# taz.de -- Türkische Wahl im Ausland: Transnationale Wahlkampfbühne
       
       > Der Blick auf türkische Wahlberechtigte im Ausland hat Tradition. Ihre
       > Stimmen sind nicht ausschlaggebend, der Wahlkampf um sie aber
       > strategisch.
       
 (IMG) Bild: Arbeitsminister Ali Naili Erdem bei einem Besuch in einem Gastarbeiterzentrum 1966 in Stuttgart
       
       Vor [1][Wahlen in der Türkei] wird Deutschland regelmäßig zur
       transnationalen Wahlkampfbühne. Mehr als 1,5 Millionen Menschen mit
       türkischem Pass können in Deutschland wählen, und damit fast die Hälfte
       aller Wahlberechtigten im Ausland, die rund 5 Prozent der 64 Millionen
       türkischen Wahlberechtigten ausmachen.
       
       Bei knappem Wahlausgang könnten diese Stimmen entscheidend sein. Als im
       Januar der AKP-Abgeordnete Mustafa Açıkgöz in einer den rechtsextremen
       Grauen Wölfen nahestehenden Moschee in Neuss Wahlkampf machte und gegen die
       PKK und die Gülen-Bewegung hetzte, weckte das Erinnerungen an 2017.
       
       Damals hatten kurz vor dem Referendum über eine neue Verfassung in der
       Türkei im April 2017 Wahlkampfauftritte türkischer Politiker*innen in
       Deutschland schwere politische Spannungen ausgelöst. Zusammen mit der
       Inhaftierung deutscher Staatsbürger in der Türkei markierte die
       diplomatische Krise einen historischen Tiefpunkt in den Beziehungen der
       beiden Länder.
       
       Im Juni [2][2017 verhängte die Bundesregierung drei Monate vor der Wahl ein
       Wahlkampfverbot] für Abgeordnete aus Nicht-EU-Staaten und es gab eine
       Genehmigungspflicht für Wahlkampfveranstaltungen außerhalb dieses
       Zeitraums. Auch diesmal lud das Außenministerium den türkischen Botschafter
       zum Gespräch und erklärte, Auftritte wie der in Neuss dürften sich nicht
       wiederholen, Hetze und Hassrede hätten in Deutschland nichts verloren. Der
       türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte einen für Ende Januar
       geplanten Berlinbesuch ab, weil man sich, wie das Redaktionsnetzwerk
       Deutschland berichtete, nicht auf Themen und eine Uhrzeit für das Treffen
       mit Bundeskanzler Scholz einigen habe können.
       
       ## Türkischer Wahlkampf 1973
       
       Dass sich vor Wahlen in der Türkei der Blick der Politiker und der
       Gesellschaft auf die Wahlberechtigten mit türkischem Pass im Ausland
       richtet, ist nicht neu, sondern hat jahrzehntelange Tradition in der
       deutsch-türkischen Geschichte. Bereits vor 50 Jahren kam es in Frankfurt am
       Main zu einem ähnlichen Zwischenfall wie jenem in Neuss. Ende Juli 1973
       besuchte der Arbeitsminister Ali Naili Erdem von der konservativen Adalet
       Partisi (Gerechtigkeitspartei, AP) Deutschland, um vor der Wahl in der
       Türkei am 14. Oktober 1973 mit Arbeitsmigrant*innen über ihre Probleme
       zu sprechen.
       
       Im Jahr 1973 lebten fast eine Million türkische Staatsbürger*innen in
       Westdeutschland und es bahnte sich ein politisch bewegter Spätsommer und
       Herbst an. In der Türkei sollten drei Monate später nach zwei Jahren
       Ausnahmezustand zum ersten Mal seit dem Militärputsch am 12. März 1971
       wieder Wahlen stattfinden.
       
       In Deutschland sollten nur wenige Wochen nach Erdems Besuch
       Arbeitsmigrant*innen mit wilden Streiks gegen schlechte
       Arbeitsbedingungen zuerst den Fabrikbetrieb bei Pierburg in Neuss und dann
       bei Ford in Köln lahmlegen. Vier Monate später, im November 1973, sollte
       die Bundesregierung einen Anwerbestopp für Arbeitsmigrant*innen
       verhängen. Einige Historiker*innen sehen einen Zusammenhang zwischen
       den Ereignissen, denn politische Aktivitäten von „Gastarbeitern“ waren in
       Deutschland nicht erwünscht.
       
       All das lag bei dem Besuch des türkischen Arbeitsministers Erdem im Juli
       1973 in der Luft. Die Bundesregierung wollte nicht in den türkischen
       Wahlkampf verwickelt werden und hatte aus Sorge davor einen Besuch des
       Oppositionsführers Bülent Ecevit von der CHP auf einen Termin nach den
       Wahlen verschoben. Sie ging davon aus, dass die CHP die Wahl verlieren
       würde und ein Besuch Ecevits in Deutschland von der konservativen AP als
       Wahlkampfunterstützung verstanden werden könnte.
       
