# taz.de -- Geheimdienst bedrängt Journalisten: Abtauchen, um zu überleben
       
       > Sami Alloush arbeitete mit Beginn des Syrienkriegs für ausländische
       > Medien. Er geriet ins Visier des türkischen Geheimdienstes und musste
       > fliehen.
       
 (IMG) Bild: Was als Täuschung beginnt, ist sein Leben: Alloush ist heute kein Journalist, sondern Freitaucher
       
       Sami springt ins Wasser. Kopfüber taucht er an einem Seil entlang in die
       Tiefe. Er ist Freitaucher. 10 Meter, 20 Meter. Sein Herzschlag verlangsamt
       sich. Die bösen Gedanken verschwinden. Geschichten von der
       türkisch-syrischen Grenze aus seiner [1][Zeit als Journalist]. 30 Meter.
       Der Tag, an dem er vom türkischen Geheimdienst kontaktiert wurde. Angst. 40
       Meter. Der Moment, als ihn die Agent*innen zwingen, andere
       Journalist*innen auszuspionieren. Verweigerung. 50 Meter. Er ist Syrer,
       hat keine Rechte in der Türkei. Sie drohen ihm mit Abschiebung.
       Hilflosigkeit. 60 Meter. Er beschließt, die Türkei, seine Familie und
       Freunde zu verlassen. Depression. 70 Meter. Er ist auf den Philippinen. Die
       Türkei verhängt ein Einreiseverbot. Gestrandet. 80 Meter. Es gibt kein
       Syrien, keine Türkei mehr. Dunkelheit.
       
       Sami Alloush* zieht 2009 in die Türkei, um Architektur zu studieren. Als
       2011 der syrische Bürgerkrieg ausbricht, ist er in Gaziantep. Er will
       helfen, spricht Türkisch, Arabisch, Englisch, meldet sich als Freiwilliger
       in einem Krankenhaus. Später arbeitet er als Fixer für ausländische Medien
       wie The Times, Reuters, ZDF. Sami berichtet über Grenzübertritte,
       Abschiebungen, Geflüchtete und Militäroffensiven der türkischen Armee.
       Heute lebt er auf den Philippinen. Auf seinen Social-Media-Posts sieht er
       glücklich aus. Am Telefon klingt er müde und erzählt von der Nacht, die
       sein Leben veränderte.
       
       Es ist April 2021, sein Telefon klingelt. Der Anrufer stellt sich als „Cem“
       vor. Er arbeitet für den türkischen Geheimdienst MİT und möchte sich mit
       ihm treffen. Sami erstarrt, weiß nicht, was er tun soll. Sein Status ist
       prekär. Trotz Aufenthaltsgenehmigung kann er abgeschoben werden. Eine
       Rückkehr nach Syrien kommt nicht infrage.
       
       Seit Jahren berichtet er kritisch über die Regierung, die Opposition,
       manchmal über die Türkei. Später wird ihm sein Anwalt sagen, dass er nie zu
       dem ersten Treffen hätte gehen dürfen. Sami sagt, er habe das Gefühl
       gehabt, keine Wahl zu haben: „Syrer sind traumatisiert vom Geheimdienst.
       Wenn sie „komm“ sagen, dann gehst du.“
       
       ## Treffen in schicken Restaurants
       
       9. April 2021. Hilton Hotel, Şişli, İstanbul. Sami betritt die Hotellobby.
       50 Minuten später tauchen drei Personen auf. Zwei Männer, eine Frau. Sie
       sagen ihm, dass es keinen Grund gebe, sich Sorgen zu machen: „Sie lächelten
       die ganze Zeit. Sie haben mich langsam gekocht, wie wir auf Arabisch
       sagen.“ Das Treffen dauert etwa zwei Stunden. Sie erzählen ihm Details aus
       seinem Privatleben, geben ihm zu verstehen: Solange er als Journalist
       arbeitet, muss er die türkische Regierung über seine Arbeit informieren.
       
       Ein zweites Treffen findet Ende April statt. Ein drittes im Juni, ein
       weiteres im Juli. Sie treffen sich in schicken Restaurants. Sami gibt
       oberflächliche Informationen über seine Arbeit preis, um die Agent*innen
       bei Laune zu halten: „Innerlich habe ich geschrien, aber ich konnte
       niemandem davon erzählen.“ Die Fragen werden manipulativer. Sie wollen
       wissen, ob einzelne Journalist*innen versuchen, „die Türkei schlecht
       darzustellen“.
       
