# taz.de -- Flucht aus Venezuela: Die Aussicht auf Glück
       
       > Viele Venezolaner*innen fliehen vor Armut und Korruption ins
       > Nachbarland Brasilien. Sie landen trotz Arbeitserlaubnis oft auf der
       > Straße. Warum?
       
       Pacaraima, Boa Vista und Santa Elena de Uairén taz | Gabriel Brito blickt
       zu einem kleinen Hügel, rund 100 Meter entfernt. Dahinter liegt sein altes
       Leben, dort liegt Venezuela. Brito, 28, hagere Statur, steht an der
       brasilianischen Grenze. Vor drei Stunden hat er sein Land verlassen. „Ich
       habe alles aufgegeben, um hier zu sein“, sagt Brito. Es war am Ende nicht
       mehr viel, was ihn noch in Venezuela hielt – oder anders gesagt: Hunger und
       wirtschaftliche Not waren größer. Also ergriff Brito die Flucht. Wie so
       viele seiner Landsleute in den letzten Jahren.
       
       Die Geschichte des südamerikanischen Landes ist die Geschichte eines
       spektakulären Absturzes. Noch vor nicht allzu langer Zeit blühte dank des
       Ölgeschäfts Venezuelas Wirtschaft. Doch der Fall des Rohölpreises und
       Misswirtschaft stürzten das Land im vergangenen Jahrzehnt in eine schwere
       Krise. Internationale Wirtschaftssanktionen haben die Situation noch
       verschlimmert. Heute hungern viele Venezolaner*innen, auch die
       Menschenrechtslage ist katastrophal.
       
       Brito lehnt an einer Absperrung, sucht Schutz vor der Sonne. In einer
       Schlange stehen Frauen, Männer und Kinder. Einige sitzen auf Reisetaschen,
       fast alle wirken erschöpft. Soldaten wuseln umher, notieren Namen, sammeln
       Ausweise ein. Jeden Tag kommen in Pacaraima, ganz im Norden Brasiliens,
       Hunderte Venezolaner*innen an. Direkt neben dem Grenzübergang liegt
       eine gigantische Zeltstadt. Es ist ein Ankunftszentrum, betrieben vom
       brasilianischen Staat und den Vereinten Nationen.
       
       Mit brüchiger Stimme erzählt Brito seine Geschichte. Geboren und
       aufgewachsen ist er in Ciudad Guayana, im Nordosten Venezuelas, rund 15
       Busstunden entfernt. Dort arbeitete er als Straßenverkäufer. Sein Einkommen
       habe kaum zum Überleben gereicht. Auch die medizinische Versorgung sei
       miserabel gewesen. „Wir mussten unsere eigenen Medikamente in den
       Krankenhäusern mitbringen.“ Weil die kleine Tochter es einmal besser haben
       soll, entschieden er und seine Frau sich dazu, wegzugehen. Sie verkauften
       ihre Habseligkeiten, lösten ein Busticket in Richtung Grenze. In den Süden
       Brasiliens wollen sie. Dort gebe es Arbeit, habe Brito gehört. Er würde
       aber auch woanders hingehen. Hauptsache, weg aus Venezuela.
       
       In den letzten Monaten hat sich die Situation in dem südamerikanischen Land
       zwar etwas entspannt. Die USA lockerten [1][inzwischen die Sanktionen gegen
       die Ölindustrie] – wohl auch, weil es seit dem Ukrainekrieg wieder größeres
       Interesse an venezolanischem Rohöl gibt. Der amtierende Präsident Nicolás
       Maduro erklärte, noch in diesem Jahr freie Wahlen zu ermöglichen. Dennoch
       wollen viele weg. Die seit Jahren anhaltende Misere hat zu einem Exodus aus
       dem Land geführt. [2][Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks haben
       7,7 Millionen Menschen das Land seit Beginn der Krise verlassen] – rund ein
       Fünftel der Bevölkerung. Es ist die derzeit größte Migrationsbewegung der
       Welt. Der große Nachbar im Süden, Brasilien, ist zu einer beliebten Wahl
       geworden. 510.000 Venezolaner*innen leben laut Brasiliens Regierung
       im Land; nur in Kolumbien, Peru und den USA sind es mehr. 175.000
       Venezolaner*innen waren laut Zahlen der UN-Flüchtlingshilfe 2022 als
       asylsuchend registriert.
       
