# taz.de -- Neuer Roman von Iris Wolff: Im Wald der Erinnerungen
       
       > Iris Wolffs Roman „Lichtungen“ schaut in die rumänische Vergangenheit, um
       > die Gegenwart Europas besser zu begreifen. Ein Buch in sanften Molltönen.
       
 (IMG) Bild: Vom Aufbrechen und Zurückkommen erzählt Iris Wolff. Blick aus dem Zugfenster auf den Bahnhof von Bukarest
       
       Der Roman beginnt mit dem vorläufig-versöhnlichen Schluss einer
       Liebesgeschichte, die zeitweise nicht wie eine aussieht. Die
       Schriftstellerin [1][Iris Wolff] erzählt ihren neuen, gerade erschienenen
       Roman „Lichtungen“ nämlich „rückwärts“, jedenfalls schaut die 1977 in
       Hermannstadt geborene Autorin mit jedem Kapitel weiter zurück in die
       Vergangenheit von Kato und Lev: Die beiden sind – was erst später im Text
       geschildert wird – in einem kleinen rumänischen Dorf aufgewachsen, haben
       die Schulzeit gemeinsam verbracht.
       
       Mit dem Ende des Warschauer Paktes trennen sich die Wege. Lev bleibt in
       heimischen Gefilden, arbeitet in einem Sägewerk. Kato zieht als
       Straßenmalerin durch ein Europa ohne Grenzen und schickt der Jugendliebe
       regelmäßig selbst gezeichnete Postkarten in die alte Heimat.
       
       Nach Jahren erhält Lev mal kein kleines Kunstwerk, sondern eine Karte mit
       drei Worten: „Wann kommst du?“ Eine Frage als Aufforderung. Lev zögert,
       fährt dann aber doch los. Sechs Wochen sind sie dann zusammen unterwegs,
       besichtigen „Städte und Dörfer“ in der Schweiz und in Frankreich. Doch Levs
       „Gedanken an zu Hause“ mehren sich, ein „sorgend-sehnendes Gefühl, das ihn
       zurückrief“, wächst beständig.
       
       Er wird ihr von seiner Sehnsucht erzählen, und glücklicherweise reagiert
       Kato verständnisvoll. „Wir reisen gemeinsam zurück?“, fragt Lev und kann es
       kaum glauben, dass Kato zustimmt. Auch wenn nicht klar ist, was dieses
       Zurückreisen konkret bedeuten wird, haben sie sich nach „gegensätzlichen
       Bewegungen wiedergefunden“.
       
       Ein Romaneinstieg mit wohlkalkuliertem Risiko: So ambitioniert die
       Grundkonstruktion, so banal-pathetisch wirken manche Formulierungen auf den
       ersten Seiten, was durchaus abschrecken, aber auch als Spiel mit dem Genre
       des Liebesromans gelesen werden kann.
       
       ## Bereit zum Aufbruch
       
       „Man müsse immer bereit sein, aufzubrechen“, erklärt Kato, was nach
       Poesiealbum klingt, Lev aber keineswegs zu irritieren scheint. Zu gut kennt
       er die Angebetete, also fragt er auf sensibel-nachsichtige Weise: „Auch
       wenn man gerade erst angekommen ist?“ Und die große Vagabundin erwidert
       prompt: „Dann besonders.“
       
       Was wie ein Dialog aus einem Groschenheft anmutet, wird bei der Lektüre der
       literarischen Retrospektive zumindest teilweise nachvollziehbar. Denn die
       Familiengeschichten von Kato und Lev halten tatsächlich nicht wenige
       Düsternisse bereit, in denen der Roman stets „Lichtungen“ aufzuzeigen
       versucht.
       
       Dabei wird die Erinnerung selbst zu einem Motor, die dunkle Vergangenheit
       aufzuhellen: „In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhört
       und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches
       schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es
       tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie
       Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin
       fand.“
       
       Die Erzählbewegung verläuft allerdings alles andere als zufällig; die
       prägenden Erlebnisse in Levs Leben werden gezielt angesteuert. Ansonsten
       würde die antichronologische Struktur des Romans auch nicht funktionieren.
       Die Übergänge von einem zum nächsten Kapitel werden nicht selten als
       Cliffhanger gestaltet, der sich bereits in der Geschichte zuvor aufgelöst
       hat.
       
       Die ungewöhnliche Dramaturgie erzeugt einen Lektüresog, selbst wenn
       einzelne Passagen redundant sind. Nicht nur einmal darf Kato sagen, dass
       sie „an einem Samstag geboren“ sei. Irgendwann erfahren wir dann auch,
       warum das für sie eine Auszeichnung ist. „Kinder, die samstags geboren
       sind, haben eine Glückshaut.“ Katos putzige Privatmythologie wird immerhin
       nicht weiter ausbuchstabiert.
       
       ## Der Tonfall wird rauer
       
       Erstaunlicherweise ändert sich der literarische Tonfall der
       Erinnerungsinseln. Je vergangener die Episoden, desto rauer und auch
       ironischer ist die Sprache. Schon Levs Erfahrungen mit sadistischen
       Schulkameraden werden in bedrückender Schnörkellosigkeit beschrieben. Lev
       möchte nicht länger zur Schule gehen, wünscht sich ein Leben im Wald. Mit
       Imre findet er einen Vorarbeiter und Freund, der schnell erkennt, dass Lev
       sein Leben nicht in der Abgeschiedenheit verbringen sollte.
       
