# taz.de -- Sterbehilfe in Deutschland: Zwei Sorten Tod
       
       > Eine Liberalisierung der Sterbehilfe ist kein Akt der Humanität. Denn
       > unserer Gesellschaft ist es nicht wichtig, dass alle Mitglieder
       > überleben.
       
 (IMG) Bild: Wer wird am Leben festhalten?
       
       [1][Walter Jens] war zeit seines Lebens einer der vehementesten Verfechter
       der Sterbehilfe. Sein Sohn Tilman Jens erzählt in [2][„Demenz – Abschied
       von meinem Vater“], dass er auch privat von seiner Familie verlangte, ihn
       sterben zu lassen, sollten seine geistigen Kräfte nachlassen. Als dann die
       Demenz festgestellt wurde und sich im Laufe der Zeit immer stärker
       manifestierte, sprach er zwar weiterhin davon, bald sterben zu wollen;
       beendete seine Vorträge aber regelmäßig mit dem Satz: „Heute jedoch nicht.“
       Schlussendlich war es der Sohn, der es nicht fassen konnte, wie sein Vater
       glücklich Kaninchen fütterte und sich zufrieden die ihm gereichten
       Wurstwecken einverleibte – der Vater, dieser große Gelehrte! Der dieses
       Leben nie wollte! Und jetzt einfach – glücklich war! Wie kann das sein?
       
       Es ist nur eine Anekdote, aber eine, die geeignet ist, die Differenz
       zwischen Ideal und Wirklichkeit beim Thema Sterbehilfe aufzubrechen.
       Idealist*innen waren enttäuscht davon, [3][dass der Gesetzgeber sich
       wieder einmal nicht auf ein Modell zur gewerbsmäßigen Regelung der
       Sterbehilfe einigen konnte]. Diese Neuregelung war nötig geworden, weil das
       Bundesverfassungsgericht ein prinzipielles Verbot gewerbsmäßiger
       Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt hat (gewerbsmäßig heißt hier
       nicht, dass damit Profit gemacht wird, sondern dass das Angebot zur
       Assistenz regelmäßig geschieht).
       
       Bei Gesundheitsthemen kommt es regelmäßig zu Konflikten zwischen den
       Freiheiten einer gesunden Mehrheit und der Sicherheit einer gefährdeten
       Minderheit. Besonders heftig wurde dieser Konflikt während der
       [4][Coronapandemie] und zuungunsten der Gefährdeten entschieden. Auch beim
       Thema Sterbehilfe hat sich das Bundesverfassungsgericht auf die Seite der
       liberal Autonomen geschlagen, als es entschied, dass für eine Sterbehilfe
       Erkrankungen und dergleichen keine Rolle spielen, das Motiv also egal ist,
       mit [5][den Worten des Gerichts]: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen,
       umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe,
       soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
       
       Es ist dies ein gefährlicher Weg; ein Weg, der so tut, als hätte jedermann
       immerzu eine Wahl und als wäre das Gesundheitssystem tatsächlich ein
       Hilfesystem (was es auch ist) und nicht eine Zermürbungsmaschine (als das
       es sich insbesondere bei chronischen Erkrankungen häufiger erweist). Dieser
       Weg entspringt der Überzeugung, dass der Mensch dann am glücklichsten ist,
       wenn er für sich selbst einsteht und unabhängig ist.
       
       Zu dieser Idee des freien Menschen gesellt sich eine Politik, die
       Abhängigkeit bestraft. Hilfen sind teuer, das Geld wird knapper, die Zahl
       derjenigen, die Hilfe brauchen, wird größer, und in der Pandemie hat sich
       gezeigt, dass ein relevanter Teil der Ärzt*innenschaft sich nicht
       schützend vor besonders gefährdete Personen stellt, sondern lieber für die
       Aufhebung von Maßnahmen eintritt (so beispielsweise der Chef der
       Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, als er im Januar 2023
       ein Ende der Maskenpflicht in Arztpraxen forderte).
       
       [6][Jetzt nehmen die Fälle neurodegenerativer Erkrankungen zu], es wurde in
       Notaufnahmen [7][triagiert], es gibt dokumentierte Fälle von Bitten aus den
       Rettungsstellen an Altenheime, infizierte Patient*innen nicht
       einzuweisen; und trotzdem wird diesem System eine letztinstanzlich
       objektive Entscheidungsfindung anvertraut, ob jemand beim Sterben geholfen
       werden darf oder nicht. Weil alles andere zu teuer wäre.
       
       ## Es geht nicht um das Recht auf Suizid
       
       Es ist wichtig, noch einmal festzuhalten, worum es in den jetzt
       diskutierten Gesetzentwürfen geht: Es geht nicht um das Recht auf Suizid,
       es geht nicht einmal um das Recht auf assistierten Suizid. Beides ist
       erlaubt und Zweiteres wird in Einzelfällen auch praktiziert. Worum es jetzt
       geht, ist eine Liberalisierung bestehender Praktiken.
       
       Wenn wir über Sterbehilfe reden, müssen wir mindestens über zwei Sorten Tod
       sprechen: über den medizinischen Tod, den Tod des Körpers; und über den
       sozialen Tod, den ich etwas pathetisch den Tod der Seele nennen möchte. Ein
       Beispiel für den seelischen Tod ist besonders gut in [8][Fritz J. Raddatz’
       Tagebüchern] dokumentiert, der den Verlust an Ansehen und sozialer
       Teilhabe, die das Alter mit sich bringt, nicht erträgt; darüber auch
       schwermütig wird, wütend und gallig und irgendwann nicht mehr mag.
       „Lebenssatt“ heißt das offenbar neuerdings. Der zweite Band der Tagebücher
       ist ein Dokument dieses traurigen Ärgers, das Gefühl zu haben, nicht mehr
       genug zu sein, wenn er nicht mehr Fritz J. Raddatz ist.
       