       Eine Arbeitserlaubnis ist einfach zu bekommen, es gibt humanitäre Hilfe
       sowie staatliche Programme für die Neuangekommenen. Brasilien sieht sich
       selbst als Vorzeigeland im Umgang mit den Migrant*innen. Nur, stimmt das
       auch?
       
       Mattia Bezze zieht einen Riegel zur Seite, schiebt das schwere Stahltor
       auf. „Herzlich willkommen!“ Bezze, 47, ist Italiener. Er ist lässig
       gekleidet, Sportsandalen, T-Shirt. Nur das dicke Kreuz um den Hals verrät
       seine Profession. Bezze ist Pater. Vor zwei Jahren schickte ihn das Bistum
       Padova nach Brasilien, genauer gesagt nach Pacaraima. Das lebendige
       Städtchen liegt direkt an der Grenze zu Venezuela.
       
       Bezze marschiert über einen Hof, öffnet die Tür zu einem kahlen Raum. Dort
       stehen ein paar Plastikstühle in der Ecke, in der Mitte ist ein kleiner
       Altar. Die Kirche wirkt wenig sakral. „Viele der Gläubigen kommen aus
       Venezuela. Manchmal halten wir die Messe auf Spanisch“, erzählt Bezze. In
       Pacaraima hört man heute kaum noch Portugiesisch auf der Straße. Innerhalb
       einer Dekade ist die Bevölkerung um 85 Prozent gewachsen. Natürlich laufe
       nicht alles perfekt, sagt Bezze. Es gebe Vorurteile, die Bedingungen in den
       Ankunftszentren könnten besser sein. „Aber im Vergleich mit Europa haben es
       die Flüchtlinge hier sehr gut.“
       
       Tatsächlich erhalten registrierte Geflüchtete in Brasilien die gleichen
       Rechte wie die einheimische Bevölkerung. An der Grenze bekommen sie eine
       Steuernummer sowie alle weiteren nötigen Dokumente zur Weiterreise. Sie
       können arbeiten, die Schule besuchen, erhalten kostenlose
       Gesundheitsversorgung. Die brasilianische Regierung hält sich an die
       sogenannte Erklärung von Cartagena aus dem Jahr 1984, welche eine
       Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt, die den
       Flüchtlingsstatus dann begründet sieht, wenn jemand im eigenen Land
       politisch verfolgt wird. Lateinamerikanische Länder haben damals
       vereinbart, den Flüchtlingsbegriffs auf Personen auszuweiten, die vor
       Konflikten und Unruhen fliehen.
       
       Ab 2014 flammten in ganz Venezuela immer wieder Proteste gegen die
       Regierung auf – angetrieben von der rechten Opposition und den USA.
       Sicherheitskräfte und Anhänger*innen der Opposition lieferten sich
       Straßenschlachten. Hunderte Menschen starben auf beiden Seiten. Tausende
       wurden verletzt, etliche Menschen verhaftet. Viele gaben die Hoffnung auf,
       ihr Land verändern zu können.
       
       Als 2018 massenhaft Venezolaner*innen ihr Land verließen, startete
       Brasiliens damalige Regierung unter Interimspräsident Michel Temer ein
       ehrgeiziges Programm: die Operação Acolhida. Der Name bezieht sich auf ein
       brasilianisches Wort: acolher. Das kann als „empfangen“ oder „willkommen
       heißen“ übersetzt werden. Brasilien ist stolz auf seine Gastfreundschaft,
       die Offenheit gegenüber Fremden. Aber die Regierung sah sich 2018 auch
       gezwungen, die Migration zu lenken.
       
