# taz.de -- Schwungvoll übers Land: Rauf und runter, so wie das Leben
       
       > Ein Gericht, ein Song – oder eine Bewegung, die uns in die Kindheit
       > katapultiert und glücklich macht. Für unseren Autor ist es das Schaukeln.
       
 (IMG) Bild: So schaukelt's sich im Tessin am Luganer See
       
       Es gibt nur wenige Momente im Leben eines Erwachsenen, in denen die eigene
       Kindheit plötzlich wieder zum Greifen nah ist. Gerüche aus Kindertagen
       haben solche Macht. Lieblingsessen von damals. Und ein ganz bestimmtes
       Bewegungsmuster: Schaukeln.
       
       Meine Schwester und ich haben die Schaukel auf dem Spielplatz gleich neben
       dem Wohnblock in unserem westmecklenburgischen Heimatdorf geliebt. Ich
       wollte immer hoch hinaus, mit offenen Augen, den Himmel fest im Blick,
       selbstvergessen.
       
       Meine Schwester schaukelt heute nicht mehr. Je älter sie wird, desto mehr
       Routinen gehen ihr verloren. Der Schaukel scheint sie schon lange nicht
       mehr über den Weg zu trauen. Alles, was schwingt und schwankt, passt nicht
       mehr in ihre ganz eigene, verschlossene, ja autistische Welt.
       
       Aber in meine, bis heute. Immer wenn ich meine Schwester besuche, schaukele
       ich und hole mir so meinen Glücksmoment. Sie lebt in einer Wohnstätte für
       Menschen mit Behinderung in unserer alten Heimat, und da gibt es gleich
       mehrere Schaukeln auf dem Gelände am Dorfrand, auf denen auch Erwachsene
       Platz nehmen können, also auch Schwergewichte wie ich. Mein Blick geht beim
       Schaukeln immer noch nach oben, in die unendliche Weite. Mich macht das
       einfach glücklich. Und ja, schaukeln lässt sich zu jeder Jahreszeit.
       
       ## Schaukeln hat eine philosophische Seite
       
       Wilhelm Schmid empfiehlt das Schaukeln als Glückstechnik. Der in Berlin
       lebende Philosoph ist Bestsellerautor mit seinen klugen Büchern zur
       Lebenskunst. Nun hat er mit [1][„Schaukeln – Die kleine Kunst der
       Lebensfreude“] (Inselverlag, Berlin 2023, 110 Seiten, 12 Euro) über das so
       beruhigende Schaukeln geschrieben. Schmid ist 70 Jahre alt und hat gerade
       „eine schwierige Zeit hinter sich“, wie er am Telefon erzählt, vor
       zweieinhalb Jahren ist seine Frau gestorben.
       
       „Zur Lebenskunst gehört ohne jeden Zweifel, das Leben genießen zu lernen“,
       sagt er. Aber das wäre nur die eine Hälfte: Die andere Hälfte der
       Lebenskunst bestünde darin, mit den schwierigen Seiten des Lebens
       zurechtzukommen. Schmid hat das Schaukeln und „diese leichte wie schöne
       Bewegung“ bei der Trauerarbeit geholfen – auch im übertragenen Sinn:
       „Rausgehen, nicht in sich selbst verschließen“, sei sein Rat beim Verlust
       eines lieben Menschen.
       
       Und eben rauf auf die Schaukel. „Das Hin und Her, das Rauf und Runter, so
       wie das Leben eben ist – das ist die philosophische Seite des Schaukelns.“
       
       Und Schaukeln finden sich ja eigentlich überall. Man muss sich nur umsehen.
       Vor ein paar Monaten, erzählt Schmid, sei er auf Reisen in Vorarlberg in
       Österreich gewesen. „Da sind schon vor Jahren Schaukeln an Wanderwegen
       entlang aufgestellt worden, für Touristen eine wunderbare Sache.“ Schaukeln
       stehen [2][zum Beispiel im Großen Walsertal]. „Und jetzt erzählen Sie von
       dieser Initiative im Tessin, die ich bisher nicht kannte, das ist großartig
       und lässt darauf schließen, dass es an der Schaukel ein neues Bedürfnis
       gibt.“
       
       ## Im Tessin in den siebten Himmel schaukeln
       
       Ja, das Tessin, wo italienische Lebensart auf Schweizer Präzision trifft,
       ist ein guter Ort, um zu schaukeln. Auch ich war erst kürzlich da. Denn ein
       Mal im Tessin mit Blick auf das unglaublich schöne Alpenpanorama zu
       schaukeln, war ein lang gehegter Lebenstraum für mich.
       
