# taz.de -- Epoche des Menschen: Explosiv ins nächste Zeitalter
       
       > Der Beginn einer neuen Epoche der Erdgeschichte soll diesen Sommer
       > beschlossen werden. Das Anthropozän soll zeitgleich mit der Atombombe
       > beginnen.
       
 (IMG) Bild: Erster Atombombentest 1945
       
       Der Astronom Carl Sagan veranschaulichte 1977 in seinem Cosmic Calendar die
       Entwicklung der Erde anhand eines Kalenderjahres: Ereignete sich der
       Urknall am 1. Januar um 0:00 Uhr, so entstand die Erde um den 2. September
       herum. Erste primitive Lebensformen gab es ab dem 21. September, und erst
       am vorletzten Tag des Jahres starben die Dinosaurier aus. Die ersten
       Hominiden tauchen dann am Nachmittag des 31. Dezember auf, an dessen spätem
       Abend, um 23:48 h, der Homo Sapiens die Bühne betritt. Unsere aktuelle
       erdgeschichtliche Epoche, das Holozän, beginnt erst in der letzten halben
       Minute dieses kosmischen Jahrs, um 23:59:32 h.
       
       Nun, 28 Sekunden später, sind wir offenbar in einen neuen
       erdgeschichtlichen Abschnitt eingetreten, das Anthropozän. Offiziell
       eingeführt werden soll es in diesem Sommer durch die Anthropocene Working
       Group (AWG), eine Untersektion der International Union für Geological
       Sciences (IUGS), die als Wächterin der Geologie bestimmt, wie Schulkinder
       die Erdgeschichte in Erdkunde lernen. Wann [1][dieses Anthropozän] begonnen
       hat, darüber wurde in den letzten 20 Jahren lange debattiert. Nun wird man
       seinen Beginn wohl auf eines der Jahre zwischen 1950 und 1953 ansetzen:
       nach dem Komischen Kalender wäre das am 31. Dezember um 23:59:59:83 h.
       
       Die Einführung des Anthropozäns macht offiziell, was
       Wissenschaftler:innen seit dem 19. Jahrhundert diskutiert haben: Der
       Mensch ist zum biologischen und geologischen Faktor geworden. Er wurde, so
       der Anthropologe Christoph Antweiler, „zu einer Kraft, die den Planeten,
       genauer die Bio- und Geosphäre, maßgeblich formte. Einen empirisch
       gesicherten Bruch bildete der weltweite Trendwechsel von Bausteinen zu
       Beton bei Gebäuden seit etwa 1950 und die plötzliche Zunahme von Asphalt
       als Straßenbelag ab 1960.“ Auch die Biomasse der Nutztiere übersteigt
       mittlerweile die der freilebenden Tiere bei Weitem.
       
       Paradoxerweise könnte also gerade der Erfolg des Menschen als Naturwandler
       [2][seinen eigenen Untergang bedeuten] – wenn nämlich die menschengemachte
       Erderwärmung mit der prognostizierten Wucht eintritt und die entsprechenden
       Kipppunkte auslöst. In einer bizarren Pointe wäre dann ausgerechnet das
       Anthropozän das letzte Zeitalter des anthropos, auch wenn es ihn überdauern
       würde.
       
       ## Atombombe ausschlaggebend
       
       Die AWG wird, nach mehrjähriger Vorarbeit, im Sommer in Berlin wohl
       offiziell einen Geomarker und einen Zeitpunkt vorschlagen, mit denen sie
       das Anthropozän beginnen lassen will. Der Termin der Verkündung wurde
       mehrmals verschoben, denn die geologische Festlegung des Anthropozäns ist
       kompliziert: Der Marker muss noch in ferner Zukunft nachweisbar sein, und
       zwar im Gestein.
       
       Der aktuelle Anstieg der CO2-Emissionen lässt sich seit 1780, die
       Erderwärmung seit etwa 1850 nachweisen; was es aber braucht, ist ein
       sogenannter Global Stratigraphic Section and Point (GSSP), also ein
       Nachweis, dass sich etwas in der Natur global und schlagartig geändert hat.
       
       Das können Fossilien sein, die nur bis beziehungsweise erst ab einem
       bestimmten Datum auftreten, oder Anomalien in der Zusammensetzung der
       Atmosphäre, die in sogenannten Bohrkernen konserviert wird. So wird der
       Übergang vom Erdmittelalter zur Erdneuzeit vor 66 Millionen Jahren an
       einer erhöhten Konzentration von Iridium festgemacht. Sie lässt sich erst
       bei Gestein ab diesem Alter nachweisen – und kam mit dem Asteroiden, der
       die Dinosaurier ausrottete, auf die Erde.
       
       Für die Welle der kulturellen und ökologischen Umbrüche seit etwa 1950
       prägte mit anderen der – erst in diesem Januar verstorbene –
       US-amerikanische Chemiker Will Steffen den Begriff der „Great
       Acceleration“, der „Großen Beschleunigung“.
       
       Niemals in der Geschichte der Menschheit habe sich die Biosphäre in kurzer
       Zeit so radikal verändert wie in den vergangenen siebzig Jahren.
       CO2-Ausstoß, Temperatur, Kunststoffe: die Kurven aller dieser Indikatoren
       gehen, nachdem sie für Jahrhunderte und Jahrtausende flach verlaufen, auf
       einmal exponentiell nach oben. Man spricht daher vom Hockeyschlägermodell.
       
