# taz.de -- Margot Friedländer verstorben: „Ich sage, seid Menschen!“
       
       > Margot Friedländer hat das Ghetto Theresienstadt, Zwangsarbeit und Hunger
       > überlebt. Bis zu ihrem Tod setzte sie sich unermüdlich für die Erinnerung
       > ein.
       
 (IMG) Bild: „Ich bin entsetzt, dass Menschen nicht gelernt haben“. Margot Friedländer war empört über das Erstarken des Antisemitismus
       
       Berlin taz | Sie war immer da. Besuchte man in Berlin eine Veranstaltung im
       Gedenken an die Shoah, dann fand sich Margot Friedländer unter den Gästen.
       Kam man eines Nachmittags zu einem Konzert in [1][Solidarität mit den
       Opfern des Hamas-Pogroms in Israel], Friedländer war schon da uns sprach
       mit dem Pianisten. Margot Friedländer ließ nichts aus, auch nicht im
       biblischen Alter von 103 Jahren. Da stand sie da, zuletzt gestützt auf
       einen Rollator, freundlich, mit großen Augen und schlohweißem Haar,
       Bekannten wie Unbekannten zugewandt, immer wieder Hände drückend, perfekt
       gekleidet und frisiert und alles andere als alt wirkend. Das
       Blitzlichtgewitter der Fotografen ließ sie ungerührt über sich ergehen.
       
       Am Freitag starb Margot Friedländer mit 103 Jahren, wie ihre Stiftung
       mitteilte. Berlin hat mit ihr seine wichtigste Zeitzeugin über die
       Verfolgung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus verloren.
       
       Bei Margot Friedländer wusste man sehr genau, dass ihre Präsenz nichts mit
       Eitelkeit zu tun hatte. Sie war eine öffentliche Person ohne Altersgrenze.
       Denn diese so überaus zuvorkommende, eher leise wirkende Person hatte vor
       80 Jahren als verfolgte Jüdin im Untergrund den Nazis widerstanden, von
       Versteck zu Versteck eilend, immer wieder in Lebensgefahr schwebend. Sie
       war von der Gestapo entdeckt und deportiert worden, hatte das Ghetto
       Theresienstadt bei schwerer Zwangsarbeit überstanden. „Die Lebenden sahen
       aus wie die Toten“, sagte sie über die Befreiung 1945. Danach hat sie wie
       fast alle jüdischen Überlebenden Deutschland verlassen.
       
       Doch seit 2010 ist sie wieder hier gewesen, in ihrer alten Heimatstadt
       Berlin. Aber nicht als pensionierte alte Dame, die die Nachmittage vor dem
       Fernseher verbrachte, nein, das gewiss nicht. Friedländer, die ihr Leben
       lang nicht an die Öffentlichkeit gedrängt hatte, trat in Deutschland vor
       Schulklassen auf. Sie erzählten Studentinnen und Studenten von ihrem Leben
       im Versteck, gejagt von der Gestapo, [2][und vom Hunger in Theresienstadt].
       Diese Berichte waren ihr Verpflichtung, ein Dienst an der Sache der
       Gerechtigkeit. Nie wieder, diese etwas in die Jahre gekommene Parole, hatte
       für Margot Friedländer eine etwas andere Bedeutung als für all diejenigen,
       die nach ihr geboren worden sind (also eigentlich alle). Denn sie hat die
       Opfer gekannt, und einige der Täter auch.
       
       ## Ein gut bürgerliches jüdisches Familienleben
       
       Margot Friedländer hatte viel zu erzählen aus ihrem Leben. Doch um zu
       wirken, genügten schon wenige Worte aus ihrem Mund, so wie diese Sätze:
       „Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches,
       kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut.“
       
       Geboren wurde Margot Friedländer 1921 als Anni Margot Bendheim in Berlin,
       der Stadt, die sie ein Leben lang geliebt hat. Ihre Mutter hieß Auguste,
       genannt Guschi und betrieb ein Geschäft für Knöpfe, der Vater Arthur
       übernahm, so wie es damals üblich war, nach der Heirat 1920 den Laden.
       Margot wuchs in einem gutbürgerlichen Haushalt auf, mit den Eltern, dem
       Kindermädchen Frieda und dem später geborenen Bruder Ralph. Man besuchte
       gerne die Oper und Konzerte und legte anfangs Wert auf einen koscheren
       Haushalt, doch Weihnachten wurde ebenso wie Chanukka gefeiert. Im Sommer
       verbrachte man schöne Tage am Scharmützelsee. Das Mädchen Margot besuchte
       zunächst die jüdische Volksschule und dann die jüdische Mittelschule.
       