       Um eine solche Schaukel zu erreichen, muss man einen Berg hinaufsteigen.
       Oberhalb des Künstlerdorfes Carona liegt ein riesiger Botanischer Garten,
       der [3][Parco San Grato] – die Stadt Lugano mit dem See und den Bergen
       ringsum ist nur 10 Kilometer entfernt. Schon der gemächliche Aufstieg
       lohnt, wer vom Dorf (mit dem Bus von Lugano aus gut zu erreichen) aus
       aufbricht, braucht gut eine Stunde hinauf. Im Park lockt auf 62.000
       Quadratmeter Fläche eine allseits schöne Aussicht und Azaleen,
       Rhododendren, Koniferen, Nadelbäume. Und eine riesige Schaukel.
       
       Die steht am höchsten Punkt – und ist gerade besetzt. Ein älteres Paar mit
       Kind ist schon am Schaukeln. Nach ein paar Minuten haben Opa und Kind (Oma
       machte Fotos) genug geschaukelt. Und wie war’s? „Einfach fantastisch“, sagt
       der Herr auf Schweizerdeutsch. Jetzt bin ich aber an der Reihe.
       
       Die gigantische Panoramaschaukel baumelt an dicken Seilen zwischen zwei
       starken Bäumen. Der große, dicke Holzsitz ist angenehm warm. Unter den
       Füßen liegen ein paar kleine Steine und Sand und Nadeln, ringsum große
       Gesteinsbrocken – und vor einem sozusagen die weite Welt. Der Blick ist
       durch rein gar nichts verstellt und geht über den Landschaftspark hinweg
       auf den Lago di Lugano und die Alpen und eben in den Himmel. Wie schön ist
       das denn?! Man muss einfach Fotos machen.
       
       Fabio Balassi und Elisa Cappelletti, die an diesem Nachmittag für ein
       Gespräch auf den Berg gekommen sind, haben die Panoramaschaukel erfunden
       und ihr Projekt [4][„Swing the World“] genannt. Die Idee sei im
       Corona-Lockdown entstanden, erzählen die beiden, die nicht nur
       Geschäftspartner, sondern auch privat ein Paar sind. Damals hätten sie zu
       Hause gesessen und sich gefragt, was sie bloß „mit der ganzen Zeit machen
       sollten“, sagt Fabio Balassi.
       
       Er erinnerte sich an früher: „Als Kind hatte ich in unserem Garten eine
       riesige Panoramaschaukel. Warum bauen wir nicht eine für uns beide? Nur so
       zum Zeitvertreib und weil Schaukeln schön ist.“ Schnell fanden sich Seile,
       ein Stück Holz, und kurze Zeit später war die erste Schaukel fertig.
       „Sozusagen der Prototyp.“
       
       Die Schaukel sollte an einem schönen Ort hängen. Bei ihm zu Hause, im Dorf
       Lionza, sei es zwar „schon schön“, aber für ihn und seine Freundin, beide
       arbeiten als Fotograf:innen, noch nicht schön genug, erzählt Balassi. Ihre
       Schaukel sollte sich an einem Ort befinden, der eine wirklich
       atemberaubende Aussicht hat, mit anderen Worten: instagramtauglich ist.
       „Wir wollten einfach schöne Bilder haben.“
       
       Die Entscheidung fiel auf den [5][bekannten Wasserfall von Foroglio im
       Bavonatal]. Balassi und Cappelletti hängten die Schaukel auf, machten ein
       paar Fotos für ihre Social-Media-Kanäle und bauten sie wieder ab, denn es
       brauchte eine Erlaubnis. „In meinem Tal fanden wir dann einen passenden
       Standort und bekamen die benötigten Genehmigungen von Kommune und
       Landeigentümer. Weil ich dort viele Leute kenne, ging das alles leichter“,
       sagt Belassi. Die erste Schaukel schaukelte in [6][Rasa, einem kleinen
       Bergdorf im Centovalli-Tal].
       