       Brasiliens Staat steckt umgerechnet rund 2,6 Millionen Euro jeden Monat in
       das Programm. Im Vergleich zu Europa ist das Thema übrigens weit weniger
       emotional aufgeladen: Es spielt in der öffentlichen Debatte kaum eine
       Rolle.
       
       Die Operação Acolhida kümmert sich neben der direkten Versorgung auch
       darum, Migrant*innen mit ihrer Zustimmung auf andere Bundesstaaten zu
       verteilen. Es gibt sogar Deals mit Flug- und Busgesellschaften,
       registrierte Geflüchtete erhalten kostenlose Tickets. 120.000
       Venezolaner*innen nutzten das Programm bisher und ließen sich in
       anderen Bundesstaaten nieder.
       
       Auch Pater Bezze hilft, wo er kann. Einige der Migrant*innen kommen
       völlig erschöpft ins Land, teilweise unterernährt. Im Nachbarhaus betreibt
       seine Gemeinde ein kleines Informationszentrum. Hier erhalten
       Migrant*innen Auskunft, sie bekommen Bustickets oder können einfach mal
       kurz durchatmen. Auf einem kleinen Tisch liegen ein paar Malbücher für
       Kinder.
       
       Ein junger Mann mit Gesichtstattoos und blond gefärbten Haaren sitzt auf
       einem Plastikstuhl. Er heißt Jesús Avila, ist 29, dreifacher Vater. „In
       Venezuela werden viele Gesetze nicht umgesetzt, Korruption ist ein großes
       Problem“, sagt er. Er habe „ehrliche Arbeit“ gemacht als Marktverkäufer, in
       den Bergwerken. Der Lohn habe aber kaum gereicht, um seine Familie zu
       ernähren. Sein Vater lebe bereits in Brasilien, ebenso seien die Brüder
       dort. Seit 15 Tagen warte er auf seine Dokumente. Wenn er alles beisammen
       hat, will er weiterreisen. Sein Traum? Als Musikproduzent zu arbeiten.
       
       Wie Avila zieht es die meisten Migrant*innen in den Süden und Südosten
       des Landes. Die Regionen sind wohlhabender, es gibt Arbeitsplätze in der
       Industrie. Gerade in den gigantischen Schlachthöfen schuften viele
       Venezolaner*innen. Die Löhne sind niedrig, die Arbeit ist schwer. Es
       sind Jobs, die viele Brasilianer nicht wollen. Und die
       Venezolaner*innen verdienen weniger. Das macht diese attraktiv für
       Firmen. Daneben gibt es viele kulturelle Schnittpunkte, die die Integration
       leichter machen.
       
       Viele Migrant*innen an der Grenze sind dankbar für den Neustart in
       Brasilien. Die Menschen seien freundlich, kaum jemand habe Probleme gehabt.
       Viele brasilianische Geschäftsbetreiber in Pacaraima freuen sich sogar über
       die vielen Neubürger*innen – denn sie beleben das Geschäft in der
       verschlafenen Region. Einige sagen: In einem so großen Land wie Brasilien
       hätte es Platz für ein paar Zehntausend hermanos und hermanas – „Brüder“
       und „Schwestern“ – aus Venezuela.
       
       Nicht immer wurden die Venezolaner*innen jedoch mit so offenen Armen
       empfangen. Im August 2018 griff in Pacaraima eine aufgebrachte Menge ein
       Flüchtlingslager an. Sie warfen Steine, brannten Zelte nieder, verprügelten
       Migrant*innen. Auslöser war ein Überfall auf einen brasilianischen
       Händler. Hunderte Menschen flohen nach der Gewalt zurück nach Venezuela.
       Seitdem hat es aber keine größeren Vorfälle mehr gegeben. Man hat sich
       arrangiert, so scheint es, und in vielen Fällen sogar zusammengefunden.
       Aber es gibt immer noch Vorbehalte. Brasilien durchlebte ebenfalls mehrere
       Wirtschaftskrisen. Einige fürchten billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt
       durch die Migrant*innen aus dem Norden. Während in den ersten Jahren
       viele gut ausgebildete Venezolaner*innen nach Brasilien kamen, sind
       es nun überwiegend Menschen ohne höheren Schulabschluss.
       