       Doch jenseits der bürgerlichen Fassade bröckelte es. Die Eltern hatten sich
       auseinandergelebt. 1935 erfolgte die Trennung. Den Auszug aus der
       gemeinsamen Wohnung erlebten die Kinder als tieferen Einschnitt als die
       Machtübernahme der Nazis zwei Jahre zuvor. Später kamen Vater und Mutter
       wieder zusammen, doch trennten sich bald darauf erneut und für immer.
       
       Heutzutage verstehen viele Menschen nicht, wieso so viele Jüdinnen und
       Juden Mitte der 1930er Jahren in Deutschland geblieben und nicht geflüchtet
       sind. Doch damals konnte niemand wissen, dass die Nazis nur wenige Jahre
       später den Massenmord zu ihrem Programm machten. „Es war nicht der Mut, der
       uns fehlte, sondern die Vorstellungskraft“, hat Margot Friedländer dieses
       Beharrungsvermögen einmal genannt.
       
       ## Kein Gedanke ans Auswandern
       
       Für eine junge jüdische Frau wie Margot Bendheim gab es um 1935 durchaus
       bedrohliche Nazis, aber eben nicht nur. Da waren der Schulabschluss und der
       Ausbildungsbeginn in einer Kunstgewerbeschule, [3][später die Lehre bei
       einer Schneiderin]. Dann der erneute Umzug der Familie in eine
       herrschaftliche Wohnung mit elf Zimmern. Der erste Liebeskummer. Aber kein
       Gedanke an eine Auswanderung.
       
       Das bürgerliche jüdische Leben im NS-Deutschland besaß keinen Bestand, auch
       das der Familie Bendheim nicht. Die schrittweise Verarmung begann,
       gekennzeichnet durch Umzüge, die mit jedem Mal das bisschen Wohlstand, das
       noch geblieben war, verkleinerten. Das Geschäft des Vaters wurde
       „arisiert“. Am Ende wohnten Mutter, Tochter und Sohn in einem als
       „Judenhaus“ deklarierten Gebäude in Berlin-Kreuzberg.
       
       Erst jetzt und zu spät erkannte die Mutter, dass es um das nackte Überleben
       ging und bemühte sich um eine Emigration. Aber nun, kurz vor Ausbruch des
       Krieges, war kaum ein Land mehr zur Aufnahme verfolgter Juden bereit.
       Einreisepapiere für Brasilien entpuppten sich als Fälschungen, ein
       hilfreicher Unbekannter, der versprach, Visa für die USA zu besorgen,
       verschwand mit dem voraus bezahlten Geld. Versuche für eine Reise nach
       Schanghai und Guatemala scheiterten. Margot musste Zwangsarbeit leisten.
       Die Deportationen in den Osten begannen 1941, Auswandern war nun verboten.
       Der Vater saß in Frankreich in Haft.
       
       ## Leben im Untergrund
       
       Am 20. Januar 1943 holte die Gestapo Margots Bruder Ralph ab. Die Mutter
       gab daraufhin ihre Pläne für eine Leben im Untergrund auf und stellte sich.
       Der Tochter hinterließ sie einen Zettel. Darauf stand: „Versuche, dein
       Leben zu machen.“ Daran hat sich Margot Friedländer gehalten.
       
       Die Wohnung musste sie fluchtartig verlassen. Margot ließ sich die Haare
       rot färben. Sie fand Unterschlupf bei einem Unbekannten, doch schon bald
       drohte das Versteck aufzufliegen. Sie fand einen anderen Helfer, aber der
       verlangte bald als „Gegenleistung“ Sex von ihr. Danach übernachtete sie auf
       einem Sessel in der Wohnung eines Ehepaars. Fand ein anderes Versteck
       voller Schmutz und Ungeziefer. Bei den Luftangriffen auf Berlin durfte sie
       keinen Bunker betreten. Sie ließ an sich eine Nasen-OP bei „Nasen-Joseph“
       vornehmen, um nicht mehr so leicht erkannt zu werden. Margot Friedländer
       hatte keinen Vertrauten, keine Freundin, niemanden, geriet an immer neue
       Unterstützer aber fand doch keine wirkliche Unterstützung – bis sie
       Menschen fand, die Hitler ebenso hassten wie sie und groß auf dem
       Schwarzmarkt tätig waren.
       