       Diese Angst vor Verlust an Prestige und Bindung ist symptomatisch. 2021
       sprachen sich laut Umfragen 72 Prozent der Deutschen für eine Legalisierung
       aktiver Sterbehilfe aus.
       
       Was eine weitreichende Legalisierung sozial bedeutet, ist bereits
       dokumentiert. Es werden sich Menschen umbringen lassen, die keinen sozialen
       Ausweg mehr aus ihrer Misere sehen, und die eigentlich gerne weiterleben
       möchten. Amir H. Farsoud aus Kanada ist vermutlich das bekannteste
       Beispiel, 54-jährig, schwerbehindert. Er beschloss, es sei besser, tot zu
       sein, als wohnungslos. Deswegen beantragte er assistierten Suizid.
       
       ## „Die Regierung sieht mich als Müll“
       
       Die Freiheit der Entscheidung kann nur gewährleistet sein, wenn sie in
       einer Gesellschaft stattfindet, der das Überleben aller ihrer Mitglieder
       wichtig ist. Das ist aber in keiner westlichen Gesellschaft aktuell der
       Fall. Unter diesen Umständen ist Sterbehilfe keine humane Maßnahme, als die
       sie häufig angepriesen wird. Acht Tage vor ihrem Tod im Februar 2022
       [9][sagte eine kanadische Frau], die den Tod wählte, weil sie keine ihrer
       Behinderung entsprechende Wohnung fand, über die Gründe ihres assistierten
       Suizids: „The government sees me as expendable trash, a complainer, useless
       and a pain in the ass.“ (Die Regierung sieht mich als Müll, als Nörglerin,
       nutzlos, ich gehe ihnen auf den Sack.) Zwei Jahre lang hat sie sich zuvor
       an jede mögliche Stelle gewandt, um Hilfe zu bekommen, und niemand war da,
       um ihr zu helfen.
       
       Alan Nichols, ein depressiver Mann Anfang 60, wurde laut seiner Familie zum
       Suizid gedrängt, wobei die ausschlaggebende Diagnose nicht etwa seine
       Depressionen waren, sondern „Hörverlust“.
       
       Christine Gauthier, Veteranin und Paralympionikin, wurde von offizieller
       Stelle vorgeschlagen, sich umbringen zu lassen, als sie versuchte, die
       Finanzierung für eine Rollstuhlrampe zu bekommen.
       
       Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, seit der Liberalisierung der
       Sterbehilfe in Kanada ist die Zahl der assistierten Suizide um 1.000
       Prozent gestiegen. Der Bundestag tut gut daran, die vom
       Bundesverfassungsgericht verordnete Liberalisierung so sparsam wie möglich
       umzusetzen, weil es den Druck auf Menschen mit Behinderung erhöht.
       
       Denn was das Bundesverfassungsgericht die Autonomie der Entscheidung
       genannt hat, kann auch die Gleichgültigkeit der Gesellschaft sein. Solange
       das so ist, solange dieses die Bedingungen sind, ist Sterbehilfe kein Akt
       der Humanität, als der er von seinen Verfechter*innen gern verkauft
       wird, sondern eine Gefahr.
       
       8 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Walter-Jens-ist-tot/!5065644
 (DIR) [2] /Buch-ueber-Demenz-von-Walter-Jens/!5167094
 (DIR) [3] /Entscheidung-ueber-Sterbehilfe/!5942199
 (DIR) [4] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
 (DIR) [5] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.html
 (DIR) [6] https://link.springer.com/article/10.1007/s11825-018-0195-1
 (DIR) [7] /Corona-in-den-Kliniken/!5818729
 (DIR) [8] /Tagebuecher-von-Fritz-Raddatz/!5133059
 (DIR) [9] https://www.theguardian.com/world/2022/may/11/canada-cases-right-to-die-laws
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frédéric Valin
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte um Preis des PalliativVerbands: „Ich bin kein himmlischer Richter“
       
       Autor Frédéric Valin war für den Ehrenpreis des Deutschen Hospiz- und
       PalliativVerbands vorgeschlagen. Der Leiter des Verbandes erklärt, warum
       die Nominierung nun zurückgezogen wurde.
       
 (DIR) Urteil zum Suizidmedikament: Nichts für daheim
       
       Die Gerichtsentscheidung, dass das Medikament Natrium-Pentobarbital nicht
       privat aufbewahrt werden darf, ist richtig. Es könnte in falsche Hände
       geraten.
       
 (DIR) Debatte um Sterbehilfe: Nicht das Leben vergessen
       
       Der Bundestag hat sich nicht auf eine Regelung zur Sterbehilfe einigen
       können. Können wir jetzt erst mal über ein Leben in Würde für alle
       sprechen?
       
 (DIR) Gescheiterte Suizidhilfe-Gesetze: Die Ängste dominieren
       
       Die Politik scheut sich, die ärztliche Suizidhilfe zu institutionalisieren.
       Das begleitete Sterben bleibt also in der Grauzone – und ein Privileg.
       
 (DIR) Medizinethiker über Sterbehilfe: „Der Bundestag ist eingeknickt“
       
       Menschen in ausweglosen Leidenszuständen werden allein gelassen,
       kritisiert der Medizinethiker Ralf Jox. Das gelte auch für Sterbehelfer und
       hilfswillige Ärzte.