       Danach „hagelte es Anfragen“, erzählt Elisa Cappelletti auf Italienisch,
       ihr Freund übersetzt ins Deutsche. Da haben die beiden das Potenzial ihrer
       Geschäftsidee erkannt: Und sich mit der Frage der Produktion ihrer
       Schaukeln befasst. „Wir hatten ja nur den Prototyp.“
       
       Mit der Zeit sei die Auswahl der Materialien und die Konstruktion
       verbessert worden, sagt Fabio Balassi. Das Holz ist Robinie, das 18
       Millimeter starke Seil sieht wie ein Hanfseil aus, ist aber aus dem
       Kunststoff Polypropylen, der widerstandsfähiger ist als ein Naturmaterial.
       Im Seil verstecken sich vier Drahtseile. Die Stahlaufhängungen hat Balassi,
       der auch Maschinenkonstrukteur ist, selbst entworfen, damit die Seile nicht
       direkt am Baum befestigt werden und bei jeder Bewegung quietschen.
       
       Mit ihrem breiten Sitz und den zwei Tonnen Tragkraft eignen sich die
       Schaukeln nicht nur für Single-Schaukler, sondern auch für zwei Liebende,
       die auf ihnen in den siebten Himmel schaukeln wollen. Seit dem Prototypen
       vor drei Jahren kamen immer neue Exemplare hinzu. [7][Derzeit sind es 24
       Schaukeln], 18 davon stehen im Tessin.
       
       An schönen Standorten mit atemberaubenden Ausblicken mangelt es bekanntlich
       auch hierzulande nicht. Planen Fabio Balassi und Elisa Cappelletti, auch
       außerhalb von der Schweiz ihre Schaukeln aufbauen?
       
       Ja, aber in kleinen Schritten, als Nächstes sei erst mal die Deutschschweiz
       dran, sagen sie.
       
       Die höchste Schaukel der beiden steht übrigens auf 2.270 Meter auf dem
       [8][Gemmipass in den Berner Alpen im Wallis]. Unser Gespräch findet neben
       einer Schaukel auf 754 Meter Höhe statt. In gut eineinhalb Stunden lässt
       sich vom Landschaftspark Parco San Grato hinunter zur nächstgelegenen
       Panoramaschaukel wandern.
       
       Dazu steigt man vom Berg kommend gen Ende der Strecke Stufe um Stufe herab
       und schaut aufs malerische [9][Morcote] mit der Kirche vor dem Luganer See.
       Die Kommune bestellte die Schaukel direkt für diesen Standort, für diesen
       Blick aufs Gotteshaus, das Wasser und die Berge. Auf ihr sitzend, Schwung
       holend, beseelt hin- und herschaukelnd, scheint die Zeit für einen Moment
       zu schweben – für einen Augenblick noch mal Kind sein, so fühlt es sich an.
       Den weiten Himmel und ein bisschen Glück gibt es gratis dazu.
       
       ## Wenn beim Schaukeln die Gedanken fliegen
       
       Wilhelm Schmid hat für diesen nostalgisch umwehten Moment das passende
       Sprichwort parat: „Wir werden das Kind schon schaukeln.“ Was nichts anderes
       bedeutet, als dass sich eine Problemlösung findet. „Auf so einer Schaukel
       kannst du in einen Flow, ja in Trance geraten und kommst dabei auf Ideen“,
       sagt Schmid. „Und weil die Gedanken frei hin und her fliegen, lösen sich
       dabei manchmal Probleme ganz von allein.“ Tja, wir sollten alle viel mehr
       schaukeln.
       
       Transparenzhinweis: 
       
       Reise und Recherche wurde unterstützt von Ticino Turismo und Schweiz
       Tourismus.
       
       17 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.suhrkamp.de/buch/wilhelm-schmid-schaukeln-t-9783458643722
 (DIR) [2] https://www.vorarlberg-alpenregion.at/de/walsertal/schaukeln-im-grossen-walsertal.html
 (DIR) [3] https://parcosangrato.ch/de/
 (DIR) [4] http://swingtheworld.ch/
 (DIR) [5] https://www.ticinotopten.ch/de/wasser/wasserfall-foroglio
 (DIR) [6] https://www.myswitzerland.com/de-ch/reiseziele/rasa/
 (DIR) [7] http://swingtheworld.ch/swing-locations.html
 (DIR) [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Gemmipass
 (DIR) [9] https://www.morcote.ch/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hergeth
       
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