# taz.de -- Antiziganismus in Hannovers Verwaltung: Rassismus von Amts wegen
       
       > Eine zwei Jahre alte Studie macht plötzlich Furore. Sie weist Hannover
       > antiziganistische Strukturen nach. Dabei ist die Stadt nur ein Beispiel.
       
 (IMG) Bild: Abgestempelt: Der Umgang von Behörden mit Sinti und Roma zeigt fatale historische Kontinuitäten
       
       Hannover taz | So offen reden die wahrscheinlich so schnell nicht wieder:
       71 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – zum Teil leitende Angestellte – aus
       den Bereichen Unterbringung, Sozialarbeit, Jobcenter und Politik in
       Hannover haben für eine Studie ausführliche Interviews gegeben.
       
       Es ging dabei um den Umgang mit Roma-Familien, vor allem solchen, die aus
       Osteuropa (vorwiegend Rumänien und Bulgarien) zugewandert waren. Und weil
       diesen Mitarbeitern eine umfangreiche Anonymisierung zugesagt wurde, wurden
       sie dabei sehr deutlich.
       
       Die Studie „[1][Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale
       Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen
       Großstadt]“ von Tobias Neuburger und Christian Hinrichs beschreibt präzise,
       wie diskriminierend die Verwaltungspraxis in allen möglichen Feldern ist.
       
       Das betrifft zunächst einmal die Unterbringung: Roma-Familien werden
       gezielt in Unterkünften untergebracht, die abgelegen in Gewerbegebieten, an
       Autobahnen oder Müllverbrennungsanlagen liegen und baulich in schlechtem
       Zustand sind.
       
       ## Grundsätzlich unter Betrugsverdacht
       
       Den Kindern wird damit der Schul- und Kitabesuch schwer gemacht, zumal die
       Familien auch regelmäßig verlegt werden. Eine Betreuung durch
       Sozialarbeiter gibt es kaum, dafür Sicherheitsdienste, die verhindern, dass
       Besuch kommt.
       
       Im Jobcenter stehen die Betroffenen grundsätzlich erst einmal unter
       Betrugsverdacht. Anträge werden gar nicht erst rausgegeben, gehen verloren
       oder werden nur zögerlich bearbeitet, lautet ein weiterer Vorwurf.
       
       Bekannt ist das eigentlich schon seit zwei Jahren. Im März 2021 wurde der
       Forschungsbericht für die [2][„Unabhängige Kommission Antiziganismus“],
       gefördert vom Bundesinnenministerium, veröffentlicht – ohne große
       öffentliche Resonanz zu erzielen.
       
       Nun allerdings hat [3][die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) auffliegen
       lassen], um welche mühselig verschleierte „westdeutsche Großstadt“ es geht
       – wohl auch, weil die Redakteure die eigene Berichterstattung in den
       zitierten Beispielen wiedererkannten.
       
       In Hannover ist der Aufruhr nun groß. Linke, Grüne, sogar die CDU fordern
       Aufklärung und Berichterstattung in den entsprechenden Gremien.
       
       Die Stadt reagierte selbstkritisch: Man erkenne an, dass es diese
       antiziganistischen Verhaltensmuster innerhalb der Stadtverwaltung gebe und
       das Problembewusstsein unterschiedlich ausgeprägt sei, erklärte eine
       Sprecherin.
       
       „Das ist für eine Stadt, die für sich als Anspruch und Leitmotiv ihres
       Handelns festgelegt hat, ein offenes, auf Wertschätzung, Vielfalt und
       gleichberechtigter Teilhabe basierendes Miteinander zu leben,
       inakzeptabel“, heißt es in der Erklärung der Stadt.
       
       Weniger souverän und einsichtig reagierte dagegen das Jobcenter der Region
       Hannover, als es von der HAZ mit den Vorwürfen konfrontiert wurde: So etwas
       könne es dort nicht geben und man sei sich auch nicht sicher, ob nicht eine
       andere Behörde gemeint sei, hieß es da sinngemäß.
       
       ## Kein lokales Problem
       
       Der Hang, mit dem Finger auf andere zu zeigen, verschleiert aber auch, was
       die Autoren der Studie immer wieder betont haben: Das Ganze ist keineswegs
       ein hannöversches Problem. Viel mehr verschränken sich in der
       Ausgrenzungspolitik gegen die Roma tief verwurzelte Vorurteile, kaltes
       Verwaltungskalkül und problematische Weichenstellungen auf EU-Ebene.
       
       Denn die Kommunen liefern sich einen Wettkampf um die effektivsten
       Abschreckungstaktiken, weil sie die grundsätzliche Schizophrenie der
       EU-Osterweiterung auffangen müssen. Rumänen und Bulgaren sind willkommen,
       solange sie sich als prekär beschäftigte Arbeitssklaven verdingen – aber
       nicht, wenn sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
       
       Wenn sie beim Amt Arbeitsverträge oder Kündigungen vorlegen, unterstellt
       man ihnen, die seien gefälscht. Die menschenunwürdige Unterbringung in
       Notunterkünften wird auch damit gerechtfertigt, dass sonst zu viele
       nachkämen.
       
