# taz.de -- Israels Protestbewegung: Wo ist der Gegenentwurf?
       
       > Israels Protestbewegung muss solidarisch sein mit den
       > Palästinensern. Und mit dem Interesse der jüdischen Bürger an einem
       > Leben in Sicherheit.
       
 (IMG) Bild: Protest gegen den Siedlungsbau nahe dem palästinensischen Dorf Beit Dajan im Juni 2023
       
       Es gab im israelischen Parlament, der Knesset, einen symbolischen Moment an
       diesem für die Geschichte Israels denkwürdigen 24. Juli 2023. In
       Live-Aufnahmen der Plenardebatte zur Abschaffung der sogenannten
       „Angemessenheitsklausel“, mit der das israelische [1][Oberste Gericht]
       bisher Regierungsentscheidungen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem
       Interesse der Allgemeinheit kassieren konnte, ist zu sehen, wie
       Verteidigungsminister Yoav Gallant vehement auf Justizminister Yariv Levin,
       den Architekten dieser radikalen Schwächung des Justizsystems, einredet.
       
       Levin solle wenigstens einen der unzähligen Einwände der Opposition in den
       Gesetzestext aufnehmen, um zumindest ein kleines Entgegenkommen zu
       signalisieren. „Gib ihnen doch etwas!“, sagt Gallant mehrmals. Levin
       beharrt darauf, dass der Gesetzesentwurf genau so durchgehen werde.
       Zwischen den beiden sitzt Premierminister Benjamin Netanjahu, scheinbar
       geistig abwesend, als ob ihn das alles nichts angehen würde. Er lässt die
       beiden munter auf offener Bühne streiten, während er parallel einen
       weiteren Einwand der Opposition mit seiner Stimme ablehnt. Kurze Zeit
       später steht er kommentarlos von seinem Sitzplatz auf und verlässt den
       Plenarsaal.
       
       Dieses Video lief am Abend [2][nach der Abschaffung der
       „Angemessenheitsklausel“], die trotz monatelanger, bisher nie dagewesener
       Proteste der israelischen Bevölkerung durchgesetzt wurde, in allen
       Hauptnachrichtensendungen des Landes. Der Tenor: Netanjahu habe sein
       politisches Schicksal in die Hände der antidemokratischen Hardliner seiner
       Regierung gelegt. Es seien diese Kräfte, die den radikalen, unilateralen
       Umbau Israels von einer liberalen, funktionierenden Demokratie mit einer
       dynamischen Wirtschaft in eine Diktatur vorantreiben würden.
       
       Die zunehmend fassungslosen Journalist:innen sprachen von der
       „Verantwortungslosigkeit“ Netanjahus im Hinblick auf die nationale
       Sicherheit sowie die finanzielle Stabilität des Landes. Er sei bereit,
       Israel „in den Abgrund zu führen“ – trotz des Drucks der israelischen
       Armeereservisten, trotz drohender Herabstufungen durch internationale
       Ratingagenturen und vor allem trotz der [3][deutlichen Kritik der
       US-Regierung].
       
       ## Bauboom in den Siedlungen
       
       Was in der gegenwärtigen liberalen Medienlandschaft (mit wenigen Ausnahmen)
       in Israel zu wenig Beachtung findet: Die zentralen Akteure beim anvisierten
       Abbau der demokratischen Schranken des israelischen Staates sind ebenfalls
       treibende Kräfte der nationalreligiösen Siedler:innenbewegung. Sie
       übertragen dabei ihre antidemokratischen Überlegenheitsvorstellungen aus
       dem Westjordanland auf das israelische Kernland.
       
       Gleichzeitig eskaliert die Gewalt von Siedler:innen gegenüber
       Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten unter Duldung der
       israelischen Armee, wie etwa beim Überfall auf das Dorf Huwara im Frühjahr
       2023 oder in Umm Safa im vergangenen Juni. Als Finanzminister ist der
       Siedler Smotrich zudem für die massive Umschichtung von Steuergeldern aus
       dem israelischen Kernland in die völkerrechtswidrigen Siedlungen
       verantwortlich, was dort unter anderem zu einem regelrechten Bauboom führt.
       
       Es ist gleichzeitig wichtig zu betonen, dass es zahlreiche
       Interessengruppen in dieser Regierung gibt (etwa die Ultraorthodoxen, die
       Mizrachim), die aus unterschiedlichsten Gründen die radikale Schwächung des
       Justizsystems unterstützen. Doch keine Gruppe benötigt die Abschaffung der
       unabhängigen Gerichtsbarkeit für ihre Ziele so sehr wie die
       Siedler:innen-Bewegung.
       
       Wegen dieser Verknüpfungen sprechen Akteur:innen des „Blocks gegen die
       Besatzung“, darunter „Breaking the Silence“ und „Standing Together“, im
       Kontext der Antiregierungsproteste von der „Siedler-Revolution“. Ihr Ziel
       ist es, die Mehrheit der Protestbewegung davon zu überzeugen, dass es keine
       „Demokratiebewegung“ ohne die Auseinandersetzung mit der 56 Jahre
       andauernden Besatzung der palästinensischen Gebiete geben könne.
       
       ## Die nächsten Monate entscheiden
       
       Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die politisch heterogene
       Protestbewegung. Die zentrale Frage ist, ob es ihr gelingen wird, einen
       programmatischen Gegenentwurf zu den rechtsautoritären Plänen der Regierung
       zu entwickeln, der einerseits die Mehrheit der Bewegung hinter sich
       versammelt, andererseits aber auch mutig genug ist, um den oben
       beschriebenen ideologischen Ursprung dieser rechtsautoritären Agenda zu
       benennen.
       
       Bisher sieht es jedoch nicht danach aus: Erst am vergangenen
       Demo-Wochenende hat eine der Anführerinnen der Protestbewegung, Shikma
       Bressler, mit Verweis auf Entwicklungen in Ländern wie Ungarn, der Türkei
       oder auch Iran öffentlich einen kausalen Zusammenhang zwischen
       Besatzungslogik und dem derzeit laufenden Umbau des Staates verneint. Dies
       ist taktisch und auch emotional verständlich.
       
       Nichtsdestotrotz ist es wichtig, [4][die Protestziele] in eine integrative
       politische Botschaft auszuweiten, die neben der Solidarität mit den
       Palästinenser:innen in Israel und in den besetzten Gebieten auch das
       legitime Eigeninteresse der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels nach
       einem Leben in Sicherheit aufnimmt.
       
       Weiterhin braucht es eine Verbindung mit der im Land höchst virulenten
       sozialen Frage (Israel ist eines der OECD-Länder mit den höchsten
       Einkommensunterschieden) sowie mit dem strukturellen Rassismus innerhalb
       der israelischen Gesellschaft (gegenüber den palästinensischen
       Staatsbürger:innen des Landes, aber auch gegenüber marginalisierten
       Teilen der jüdischen Bevölkerung, etwa den Mizrachim oder den äthiopischen
       Jüdinnen und Juden), um diese Bevölkerungsgruppen für die Proteste zu
       gewinnen.
       
       Dies klingt in der jetzigen Situation zugegebenermaßen realitätsfern, doch
       es ist genau diese Realität, die schon eine ganze Zeit lang für die meisten
       Menschen hier vor Ort untragbar ist.
       
       2 Aug 2023
       
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