       Im Falle des Anthropozäns wird sich der voraussichtliche GSSP auf ebenjene
       Zeit beziehen, und zwar auf den radioaktiven Fallout seit den ersten
       oberirdischen Atombombentests um 1950. Denn anders als der CO2-Gehalt, der
       sich zwar in vergleichsweise kurzer Zeit, aber dennoch sukzessive erhöht,
       tritt die neuartige erhöhte Konzentration von Uran und Plutonium
       schlagartig auf – und wird Jahrhunderttausende, wenn nicht Jahrmillionen
       brauchen, um sich wieder abzubauen.
       
       So werden nicht die Erderwärmung und die menschlichen
       Treibhausgasemissionen seit der Industrialisierung den Ausschlag für ein
       neues Zeitalter geben, sondern die Atombombe, hervorgegangen aus der
       phantasmagorischen Fähigkeit des Menschen, nicht nur unter die
       Erdoberfläche, sondern sogar auf die Ebene der Elementarteilchen
       vorzudringen, Atomkerne zu spalten und damit apokalyptische Energien
       freizusetzen.
       
       Das Holozän, die erdgeschichtliche Stufe, auf der wir uns seit 11.800
       Jahren befunden haben, wäre damit vorbei. Für die geologische Verortung des
       Anthropozäns sind mehrere Sites mit gut erhaltenen Gesteinsformationen in
       der Auswahl. Der Lake Crawford in Ontario in Kanada mit seinen vom
       Menschen unberührten Sedimenten hat aktuell wohl besonders gute Aussichten.
       
       Dass man das Anthropozän erst um 1950 beginnen lassen will, war und ist
       nicht unwidersprochen. Zum einen lässt sich alles, was die Philosophie der
       Postmoderne, der Moderne oder der Neuzeit zuschreibt – die prometheische
       Selbsterhöhung des Menschen, der instrumentelle Weltzugriff, Patriarchat,
       Kapitalismus und Umweltzerstörung –, auch schon dem Holozän im Ganzen
       vorwerfen. Es begann mit dem Ende der letzten Kaltzeit, das die
       landwirtschaftliche Revolution, Sesshaftigkeit und damit Zivilisation
       ermöglichte.
       
       Zum anderen gibt es auch in der Naturwissenschaft Überlegungen, das
       Anthropozän früher anzusetzen. William Ruddiman, ein Hauptvertreter der
       Early Anthropocene Hypothesis, argumentierte schon 2003 mit der Erhöhung
       des Methangehalts in der Atmosphäre vor etwa 9.000 Jahren, die auf den
       Beginn des Reisanbaus in Ostasien zurückgeht. Paul Crutzen und Eugene
       Stoermer, die den Begriff Anthropozän im Jahr 2000 popularisierten,
       schlugen als seinen Beginn das Jahr 1784 vor: koinzident zum Beginn der
       Industrialisierung und dem des anthropogenen Anstiegs der atmosphärischen
       CO2-Konzentration.
       
       Nun aber soll das Anthropozän um 1950 begonnen haben und damit parallel zur
       Großen Beschleunigung. Damit würde die AWG einer Idee von Jan Zalasiewicz
       folgen: Der britische Geologe ist Vorsitzender der Subcommission for
       Quarternary Stratigraphy, einer Unterabteilung der IUGS, und bezeichnete
       als Beginn des Anthropozäns den 16. Juli 1945, 11:29:21 Uhr: den Moment des
       ersten erfolgreichen Atombombentests in Alamogordo.
       
       Damit beugt die AWG auch der Tendenz zur Beschwichtigung vor, die einer zu
       weiten Rückdatierung des Anthropozäns innewohnt. Diese könnte nämlich dazu
       verleiten, mit „es war ja schon immer so“ zu argumentieren und damit die
       Grenzsituation des menschengemachten Klimawandels kleinzureden – auch wenn
       der am Ende nicht als primärer Marker für das Anthropozän fungiert.
       
       16 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Erderwaermung-und-Degrowth/!5917286
 (DIR) [2] /Dystopischer-Roman-Wie-die-Fliegen/!5938461
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konstantin Sakkas
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Anthropozän
 (DIR) Zeitrechnung
 (DIR) Weltgeschichte
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) Steuern
 (DIR) Anthropozän
 (DIR) München
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Forschung zum Anthropozän: In welchem Zeitalter wir leben
       
       Hat der Mensch die Erde so verändert, dass wir eine neue Epoche ausrufen
       müssen? Forschende haben nun einen Referenzpunkt benannt.
       
 (DIR) Kommentar Steuern für IT-Konzerne: Willkommen im digitalen Zeitalter
       
       Die EU-Kommission will globale Internetriesen stärker zur Kasse bitten.
       Klingt gut, doch die werden sich rächen – am Verbraucher.
       
 (DIR) Neue geologische Epoche: Verflixtes Anthropozän
       
       Eine internationale Forschergruppe will seit letztem Jahr ein neues
       Erdzeitalter, das Anthropozän, ausrufen. Bei der Umsetzung hakt es jedoch.
       
 (DIR) Ausstellung im Deutschen Museum: „Auf Wiedersehen im Anthropozän“
       
       Eine Kernfrage der Anthropozän-Ausstellung ist: Wird es dem Menschen
       gelingen, sich vom Parasiten der Erde zu dessen Symbionten zu verwandeln?