       Auch Pater Bezze bekam die Vorbehalte zu spüren. „Viele Brasilianer haben
       sich von unserer Kirche abgewendet, weil wir den Migranten helfen“, sagt
       er. Vor einigen Wochen brach jemand in die Kirche ein. In den
       WhatsApp-Gruppen waren die Schuldigen schnell ausgemacht: „Sie machten die
       Venezolaner verantwortlich, ohne irgendwelche Beweise.“
       
       Bezze geht in sein Haus. Ein geräumiges, aber einfaches Gebäude mit nackten
       Böden. Heiligenfiguren gaffen von den knallgrünen Wänden. In einer Ecke
       stapeln sich Lebensmittelpakete. Manchmal hilft Bezze dem Militär, die
       Pakete zu verteilen. Reis, Bohnen, Öl, nur das Nötigste. „Natürlich wollen
       wir denen helfen, die nichts haben“, sagt Pater Mattia. „Aber wir müssen
       aufpassen, keine Abhängigkeiten zu schaffen.“ Einige Migrant*innen
       lebten seit vier, fünf Jahren von staatlicher Hilfe und täten nichts. Das
       könne dem gesellschaftlichen Klima im Land schaden, glaubt Bezze.
       
       Zwanzig Minuten dauert es mit dem Auto nach Santa Elena de Uairén. Sobald
       man den Grenzposten überquert, merkt man: Hier ist Venezuela. Überall
       hängen Nationalfahnen, Porträts des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar,
       an einer Wand prangen drei Wörter: „Nicolás Maduro Presidente“. Auf den
       ersten Blick wirkt Santa Elena de Uairén aufgeräumt, fast schon idyllisch.
       Die Regale im Supermarkt sind voll, die Preise nicht höher als in
       Brasilien. Unweit eines mit Bäumen gesäumten Platzes sitzt Jesuita Fabian
       in einem verglasten Büro.
       
       Die Mittvierzigerin kommt aus der Dominikanischen Republik, sie lebt in
       Venezuela, seit sie zwölf Jahre alt ist. „Ich bin Patriotin, ich bin
       Revolutionärin und bei mir ist die Macht Christus.“ Für sie ist die Sache
       klar: Die meisten Migrant*innen gehen weg, weil sie nicht arbeiten
       wollen und in Brasilien Sozialleistungen einstreichen wollen. „Schmarotzer“
       nennt sie diese Leute. Fabian ist eine quirlige Frau, sie lacht viel,
       gestikuliert beim Sprechen wild umher. Sie ist Mitglied der
       Regierungspartei PSUV und Sprecherin in einem sogenannten Consejo Comunal.
       Die Räte sollten es Bürger*innen ursprünglich erlauben, über die
       Verwendung von Geldern zu entscheiden. Ein basisdemokratisches Experiment,
       geschaffen unter Hugo Chávez.
       
       Ein Foto des Ex-Präsidenten steht auf Fabians Schreibtisch. „Er war ein
       großer Anführer. Nicht nur für Venezuela, sondern für die ganze Welt.“
       Daneben steht eine Puppe: Nicolás Maduro als Superman. Es gibt eine von der
       Regierung produzierte Zeichentrickserie, in der Maduro mit vermeintlichen
       Superkräften seinen Gegner*innen aus Opposition und US-Regierung trotzt.
       Die Regierung startete damit eine Kampagne, um das angeschlagene Image des
       Präsidenten aufzupolieren. „Er führt das Erbe von Chávez weiter“, sagt
       Fabian diplomatisch. So richtig zufrieden wirkt auch sie nicht.
       