       Das kann nicht allein auf kommunaler Ebene diskutiert und gelöst werden,
       sagt auch die Stadt Hannover. Die hatte tatsächlich schon vor dieser
       Debatte angefangen, einige Änderungen vorzunehmen. Den Fachbereich
       „Unterbringung“ gibt es in seiner früheren Form nicht mehr: Vor allem, weil
       man eine bessere und stärkere Verzahnung mit der Sozialarbeit im neuen
       Bereich „soziale Teilhabe“ schaffen wollte.
       
       Hinter vorgehaltener Hand hatten sich viele Sozialarbeiter, auch aus der
       freien Obdachlosenhilfe, über den rabiaten Umgang mit Hilfesuchenden
       beklagt. Auch einige der besonders schlimmen Unterkünfte hat die Stadt
       mittlerweile abgestoßen. Eine Belegung nach ethnischen Kriterien soll es
       auch nicht geben.
       
       ## Antiziganismus Thema auf Landesebene
       
       Unabhängig von der aktuellen Debatte um Hannover hatten auch die
       niedersächsischen Grünen schon länger zu einer offenen Debatte zum Thema
       „Antiziganismus bekämpfen“ in den Landtag eingeladen. Sie fand am
       Donnerstag, 5. Oktober, statt.
       
       Unter der Leitung von Djenabou Diallo-Hartmann (Grüne) diskutierten der
       [4][Antiziganismusbeauftragte des Bundes Mehmet Daimagüler] mit
       Landtagsabgeordneten und Verbänden darüber, wie die [5][Empfehlungen der
       Unabhängigen Kommission Antiziganismus] auf Landesebene umgesetzt werden
       können.
       
       Die Landespolitik bietet dafür auch immer wieder Anlass genug: So tauchen
       zum Beispiel die Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Schulabsentismus gegen
       eine Roma-Familie in der Statistik zur „Clankriminalität“ wieder auf.
       
       7 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/heimat-integration/antiziganismus/neuburger-hinrichs.pdf?__blob=publicationFile&v=3
 (DIR) [2] /Antiziganismus/!t5011482
 (DIR) [3] https://www.haz.de/lokales/hannover/rassismus-gegen-roma-in-hannover-vertreibung-an-den-arsch-der-welt-NFPOJSFHMJBLDPDCOCSS4RCVIU.html
 (DIR) [4] /Diskriminierung-von-Sinti-und-Roma/!5929965
 (DIR) [5] /Antiziganismus-Bericht-fuer-Deutschland/!5781261
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadine Conti
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Antiziganismus
 (DIR) Sinti und Roma
 (DIR) Hannover
 (DIR) Antiziganismus
 (DIR) Sinti und Roma
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
 (DIR) Antiziganismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Verbandsvorstände über Antiziganismus: „Ignoranz ist auch eine Form der Diskriminierung“
       
       Gibt es Fortschritte im Kampf gegen den Antiziganismus? Mario Franz und
       Jill Strüber vom Verband deutscher Sinti über Runde Tische und alte
       Traumata.
       
 (DIR) Angriff auf Gedenken: Mehr als nur ein paar Bäume
       
       Der Bau einer S-Bahn-Strecke gefährdet das Berliner Denkmal für ermordete
       Sinti und Roma. Nicht nur Vertreter der Minderheit wehren sich dagegen.
       
 (DIR) Grabstätten von Roma und Sinti: Endlich ist Ruhe
       
       Gräber von Sinti und Roma fallen auf: Groß, kitschig, raumgreifend. Doch
       eine spezifische Bestattungskultur gibt es nicht – dafür viele Klischees.
       
 (DIR) Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland: Die Vielfalt des Antiziganismus
       
       Diskriminierung gegen Sinti:zze und Rom:nja ist in Deutschland
       alltäglich, wie ein Bericht zeigt. Besonders betroffen sind ukrainische
       Geflüchtete.
       
 (DIR) Diskriminierung von Sinti und Roma: „Polizei ist immer das erste Thema“
       
       Antiziganismus ist weit verbreitet. Auch dort, wo die Minderheit auf den
       Staat trifft, kritisiert der Antiziganismusbeauftragte Mehmet Daimagüler.
       
 (DIR) Zahlen zu Antiziganismus in Berlin: Rassismus ist auch Behördensache
       
       Die neuen Zahlen der Dokumentationsstelle Antiziganismus zeigen: Corona und
       Ukraine-Krieg haben den Rassimus gegenüber Rom*nja noch verschärft.