       Sie kontaktieren Sami unter dem Namen „Öykü“ über Whatsapp, die Nachrichten
       liegen der taz vor. Der Ton ist herablassend. Hinter höflichem Smalltalk
       erkennt man Einschüchterungsversuche. Ende Juli rufen sie Sami von einer
       neuen Nummer aus an. Sie geben ihm Infos, die nur er kennen kann: „Guten
       Morgen, Sami. Wir werden in Zukunft über diese Telefonleitung sprechen. Bei
       unserem ersten Treffen haben wir dich 50 Minuten warten lassen, bei unserem
       letzten Treffen haben wir den gleichen Salat gegessen;)“. Sami antwortet:
       “;)„
       
       „Ein Fotojournalist in Istanbul sucht einen Übersetzer. Wenn du jemanden
       kennst, der ein paar Monate Gehalt braucht, hier ist die E-Mail-Adresse.“
       Sami fragt: „Woher kommt diese Nachricht?“ „Wir geben unsere Kontakte nicht
       weiter, Sami, entschuldige bitte.“ Sami hakt nach: „Warum habt ihr mir das
       geschickt?“ „Gute Frage:) Durch dich könnten wir mehr über unsere neuen
       Gäste hier erfahren.“ Sami sagt, dass er sich für die Stelle bewerben wird,
       tut es aber nicht. Sie fordern ihn auf, Screenshots von Gesprächen zu
       schicken, von denen Sami weiß, dass sie irrelevant sind. Er denkt, solange
       er nicht Nein sagt, sei er sicher. „Ein einziges Mal habe ich Nein gesagt.
       Schau, wo ich jetzt bin.“
       
       ## Journalist*innen droht jederzeit Abschiebung
       
       In der Türkei leben derzeit 5,5 Millionen Migrant*innen, etwa 3,5 Millionen
       stammen aus Syrien, davon sind 200.000 eingebürgert, weitere 100.000
       besitzen eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung. Alle anderen haben einen
       Status als „temporärer Gast“. Migrant*innen können bei rechtswidrigem
       Verhalten abgeschoben werden. Die Stimmung gegen sie ist rassistisch
       aufgeladen. Populisten machen sie für die Wirtschaftskrise verantwortlich.
       Fast alle Oppositionsparteien fordern ihre Ausweisung. Als Reaktion hat die
       Regierung die Zahl der Abschiebungen erhöht.
       
       Laut dem Innenministerium wurden im Jahr 2022 etwa 110.000 Menschen
       abgeschoben, die meisten von ihnen nach Afghanistan. Syrer*innen werden
       offiziell nicht abgeschoben. Bei rechtswidrigem Verhalten gibt es die
       sogenannte freiwillige Rückkehr. Für Journalist*innen kann jegliches
       Verhalten in der Türkei eine Rechtswidrigkeit darstellen. Der syrische
       Journalist Majed Shamaa parodierte in einem Video die Aussage eines
       Bürgers, er könne sich aufgrund der Wirtschaftskrise keine Bananen leisten,
       während Syrer kiloweise Bananen äßen. Daraufhin erstattete ein Mitglied der
       rechten İYİ Parti Anzeige, woraufhin er verhaftet wurde. Shamaas
       Abschiebung konnte nur durch großen öffentlichen Druck verhindert werden.
       Laut seinem Anwalt sei er gezwungen worden, eine „freiwillige Rückkehr“ zu
       unterschreiben.
       
       Die Beziehung zu den Agent*innen ist einseitig. Einmal versucht Sami,
       etwas im Gegenzug zu bekommen. Im Oktober 2021 beantragt er eine
       Akkreditierung für die Überfahrt nach Syrien. Sami schreibt auf Whatsapp,
       er würde sich freuen, wenn der Antrag angenommen würde. Sami erklärt das
       als Abwehrmechanismus: „Ich war hilflos. Ich wollte etwas im Gegenzug
       verlangen, um das Gefühl zu haben, dass ich ihnen gegenüber Macht habe.“
       Der Antrag wird abgelehnt.
       
       Sami glaubt, die Agent*innen erhalten ihre Informationen vom türkischen
       Direktorat für Kommunikation, das 2018 unter Präsident Erdoğan gegründet
       wurde, um regierungsfreundliche Propaganda zu verbreiten. Es akkreditiert
       außerdem Journalist*innen. Ohne einen Presseausweis des Direktorats
       können Medienschaffende jederzeit wegen Terrorpropaganda angeklagt werden.
       Sami ist akkreditiert, hat aber dennoch Angst.
       
       ## Dreiste Anfragen, gefährliche Drohungen
       
       Mit der Zeit werden die Anfragen immer dreister. Sie wollen Informationen
       über zwei französische Journalist*innen, die zur syrischen Grenzen
       reisen. Ob Sami die beiden kenne? Sie wollen, dass er mit ihnen
       zusammenarbeitet. Das geht Sami zu weit. Er bittet um ein Treffen. Am 4.
       Oktober 2021 treffen sie sich in einer Fleischerei im Stadtteil Fatih. Sie
       drohen ihm, seiner Mutter und seinen Geschwistern mit Gefängnis und
       Abschiebung.
       
