# taz.de -- Der Hausbesuch: Paul im Glück
       
       > Manchmal bestimmen Zufälle das Leben. Der Oboenbauer Paul Hailperin hat
       > sich ihnen nicht in den Weg gestellt.
       
 (IMG) Bild: Paul Hailperin fertigt Insturmente nach Maß
       
       Paul Hailperin ist von optimistischer Natur. „Wir haben alle nur ein
       Leben“, sagt er.
       
       Draußen: Was schön ist in Zell im Wiesental im südlichen Baden, erschließt
       sich nicht sofort. Wer sucht, findet es versteckt in Winkeln. Dort eine
       Kapelle auf einer Anhöhe, da ein kleines Museum, eine historische
       Bibliothek. Ansonsten kleinstädtische Leere, mit drei nebeneinander
       liegenden Kirchen, der evangelischen, der altkatholischen, der
       katholischen, mit Häusern aus allen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts,
       mit kleinen Läden, die der Strukturwandel in den Konkurs getrieben hat. Am
       Busbahnhof, wo auch die S-Bahn nach Basel fährt, ist ein Eiscafé und eine
       Bäckerei-Filiale – immerhin und zum Glück mit WC. Parallel zur
       Bahnhofstraße verläuft die Gottfried-Fessmann-Straße. Dort ist das alte
       Postamt. Irgendwann wurde auch das geschlossen.
       
       Drinnen: Dass das Postamt zugemacht hat, ist Paul Hailperins Glück. Der
       wird zwar noch nicht unter den [1][„Söhnen und Töchtern der Stadt]“ auf
       Wikipedia gelistet, anders etwa als [2][Constanze Weber], die später Mozart
       heiratete, wichtig ist er dennoch. Denn die Oboen, Fagotte und Schalmeien,
       die Hailperin baut und die wie Stalagmiten in seiner Werkstatt von den
       Tischen aus in die Höhe zu wachsen scheinen, sind weltweit begehrt.
       
       Mit Heizung: Als er vor 15 Jahren an der geschlossenen Post vorbeiging,
       spürte er wieder diesen Wunsch, endlich in einer Werkstatt mit Heizung zu
       arbeiten. Die Postdirektion vermietete ihm den Filialraum. Er hat alles
       gelassen, wie es war, mit einer verglasten Wand, die die Beamten früher vom
       Publikum trennte. Darauf sind weiterhin die ehemaligen Dienstleistungen
       gelistet: Briefmarken, Einschreiben, Telegramme, Päckchen. „Für mich ist
       die Aufteilung perfekt, hinter der Glasscheibe mache ich die staubigen
       Drechselarbeiten. Davor bekommen die Instrumente ihr Finish.“
       
       Anglizismen: Ein paar englische Wörter im Gespräch unterzubringen, ist kein
       Problem. Der 1947 geborene Hailperin wuchs in Bethlehem im US-Bundesstaat
       Pennsylvania auf. Die Stadt wurde von der [3][Herrnhuter Brüdergemeine]
       gegründet, einer dem Pietismus nahestehenden reformistischen Kirche, die
       auf Jan Hus zurückgeht. Die Herrnhuter seien missionarisch gewesen, „aber
       sie sind etwas friedlicher drangegangen“ als andere Religionen, sagt
       Hailperin, sie hätten sich gut mit den Einheimischen verstanden. Wie dem
       auch sei, „ich brauch’s nicht“ – ohnehin ist seine Familie jüdischer
       Herkunft. Für Hailperin ist wichtiger, dass Musik in Bethlehem groß
       geschrieben wurde.
       
       Oppenheimer: In seiner Familie indes hatte niemand etwas mit Musik zu tun.
       Sein Vater war Mathematiker, arbeitete während des Krieges fürs Militär.
       Mathematische Logik war sein Fachgebiet. Er war damals im Umkreis von
       Oppenheimer tätig, der maßgeblich die erste Atombombe entwickelte und
       später sehr dagegen war. „Das ist [4][wegen des Oppenheimer-Films] doch
       gerade aktuell“, sagt Hailperin, deshalb erzähle er es. Der Zwiespalt,
       etwas mitentwickelt zu haben, was unheilvoll ist, soll auch seine Eltern
       umgetrieben haben. Ob sie Oppenheimer allerdings direkt kannten, weiß er
       nicht, „aber meine Mutter redete immer sehr persönlich von ihm“.
       
       Fügungen: Hailperin hat, sagt er, wahnsinnig viel Glück gehabt im Leben.
       Eins hätte sich immer ins andere gefügt. Angefangen in der Kindheit mit der
       Musikbegeisterung in der Stadt, die auf ihn übersprang. Sein erstes
       Instrument war die Klarinette, sein zweites das Klavier. „Irgendwie ergab
       sich das. Ich wurde gefragt, ob ich Unterricht wolle und ich wollte.“ Es
       gab Aufführungen, er spielte mit. Er wuchs in einem weltoffenen,
       intellektuellen Umfeld auf. Aber auch die Liebe zum Handwerk war da. „Die
       habe ich von meinem Vater.“ Mit ihm zusammen fing er an, Instrumente zu
       bauen. Sein erstes, eine Oboe aus Plexiglas, sein zweites ein Clavicord.
       
