# taz.de -- Neues Indie-Album von Sufjan Stevens: Sein Leben als Erdnuss
       
       > Traurig, schwelgend, etwas hyperaktiv: Auf dem Indie-Album „Javelin“
       > findet der US-Musiker Stevens zu den Folkwurzeln zurück.
       
 (IMG) Bild: Seitenblicke auf die Liebe: Sufjan Stevens
       
       Sufjan Stevens muss man sich als Indie-Künstler vorstellen, der ein großes
       Bedürfnis hat, das zu entschlüsseln, [1][was die Spezies Mensch in der Welt
       zusammenhält.] Daraus ergibt sich fast zwangsläufig ein emotionales Auf und
       Ab, was sich in seiner erratischen Musik widerspiegelt: Elegisches folgt
       direkt nach aufgeregtem Gebimmel, in das wiederum kakofones Durcheinander
       einbricht.
       
       Mit inzwischen zehn Soloalben präsentiert sich der 48-Jährige als mal
       folkiger, dann wieder elektronikaffiner Eklektiker. Das emotionale
       Oszillieren gehörte stets zum Schaffen dieser musizierenden Flipperkugel,
       wenngleich die Grundierung im Sufjan-Stevens-Sound über die Jahre doch
       düsterer geworden ist.
       
       Über seine Disposition, zwanghaft Sinnzusammenhänge zu suchen, macht
       Stevens sich inzwischen selbst lustig. So scheint es zumindest im
       umfänglichen Booklet, das die Veröffentlichung seines opulenten neuen
       Albums „Javelin“ begleitet und mit der aufzählenden Feststellung endet:
       „Ich wurde in Gänze und Wahrheit wiedergeboren. Ich war eine Erdnuss … eine
       Brezel. Ich war eine frittierte Garnele. Ich war das personifizierte Chaos.
       Ich war ein weiteres Mal ich selbst und wartete darauf, wieder zu
       passieren, immer wieder und wieder und wieder … bis zum Ende.“
       
       ## Vom Glauben abfallen
       
       Die persönlichen Essays, in denen er durchlebten und durchlittenen Lieben
       nachspürt – den konkreten und den metaphysischen – lassen sich durchaus so
       lesen, dass der Singer-Songwriter und Multiinstrumentalist langsam vom
       Glauben abfällt.
       
       Nicht unbedingt seine christliche Prägung betreffend, die immer wieder
       aufpoppt, seit er vor 20 Jahren mit dem Album „Michigan“ (2003) den
       Durchbruch hatte – am offensichtlichsten widmete er sich auf „Seven Swans“
       (2004) biblischen Themen.
       
       Doch offenkundig vom Glauben abgefallen ist er im Hinblick auf die USA,
       [2][für die er früher Empathie übrig hatte]. In der wabernden
       zwölfminütigen Single „America“, veröffentlicht am Unabhängigkeitstag 2020,
       heißt es: „I have loved you / I have grieved / I am ashamed to admit / I no
       longer believe“. In einem Interview mit dem britischen Guardian zum
       elektronischen Vorgängeralbum „The Ascension“ bezeichnete er die Kultur
       seiner Heimat als „up in flames“.
       
       ## Mischung aus Pfadfinder und Hipster
       
       Einst wollte der all-american-boy Stevens – irgendwie wirkt der
       Endvierziger immer noch wie eine charmante Mischung aus Hipster und
       Pfadfinder – jedem Bundesstaat ein eigenes Werk widmen. Auf „Michigan“
       folgte lediglich „Illinois“ (2005), die Idee erwies sich als Promo-Gimmick.
       
       Diesmal ist Stevens’ Fokus persönlicher, und wie es ein Instagram-Post
       anlässlich der Veröffentlichung andeutete, steckt darin auch ein Coming-out
       des sonst das Private konsequent abschirmenden Künstlers: Die Musik ist
       seinem im April verstorbenen Partner Evans Richardson gewidmet. Klanglich
       ist er wieder zurück auf folkigem Terrain.
       
       Und auch wenn Stevens auf verschiedenen Ebenen zweifelt: Er bleibt ein
       Suchender, damit letztlich ein Optimist, wovon gleich der Auftaktsong
       „Goodbye Evergreen“ zeugt. In beseeltes Schwelgen bricht lärmige Dissonanz
       ein, doch zum Ende löst es sich in sanftem Geplingel auf.
       
       ## Liebe und Fingerpicking
       
       Bei „Will anybody ever love me?“ sorgt ein Background-Chor für Emphase auf
       diese zentrale Frage, während Stevens auf der Gitarre fingerpickend
       ausführt, wie er geliebt werden will: „For good reasons / Without
       grievance, not for sport“. Sein Songwriting holt einen durchaus ab, auch
       wenn es bisweilen fast zu vertraut klingt. Aus seiner gereiften Weltsicht
       könnte ja auch klanglich etwas Neues entstehen. „Javelin“, was immerhin
       „Speer“ bedeutet, setzt jedoch kaum Stiche.
       
       Nach experimentierfreudigen Kooperationen, etwa mit seinem Stiefvater
       Lowell Brams, bietet die Musik des Albums nun wieder den klassischen
       Stevens-Sound: elegisch, schwelgerisch, ein bisschen hyperaktiv. Gerade auf
       der Bühne werden diese vielen Schichten sicher gut klingen.
       
       Doch [3][bis die Songs bei Konzerten dargeboten werden, dauert es wohl
       noch]. Vor wenigen Wochen gab der Musiker bekannt, am
       Guillain-Barré-Syndrome erkrankt zu sein, einer von Lähmungserscheinungen
       begleitenden Autoimmun-Erkrankung. Deshalb erst mal von hier alles Gute!
       
       20 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Indiepop-Konzeptalbum-Planetarium/!5420995
 (DIR) [2] /Neues-Album-von-Sufjan-Stevens/!5013397
 (DIR) [3] /Konzert-Sufjan-Stevens/!5121184
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stephanie Grimm
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Indie
 (DIR) USA
 (DIR) Neues Album
 (DIR) taz Plan
 (DIR) Neues Album
 (DIR) Mütter
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neue Musik aus Berlin: Introspektiv am Schlagzeug
       
       Indie-Schlagzeuger Robert Kretzschmar legt sein Debüt „Homecoming“ vor.
       Statt großem Spektakel wählt er bedachte Texte und folkig fordernde Töne.
       
 (DIR) Indiepop Konzeptalbum „Planetarium“: Vom Ferienlager bis zum Saturn
       
       Das Gemeinschaftswerk der Künstler Sufjan Stevens, Bryce Dessner, Nico
       Muhly und James McAlister zieht alle Register des E-Musik-Indie-Pop.
       
 (DIR) Neues Album von Sufjan Stevens: Kreuz ohne Schatten
       
       Der Singer-Songwriter Sufjan Stevens versucht auf seinem Album „Carrie &
       Lowell“ den Tod seiner Mutter zu verstehen. Er hat sie kaum gekannt.
       
 (DIR) Konzert Sufjan Stevens: Ein Hippie mit Engelsflügeln
       
       Der US-amerikanische Singer-Songwriter Sufjan Stevens lässt zum Auftakt
       seiner Deutschland-Tournee im Leipziger Centraltheater die Apokalypse
       tanzen.