       Viele machen Maduro für die Probleme im Land verantwortlich. Nach Chávez’
       Tod gewann er die Wahl. Doch dem 61-Jährigen fehlt es an Charisma und dem
       Geschick seines Vorgängers. Hyperinflation und Versorgungsengpässe prägten
       ab 2016 das Land. So musste Maduro etliche chavistische Errungenschaften
       zurücknehmen. Für viele Sozialprogramme war schlicht kein Geld mehr da.
       
       Venezuela versucht sich [3][derzeit zwar mit Handelsbeziehungen zu China
       und Russland unabhängiger vom Westen] zu machen. Allerdings liegt die
       Wirtschaft immer noch am Boden. Ein Mindestlohn reicht schon lange nicht
       mehr zum Überleben. Und Maduros Führungsstil ist zunehmend autoritär. Die
       prominentesten Regierungsgegner*innen dürfen bei der kommenden Wahl
       nicht kandidieren. Mitte Februar verkündete Maduro außerdem, das lokale
       Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte aus dem Land zu werfen.
       Einige nennen Venezuela eine Diktatur. Fabian sieht das anders. „Man kann
       hier schlecht über den Präsidenten sprechen und nichts passiert. Was für
       eine Diktatur ist denn das?“
       
       Natürlich gebe es Probleme im Land, sagt sie. Die Kriminalität sei hoch,
       die Löhne seien niedrig. Aber im Ausland gebe es eine völlig falsche
       Vorstellung von Venezuela. Wer an diesem Zerrbild schuld sei? „Die
       Yankees!“ Viele Berichte über das Land seien „westliche Propaganda“. Das
       größte Problem seien die Wirtschaftssanktionen. Sie führten dazu, dass
       Venezuela nicht vorankomme. „Aber die meisten von uns hier arbeiten und
       suchen nach einem Weg, um das Land voranzubringen.“ Ein Seitenhieb auf
       diejenigen, die das Land verlassen haben.
       
       Viele Venezolaner*innen verschlägt es in die Landeshauptstadt des
       brasilianischen Bundesstaates Roraima. Von der Grenze führt die
       Bundesstraße 174 in den Süden. Die Region zählt zu Amazonien, aber die
       Vegetation hat nur wenig mit dem Klischeebild zu tun. Statt dichten
       Regenwalds findet sich hier eine bergige Savannenlandschaft. An vielen
       Ausfahrtsstraßen stehen Holzschilder, sie markieren die Zufahrten zu
       indigenen Gemeinden. Gemessen an der Bevölkerung leben in keinem anderen
       brasilianischen Bundesstaat mehr Indigene als in Roraima. In letzter Zeit
       siedelten sich jedoch viele Venezolaner*innen in ihren Gebieten an.
       Sie errichteten dort Baracken aus Wellblech und Holz, an einigen Orten
       führt das zu Problemen. Denn die indigenen Gebiete sind eigentlich streng
       geschützt.
       
       ## Zeltstädte für 10.000 Menschen
       
       Probleme gibt es auch in Boa Vista. Die Stadt am Rio Branco hat etwas über
       400.000 Einwohner. Boa Vista, was gute Aussicht bedeutet, ist eine
       unspektakuläre Stadt, ohne nennenswerte Sehenswürdigkeiten. Im Südwesten
       der Stadt, direkt neben dem Busbahnhof, liegen die Ankunftszentren der
       Operação Acolhida: Zeltstädte, die rund 10.000 Menschen Platz bieten. In
       den Mittagsstunden stehen Hunderte Menschen in der Essensschlange. Viele
       NGOs sind hier aktiv, das Kommando hat das Militär. Mit der Presse will man
       hier nicht reden, Besuchsanfragen bleiben unbeantwortet. Ein junger Soldat
       vor einer Kaserne äußert sich dann doch. Weiterhin kämen jeden Tag Hunderte
       Menschen hier an, sagt er. Einige seien völlig mittellos. Er meint: Kein
       anderes Land kümmere sich so gut um diese Menschen wie Brasilien. Doch
       nicht alle wüssten die Gastfreundschaft zu schätzen. Viele würden
       kriminell, die Gewalt habe zugenommen.
       