       Der Floh im Ohr: Bei einem Konzert an der Uni, an der sein Vater arbeitete,
       habe der eingeladene Cembalist zu Hailperin gesagt, „mach doch bei unserem
       Barockmusiksommerkurs mit“. Dort war ein Flötenspieler, der ihm empfahl,
       Barockoboe zu lernen. Und als hätte der ihm einen Floh ins Ohr gesetzt,
       machte Hailperin das, studierte es später dann auch am Musikkonservatorium
       des [5][Oberlin-Colleges], wurde wieder empfohlen, eingeladen und
       weitergereicht und landete so an der [6][Musik-Akademie in Basel]. Ihm war
       es recht. „Es war die Zeit des Vietnamkriegs, und ich wollte nicht Soldat
       sein.“
       
       Unter den Fittichen: Noch während des Studiums ruft [7][Nikolaus
       Harnoncourt] vom [8][Concentus Musicus Wien], einem Ensemble für
       Barockmusik, bei seinem Lehrer [9][Michel Piguet] in Basel an, sagt, ein
       Oboist sei für eine Konzertreise ausgefallen. „Piguet fragte mich.“ Bis
       heute weiß Hailperin nicht, warum er nicht selbst mitgefahren sei,
       schließlich war er ein renommierter Oboist. Das Orchester war schon in die
       USA vorgefahren, er kam nach. Minuten nach der Ankunft sei geprobt worden
       und gleich abends gab es eine Aufführung. „Ich taumelte da rein wie ein
       Naivling.“ Er hielt die Konzertreise durch, teilte mit dem Oboenvirtuosen
       [10][Jörg Schaeftlein] ein Zimmer, der nahm ihn unter seine Fittiche.
       Mehrere Fotos von ihm hängen im Postamt.
       
       Nach dem Diplom: 1970 beendete Hailperin die Musik-Akademie. Was dann? Er
       ging nach Wien, wurde Musiker des Concentus Musicus unter Harnoncourt.
       Nebenbei hatte er genug Zeit und Lust, Instrumente zu bauen. „Ich habe in
       Wien meine erste Oboenwerkstatt eingerichtet.“ Er verfeinerte das Können;
       verstand, dass jeder Oboist, jede Oboistin eigentlich ein auf ihn oder sie
       zugeschnittenes Instrument braucht und wurde so etwas wie Maßanfertiger
       für Oboen. Es läuft.
       
       Am Zürisee: Auch bei der Liebe lief es. Und wieder spielte die Musik eine
       Rolle. Bei einer Aufnahme in Zürich habe er eine Frau kennengelernt, die
       spielte eine Oboe, die er verkauft hatte. „Wir machten einen kleinen
       Spaziergang am Zürisee. Und dann hat es sich ergeben, dass wir geheiratet
       haben.“ Die Frau spielte in einem Orchester in Basel. „In Wien hätte sie in
       den 70er-Jahren als Frau keine Stelle gekriegt“, meint er. Das
       Orchesterwesen sei damals in Österreich noch eine Männerdomäne gewesen.
       Erst hatten sie eine Fernbeziehung, nach der Hochzeit zogen sie nach
       Deutschland. „Für mich als Amerikaner war es dort einfacher als in der
       Schweiz.“
       
       Sesshaftigkeit: In Zell im Wiesental, etwa 35 Kilometer von Basel, fanden
       er und seine Frau 1978 ein Bauernhaus. Drei Kinder zogen sie da groß,
       mittlerweile tummeln sich Enkel und eine Enkelin dort. Nach der Geburt der
       Kinder konzentrierte er sich ganz auf den Oboenbau. Seit 45 Jahren lebt er
       jetzt in Zell. Er macht, was man in einer Gemeinde tut, er mischt sich ein.
       Er wird Mitglied der örtlichen Grünen, Umweltthemen treiben ihn um. Solange
       er Amerikaner war, durfte er Ämter in der Partei übernehmen, aber kein
       politisches Mandat, neuerdings jedoch ist er im Stadtrat. Auch seine Frau
       bringt sich ein, spielt Orgel in der evangelischen Kirche, leitet den
       Männerchor in einem nahen Dorf. Eine Zeitlang inszenierten sie auch Opern
       in einem Bauernhaus im Wiesental. „Corona hat das zum Einschlafen
       gebracht.“
       
       Steuererklärung: Darauf angesprochen, dass er so viel Glück hatte,
       antwortet er: „So ist mein Leben.“ Und ob er nie Pech hatte? „Doch, wenn
       ich die Einkommenssteuer mache, so wie jetzt, fühle ich mich vom Pech
       verfolgt.“ Auch das sei ein Grund, warum er Deutscher wurde. Solange er
       Amerikaner war, musste er in den USA Steuern bezahlen. „Jedes Jahr ein
       Drama.“
       
       Die Einbürgerung: Nach 50 Jahren hatte er die Nase voll von den
       amerikanischen Steuerbehörden, er wollte den deutschen Pass und durchlebte
       eine Odyssee. „Man schimpft über die deutsche Bürokratie, aber hier war es
       die amerikanische.“ Mehrere Tausend Euro hat es ihn gekostet, seine
       amerikanische Staatsbürgerschaft loszuwerden. „Die wollten mich nicht gehen
       lassen.“ Noch mal angesprochen auf Glück, sagt er: „Ich bin imstande, mich
       darüber zu freuen, dass ich jetzt kein amerikanischer Staatsbürger mehr
       bin.“
       
       15 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Zell_im_Wiesental#Pers%C3%B6nlichkeiten
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 (DIR) [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Herrnhuter_Br%C3%BCdergemeine
 (DIR) [4] https://www.youtube.com/watch?v=kKpFmwxcl7U
 (DIR) [5] https://www.oberlin.edu/conservatory
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 (DIR) [7] https://www.harnoncourt.info/
 (DIR) [8] https://de.wikipedia.org/wiki/Concentus_Musicus_Wien
 (DIR) [9] https://fr.wikipedia.org/wiki/Michel_Piguet
 (DIR) [10] https://www.discogs.com/artist/962479-J%C3%BCrg-Schaeftlein
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Waltraud Schwab
       
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