnenden schaffen.
       
       Gab es über Berlin hinaus politischen Rückhalt für den gewerkschaftlichen
       Wohnungsbau? 
       
       Ja, reichsweit hatten sich gemeinnützige Baugesellschaften gegründet. Ab
       1924 wurde der gemeinnützige Wohnungsbau durch die Hauszinssteuer
       finanziell unterstützt. Weil Immobilienbesitz während der Hyperinflation
       quasi schuldenfrei geworden war, besteuerte man ihn. Mit diesen
       Steuereinnahmen wurde auch der gemeinwohlorientierte Wohnungsbau
       subventioniert.
       
       Konnte ein späterer Berliner Stadtbaurat an Wagners Einsatz für den
       sozialen Wohnungsbau anschließen? 
       
       Nein, Martin Wagner war sehr speziell. Eher würde ich den späteren
       Gehag-Vorsitzenden Karl-Heinz Peters nennen. Nach dem Nationalsozialismus
       machte er die Gehag 1952 wieder zum großen gemeinnützigen Wohnungsbauer. In
       seiner Zeit entstanden die Gropiusstadt, Heerstraße Nord, Falkenhagener
       Feld. Das war noch einmal der Versuch, die besten Ideen der klassischen
       Moderne in die Nachkriegsmoderne zu übertragen.
       
       Welche Rolle haben da noch die sozialen Baubetriebe aus der Zeit der
       Bauhüttenbewegung gespielt? 
       
       Gar keine. Die Bauhütten wurden schon im Mai 1933 aufgelöst. Eine
       Neugründung in Nachkriegszeit erfolgte nicht, sie war weder in West noch
       Ost politisch gewollt.
       
       In Westdeutschland wurde der Siedlungsbau vor allem von [6][der Neuen
       Heimat übernommen, wiederum in der Hand des Deutschen Gewerkschaftsbunds
       DGB]. Hat die Neue Heimat etwas anders gemacht als die Gehag? 
       
       Nein, eigentlich nicht. Die Gehag hat durch ihre Geschichte natürlich immer
       viel auf ihren Standard, die Gehag-Qualität gehalten. Aber ich denke, die
       Neue Heimat hat genauso die klassische Moderne in die Nachkriegsmoderne
       übertragen, denken Sie beispielsweise an die Neue Vahr in Bremen, Hamburg
       Lohbrügge oder Neuperlach in München.
       
       … bis [7][der Spiegel 1982 aufdeckte, dass sich Vorstandsmitglieder der
       Neuen Heimat bereichert] hatten. Die gewerkschaftliche Mitwirkung am
       Wohnungsbau war in Westdeutschland am Ende.
       
       Damit geriet auch die Gehag in Schwierigkeiten. Infolge des
       Neue-Heimat-Skandals verließen die Gewerkschaften die Gehag. Sie mutierte
       zu einer reinen stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft. Dann wurde 1989 die
       Wohngemeinnützigkeit abgeschafft. Die Zeit der steuerlichen Erleichterungen
       für den gemeinnützigen Wohnungsbau war vorbei. Und als Berlin dann arm und
       sexy wurde, dachte man sich 1998 nichts dabei, die Gehag zu verkaufen.
       
       Heute sind fast alle Gehag-Siedlungen in der Hand der [8][Deutschen Wohnen.
       Die wurde wiederum 2022 von der börsennotierten Vonovia] geschluckt. Sieht
       man das der Wohnstadt Carl Legien heute an? 
       
       Es gibt hier vorne im Hof eine kleine Geschäftsstelle. Aber ansonsten sieht
       man von Privatisierung eigentlich nichts. Was den Erhalt der Substanz
       angeht: Die Siedlung Carl Legien ist ja Weltkulturerbe und hoch unter
       Denkmalschutz – dem zollt auch die gewinnorientierte Privatwirtschaft
       Tribut.
       
       Die Bauwirtschaft steckt heute in der Krise. Der Wohnungsbau ist nicht
       profitabel genug. Die Vonovia hat ihre Neubaubudgets fast vollständig
       eingestampft – während allein in Berlin rund 130.000 Sozialwohnungen
       fehlen. Braucht es eine neue Gehag? 
       
       Sie sprechen an, was ich erreichen will: Wenn sich die Gehag-Gründung am
       14. April zum hundertsten Mal jährt, organisiere ich eine
       Jubiläumsveranstaltung. Alle Organisationen und ihre Nachfolger kommen noch
       einmal zusammen, dazu das Bundesbauministerium. Ich erhoffe mir einen
       starken Anstoß, wieder einen gemeinwohlorientierten Wohnungsbau in
       Deutschland zu etablieren, den ich solidarischen Wohnungsbau nenne.
       
       Wie könnte [9][ein solidarischer Wohnungsbau heute] aussehen? 
       
       Es bräuchte einen Zusammenschluss aller gesellschaftlichen Kräfte guten
       Willens: Ich denke da an Baugenossenschaften, genossenschaftliche Banken
       und Versicherungen, die Gewerkschaften. Ich könnte mir sogar vorstellen,
       dass, anders als in der klassischen Moderne, die Kirchen und große Parteien
       wie die Grünen oder SPD dabei sind. Sie könnten ihr Parteivermögen
       vernünftig anlegen.
       
       Wäre ein breiteres Bündnis auch die Lehre aus dem Ende der Gehag? 
       
       Vielleicht war die Basis damals zu klein. Ist sie größer, könnte man sich
       besser gegen die private Bauwirtschaft behaupten. Auch Bedenken einer
       zögerlichen Verwaltung könnten gemindert werden – also all das, was wir
       heute fordern. Es wäre mal wieder Zeit, das in die Diskussion zu werfen.
       Mit den Bestrebungen des Bundesbauministeriums, die Gemeinnützigkeit im
       Wohnungsbau wieder einzuführen, wäre eine wichtige Voraussetzung
       geschaffen.
       
       Fehlen nur noch Gewerkschaften. Die müssten Sie noch überzeugen. 
       
       Natürlich hängt das auch von Persönlichkeiten ab. Charaktere kann man nicht
       in Gesetze gießen. Irgendwie erschienen die Gewerkschaften damals ganz froh
       um diesen Neue-Heimat-Skandal. Er bot die Möglichkeit, aus dem
       gemeinnützigen Wohnungsbau auszusteigen. Es braucht wieder große
       Gewerkschafter*innen – wie August Ellinger oder den Neugründer der
       Gehag Karl-Heinz Peters.
       
       12 Apr 2024
       
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