       Trotz des günstigen rechtlichen Rahmens stoßen venezolanische Flüchtlinge
       auf Hindernisse. Auf dem formellen Arbeitsmarkt haben sie oftmals aufgrund
       von Sprach- und Kulturbarrieren keine Chance. Etliche Menschen bleiben in
       Boa Vista stecken. Überall in der Stadt hausen Migrant*innen auf der
       Straße, in Zelten, kleinen Baracken, auf dem nackten Asphalt. Abends
       blitzen die Crackpfeifen auf. Einige nutzen die Not der
       Venezolaner*innen aus. Mehrfach musste die Polizei Migrant*innen
       aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreien. Auf dem Bau schuften
       viele für einen Hungerlohn. Es gibt Berichte über Schmugglerbanden, die
       Migrant*innen ausrauben und Frauen in die Prostitution zwingen.
       
       Tânia Soares Souza empfängt in ihrem Büro, Küsschen zur Begrüßung, ein Foto
       für die sozialen Medien. Sie ist Roraimas Senatorin für Arbeit und
       Soziales. Über dem Schreibtisch hängt ein Porträt des Gouverneurs Antonio
       Denarium, ein Verbündeter des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. Der
       Rechtsradikale hat viele Fans in der Region. Goldgräber, Landwirte und
       Holzfäller zählen zu seinen treusten Anhänger*innen. Auch viele
       Venezolaner*innen hielten bei der letzten Wahl zu Bolsonaro. Sein
       Antikommunismus und das Gerede von der „Venezuelanisierung Brasiliens“
       kamen gut bei ihnen an.
       
       Soares ist parteilos, sie war mal Kultursenatorin. „Wir sind ein
       Bundesstaat von Migranten“, sagt sie. In den 1970er Jahren zogen
       Zehntausende aus dem hungergeplagten Nordosten in die abgeschiedene Gegend.
       Die Hoffnung damals: ein Stück Land, ein besseres Leben. Auch Soares zog es
       vor 38 Jahren aus der Hauptstadt Brasília nach Boa Vista. „Es liegt in der
       DNA der Menschen hier, den Neuankömmlingen zu helfen“, glaubt sie.
       Diskriminierung und Xenophobie seien Einzelfälle.
       
       Am Anfang habe der Zuzug der Venezolaner*innen viele überfordert,
       gibt Soares zu. Aber man habe schnell Maßnahmen beschlossen,
       Integrationsprogramme aufgelegt: Es gebe etwa Kurse für junge Mütter, und
       ein Projekt für straffällig gewordene Jugendlichen.
       
       Manchmal könnte die Zusammenarbeit zwischen Bund und Landesregierung besser
       laufen, sagt Soares. Die Operação Acolhida habe einige Schwachpunkte. In
       den Massenunterkünften seien besonders gefährdete Gruppen nicht ausreichend
       geschützt: Frauen, Kinder, LGBTQI. Ihre Regierung unterstütze eine Reihe
       von Programmen, um diesen Menschen zu helfen.
       
       Und die wachsende Kriminalität? Wenn man die Bevölkerung vergrößere, sei es
       normal, dass auch die Kriminalität zunehme, meint sie pragmatisch. Zum
       Abschied sagt Soares: „Wir profitieren von der Migration, nicht nur
       kulturell. Auch ökonomisch sind die Migranten mittlerweile ein großer
       Faktor in der Region.“
       
       Drei Wochen nach seinem Grenzübertritt schickt Gabriel Brito, der Migrant
       aus Ciudad Guayana, eine Sprachnachricht. Es gehe ihm gut, sagt er, er habe
       es inzwischen bis nach Boa Vista geschafft, alle benötigten Dokumente
       zusammen. Es gefalle ihm in Brasilien. Nun muss er noch Arbeit finden.
       
       5 Mar 2024
       
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