       Sami hat viel darüber nachgedacht, einfach zu tun, worum sie ihn gebeten
       haben. Er entscheidet sich dagegen: „Sie sahen in mir einen schwachen
       Flüchtling, der alles tun würde.“ Nach diesem Treffen verändert sich alles.
       
       Am 28. Januar 2022 schreiben sie: „Hallo Sami, ich sehe auf deinen Fotos,
       dass du Skifahren warst, wie schön. Am 4. Februar findet eine Veranstaltung
       statt, an der auch N. Meyer-Landrut, der Botschafter der EU-Delegation,
       teilnimmt. Es wäre toll, wenn du ebenfalls hinfahren könntest.“ Sami fragt:
       „Ist das ein Angebot, mit Ihnen zusammenzuarbeiten?“ „Hast du keine Lust
       dazu?“ Sami antwortet nicht.
       
       Fortan weicht Sami ihren Anfragen aus. Er sei nicht in Istanbul, krank,
       psychisch ausgelaugt. Sami lügt nicht. Er verschweigt nur die Ursache. Der
       Kontakt mit den Agent*innen hat ihn depressiv gemacht. Er geht in den
       Südosten, wo seine Familie lebt, bittet NGOs aus dem Ausland um Hilfe, ohne
       Erfolg. Schließlich zieht er in die Küstenstadt Kaş und beginnt mit dem
       Freitauchen: „Es ist nicht nur gut für meine mentale Gesundheit. Ich
       dachte, wenn ich gut darin werde, kann ich zeigen, dass ich kein Journalist
       mehr bin, damit sie mich in Ruhe lassen.“
       
       ## Flucht nach Übersee
       
       Sie lassen ihn nicht in Ruhe. Am 9. November 2022 erhält Sami einen Anruf,
       diesmal vom Amt für Migration in Antalya. Sie sagen, sie aktualisierten die
       Fingerabdrücke der dort lebenden Geflüchteten. Er geht nicht zum Termin. Am
       16. November ruft er das Migrationsamt an und erfährt, dass seine
       Fingerabdrücke bereits im System gespeichert sind. Einen Tag später erhält
       er einen Anruf von der Polizei in Antalya, er müsse vorbeikommen und einige
       Papiere unterschreiben. Am nächsten Tag geht er mit seinem Anwalt hin. Zwei
       Beamte nehmen ihn mit und lassen den Anwalt draußen. Bei diesem Treffen
       sagen ihm die Beamten, er solle sich mit den Agent*innen in Istanbul in
       Verbindung setzen, sonst werde er abgeschoben.
       
       Es gibt in der Türkei kein Leben mehr für ihn. Sami beschließt, das Land zu
       verlassen. Am 1. Dezember 2022 erhält er ein Visum für Thailand und die
       Philippinen. Am nächsten Tag sitzt er im Flieger. Am 5. Dezember 2022
       verhängen die türkischen Behörden ein einjähriges Wiedereinreiseverbot. Der
       von seinem Anwalt geteilte Screenshot, der der taz vorliegt, zeigt, dass
       Wochen später seine Aufenthaltsgenehmigung widerrufen wird. Am 26. Dezember
       erhält er ein fünfjähriges Einreiseverbot. Die Begründung: Aktivitäten
       gegen die nationale Sicherheit.
       
       Sami trainiert jeden Tag. Er nimmt an Wettkämpfen teil. Was als Therapie
       und Täuschung begann, ist jetzt sein Leben. Eine Rückkehr in die Türkei ist
       derzeit ausgeschlossen. Auch bei einer Wahlniederlage von Erdoğan am 14.
       Mai, würde das Verbot nicht aufgehoben, glaubt er. Für die Syrer*innen
       könnte es sogar noch schlimmer werden. Die Geflüchteten nach Hause zu
       schicken ist Teil des Wahlkampfversprechens der Opposition.
       
       Sami fürchtet um seine Familie: „Vielleicht werden sie wegen eines
       Strafzettels abgeschoben.“ Zu allem Überfluss läuft Ende des Jahres auch
       noch sein Reisepass ab. Da ihm die Syrer wohl keine neuen ausstellen
       werden, sucht er händeringend nach einem Land, das ihm ein Visum gibt,
       bevor er irgendwo Asyl beantragen muss. Diese Ungewissheit belastet ihn.
       Nur das Wasser lässt ihn zur Ruhe kommen. Lässt ihn abtauchen.
       
       * Name ist der Redaktion bekannt, aber aus Sicherheitsgründen geändert. 
       
       Ali Çelikkan wurde 1990 in Istanbul geboren. Er arbeitete als Redakteur für
       die Cumhuriyet. Bei der taz war er Co-Projektleiter und Redakteur des
       deutsch-trükischen Onlineprojekts taz.gazete. Seit 2020 arbeitet er in
       Berlin als freier Journalist, unter anderem für die taz, der Freitag, Le
       Monde diplomatique. 
       
       Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage
       der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der
       Pressefreiheit erschienen.
       
       3 May 2023
       
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