       Doch der Forstnovize ist beseelt: „Einen Wald betreten war wie in eine
       Kirche gehen. Das Gefühl für die Zeit verlor sich, Zugehörigkeiten
       verschoben sich. Der Wald war innen, alles andere war draußen.“
       
       Ohne Waldmetaphorik kommt das dritte, zentrale und beste Kapitel des Romans
       aus. Nach einem Unfall kann Lev seine Beine nicht mehr bewegen. Er
       verbringt Wochen und Monate im Bett und rollenden Pritschen. Selbst die
       Hochzeit der Schwester feiert Lev im Liegen. Diese Szene ist skurril und
       bildstark, verzichtet weitgehend auf sprachliche Überhöhungen. Kato
       beginnt, immer mehr Zeit mit dem beinkranken Schulfreund zu verbringen. Sie
       lernen zusammen, Kato erweist sich als gute Nachhilfelehrerin. Irgendwann
       gibt sie Lev auch einen Kuss. Vielleicht hat sie den Jungen damit gerettet,
       denn er wird schon bald wieder aufstehen können.
       
       Skurriler Schluss des Romans, der in der Rückschau ein besserer Anfang
       gewesen wäre, ist ein Ausflug Levs mit Großvater Ferry in die Kurstadt
       Buziaș, die im Banat liegt. An den Wänden der Badeanstalten hängen Plakate
       von Nicolae Ceaușescu, doch der Mann, der einst als Hoffnungsträger
       gefeiert wurde, wird noch nicht als Diktator wahrgenommen. Die Stimmung ist
       heiter, selbst wenn die Patienten sich beschweren, dass früher alles besser
       war.
       
       ## Utopie eines Vielvölkerstaats
       
       Iris Wolff skizziert mit der brüchigen Kurgesellschaft auch die Utopie
       eines Vielvölkerstaates, in dem zwar politische, religiöse und sprachliche
       Differenzen existieren, die vielen Zuschreibungen aber nicht als
       unabänderlich wahrgenommen werden. Lev erfährt, dass sein Opa als
       Österreicher aufgewachsen, zum ersten Mal Rumäne geworden ist, dann Ungar
       und schließlich wieder einen rumänischen Pass erhalten hat. Allerdings hat
       Ferry nach diesem Hickhack „entschieden, er bleibe Österreicher“.
       
       Lev ist von der Identitätsfrage überfordert, zumal er „auch noch“ eine
       siebenbürgisch-sächsische Mutter hat. Wer oder was ist er also selbst?
       Rückblickend wirkt der spielerische Umgang mit den Herkünften wie das
       sprichwörtliche Reich der Freiheit. Vielleicht ist das ein Grund, warum der
       erwachsene Lev später immer wieder an den Ort seiner Jugend zurückkehren
       möchte.
       
       „Lichtungen“ ist ein Roman in sanften Molltönen, der [2][die Schrecken der
       rumänischen Vergangenheit] keineswegs ausspart. In den späten 1980er Jahren
       leidet das Land unter dem Repressionsapparat der Securitate. Selbst
       abgelegene Landgaststätten werden von den Agenten des Spitzeldienstes
       aufgesucht. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen versuchen, das Land über
       die grüne Grenze zu verlassen.
       
       Zu dieser Stimmung passen die melancholischen Texte aus
       sächsisch-siebenbürgischen Volksmärchen, traurig-schöne Liedzeilen von The
       Cure („Pictures of You“) und die Stimme der unvergesslichen [3][Sängerin
       Maria Tănase,] die in dem Buch durchweg präsent sind. Auch historische
       Ereignisse wie die Atomkatastrophe von Tschernobyl sind überzeugend
       eingebaut, etwa über die zynischen Verlautbarungen der rumänischen
       Regierung, die sich später, wenn grauenhafte Missbildungen im Land bekannt
       werden, als Propaganda entlarven. Ohnehin überzeugt Iris Wolffs Prosa immer
       dann, wenn es um vermeintliche Nebenschauplätze oder Nebenfiguren geht, die
       nicht als quasipoetische Projektionsfläche dienen.
       
       ## Geschmack grüner Haselnüsse
       
       Zu oft bemüht die Autorin nämlich artifizielle Vergleiche, die weder zu
       einem Erkenntnisgewinn noch zu einem ästhetischen Mehrwert führen. Da ist
       von einem „Lächeln wie zwei Handmuscheln“ die Rede, in Katos Mund meint Lev
       eine bittere Süße zu entdecken, „wie der Geschmack grüner Haselnüsse“, und
       wenn der allgemeine Verfall illustriert wird, lesen wir Sätze wie diese:
       „In einem Gemeindehaus lagen Scherben wie hereingewehte Blätter über den
       Boden zerstreut. Risse hatten sich über den Kirchfenstern gebildet, die
       Seile lagen, wie Schlangen, abgeschnitten im Glockenturm.“
       
       Doch selbst wenn sich die Vergleiche häufen, selbst wenn der Gedankenstrom
       mal wieder an „Lichtungen“ inmitten der erinnerten Dunkelheit
       vorbeiplätschert, lohnt es sich, das Buch zu lesen, weil darin eben doch
       eine bemerkenswerte Vielstimmigkeit in der rumänischen und europäischen
       Vergangenheit lebendig wird, weil Iris Wolff Geschichten und Geschichte
       plausibel verschränkt.
       
       Tatsächlich zeigt der Roman anschaulich, was es bedeutet, wenn nationale
       Identitäten wieder zur Handlungsmaxime von Politik werden, wie schnell
       neu-alte Grenzen gezogen werden und die Menschen dann unter staatlichem
       Kontrollwahn zu leiden haben.
       
       14 Jan 2024
       
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