       Nach einem Luftangriff war sie auf der Straße unterwegs, da tauchten
       Zivilisten auf. Es waren Gestapo-Spitzel in Zivil. Margots Tarnung flog
       auf. Im Mai 1944 erfolgte ihre Deportation. Nur 23 andere Jüdinnen und
       Juden wurden mit ihr deportiert, denn [4][außer den Untergetauchten] und
       Personen in „Mischehe“ gab es kaum mehr Menschen jüdischen Glaubens in der
       Stadt. Die Ankunft in Theresienstadt erfolgte am 6. Juni 1944.
       
       Auch das Ghetto hat Margot überlebt, trotz schwerer Zwangsarbeit. Sie
       begegnete dort einem anderen Gefangenen namens Adolf Friedländer. Sie
       erzählte: „Wir erleben die Befreiung zusammen. Ein Moment, den wir nie
       vergessen werden.“ Drei Monate später heirateten die beiden im bayerischen
       Deggendorf in einem amerikanischen Lager für die Überlebenden. Im folgenden
       Jahr landete das Ehepaar Friedlander an Bord des Truppentransporters
       „Marine Perche“ in New York, USA. Nur fort aus Deutschland.
       
       ## Rückkehr nach Berlin
       
       Dort in New York hat Margot Friedlander 64 Jahre ihres langen Lebens
       verbracht. Sie arbeitete als Reiseagentin und Schneiderin, erhielt die
       US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Ehe blieb kinderlos. 1997 starb
       ihr Mann.
       
       Sieben Jahre später kam Margot Friedländer zum ersten Mal wieder nach
       Berlin. „Da habe ich gesagt, ich bin so froh, in meiner schönen Stadt
       geboren zu sein. Ich habe mich sofort zu Hause gefühlt.“ Ein Dokumentarfilm
       wird über sie gedreht. 2008 erschien ihre Autobiografie. Und zwei Jahre
       später entschloss sich Margot Friedlander im Alter von 89 Jahren zur
       Rückkehr in ihre Heimatstadt. Sie sagte dazu: „Kein Mensch hat mich
       angeregt zu kommen. ‚Wie kannst du zurückgehen zu Tätern?‘ Wo ich ihnen
       dann sofort erklärt habe: ‚Ich gehe nicht zu den Tätern, ich gehe zu der
       dritten und vierten Generation! Es war meine Entscheidung, weil das die
       Hoffnung ist, dass es nie wieder geschieht.‘“
       
       Friedländer, nun wieder mit „ä“ geschrieben, bekam die deutsche
       Staatsbürgerschaft zurück. Für ihr Engagement erhielt sie das
       Bundesverdienstkreuz am Bande und das Bundesverdienstkreuz erster Klasse,
       ferner die Ehrendoktorwürde der FU Berlin, den Deutschen Hörbuchpreis, den
       Verdienstorden des Landes Berlin, den Walter-Rathenau-Preis und noch einige
       Würdigungen mehr. Es gibt einen Margot-Friedländer-Preis und eine
       Margot-Friedländer-Stiftung. Die Stadt Berlin ist sehr stolz auf sie.
       
       ## „Eine Herzensangelegenheit“
       
       Aber die Zeit heilt nicht alle Wunden. [5][Die Erinnerung schmerzt]. „Es
       ist immer, immer Tag und Nacht bei mir. Es ist sehr oft, dass ich zwei,
       drei Stunden nicht einschlafen kann, weil einem Sachen durch den Kopf
       gehen, die damit zu tun haben: warum, wieso und so weiter“, sagte sie.
       Friedländer war zuletzt empört über das Erstarken des Antisemitismus und
       Neonazismus. „Ich bin entsetzt, dass Menschen nicht gelernt haben, dass sie
       Menschen sein sollen.“
       
       Friedländer sollte eigentlich am Freitag das Große Verdienstkreuz des
       Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen werden, eine noch
       höhere Ehrung. Die Übergabe durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
       sei aber kurzfristig noch einmal verschoben worden, hatte die Jüdische
       Allgemeine erst am Mittag gemeldet.
       
       Margot Friedländer war eine der letzten Überlebenden, die untergetaucht im
       NS-Reich zu überleben versuchten und davon zu berichten wussten. „Was ich
       tue, ist eine Herzensangelegenheit. Ich tue es für Euch.“
       
       9 May 2025
       
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