       ## Linke sabotieren Auftritt des Arbeitsministers
       
       Ironischerweise sorgte wenig später der Auftritt des konservativen
       Arbeitsministers Erdem in Frankfurt dafür, dass Deutschland doch zur Bühne
       eines Eklats im türkischen Wahlkampf wurde. Denn Erdem wurde am 31. Juli
       1973 in Frankfurt nicht von jubelnden Anhänger*innen begrüßt, sondern
       von linksgerichteten Arbeitsmigrant*innen. Nach der Veranstaltung in
       Frankfurt brach Erdem seine Deutschlandreise aufgrund von
       Sicherheitsbedenken vorzeitig ab und kehrte in die Türkei zurück.
       
       Der Nachrichtenagentur dpa gegenüber begründete er seine verfrühte Abreise
       damit, die Polizei habe nicht für seine Sicherheit garantieren können. Eine
       Gruppe von 70 bis 80 linksradikalen Migrant*innen habe die Versammlung
       wiederholt sabotiert, so Erdem. Die Frankfurter Polizei dementierte, dass
       die Sicherheit des Arbeitsministers gefährdet gewesen sei.
       
       Was an jenem Abend genau vorgefallen war, ließ sich nicht zweifelsfrei
       aufklären, gab aber türkischen Zeitungen Anlass zu Spekulationen. In der
       konservativen türkischen Presse kursierten Behauptungen, linksgerichtete
       Migrant*innen hätten Banner mit Hammer und Sichel im Saal aufgehängt,
       bei der deutschen Polizei sei ein anonymer Hinweis auf ein von
       türkeistämmigen Dissidenten geplantes Attentat oder eine Entführung durch
       die RAF eingegangen.
       
       Die CHP warf Erdem vor, aus einem heraufbeschworenen Eklat Kapital für den
       Wahlkampf schlagen zu wollen, und forderte seinen Rücktritt. Die
       kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet spottete, der Minister habe wohl
       nicht damit gerechnet, in Europa mit linksgerichteten Migrant*innen
       konfrontiert zu sein.
       
       ## Politisch aktiv, auch ohne Wahlrecht
       
       Als Reaktion auf Erdems Anschuldigungen veröffentlichte die Föderation der
       Türkischen Sozialisten in Europa (ATTF), zu dieser Zeit der größte
       Zusammenschluss linksgerichteter Arbeiter*innen und Student*innen in
       Europa, eine Erklärung zu den Geschehnissen in Frankfurt. Diese, so die
       ATTF, seien frei erfunden. In Wirklichkeit sei Erdem durch die Fragen der
       Arbeiter*innen überfordert gewesen, die er nicht, wie in der Türkei
       gewohnt, zum Schweigen bringen konnte, und habe seine Reise deshalb
       abgebrochen. Auch die deutsche Botschaft kam am Ende zu dem vorsichtigen
       Schluss, es sei nicht undenkbar, dass der Arbeitsminister übertrieben habe,
       um aus dem Drohszenario der „linksextremen Indoktrinierung“ von
       Arbeitsmigrant*innen im Ausland politischen Nutzen zu ziehen.
       
       Unabhängig davon, was in Frankfurt genau passiert war, zeigt dieser
       Zwischenfall, dass türkische Politiker Arbeitsmigrant*innen in
       Deutschland bereits 1973 als relevante Wählergruppe erkannt hatten – oder
       zumindest als Wahlkampfthema. Denn aus dem Ausland wählen konnten
       Migrant*innen damals nicht. Sie konnten ihre Stimme nur abgeben, wenn
       sie zur Wahl in die Türkei reisten. Nach zeitgenössischen Schätzungen des
       Sozialwissenschaftlers Yılmaz Özkan hätten in Westeuropa lebende
       Migrant*innen aus der Türkei 25 bis 30 von 450 Parlamentsabgeordneten
       gewählt, wenn sie ihre Stimme aus dem Ausland abgeben hätten können. Dass
       sie nicht wählen konnten, bedeutete aber nicht, dass Migrant*innen nicht
       politisch aktiv waren.
       
       Bereits 1973 forderten Migrant*innen aus der Türkei ein transnationales
       Wahlrecht und riefen alle Arbeitsmigrant*innen im Ausland dazu auf,
       sich mit Wahlkampagnen und Kundgebungen im Ausland am türkischen Wahlkampf
       zu beteiligen. Die ATTF kritisierte in einem Aufruf zur Wahl 1973, dass die
       türkische Regierung Arbeitsmigrant*innen die Möglichkeit vorenthielte,
       aus dem Ausland zu wählen. Der Grund war für die sozialistische Föderation
       klar: Die Regierung ging davon aus, dass viele Arbeitsmigrant*innen
       ihre Stimme nicht den konservativen Parteien, sondern linksgerichteten
       Parteien geben würden.
       
       ## Erdoğan ermöglicht Wahl aus dem Ausland
       
       „Dass sie uns kein Wahlrecht geben, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns aus
       dem Wahlkampf heraushalten“, heißt es in dem Aufruf. „Als ATTF rufen wir
       alle unsere Bürger*innen auf, Wahlkomitees in ihren Städten zu gründen
       und bei den Wahlen die eigenen Forderungen zur Sprache zu bringen.“ Um aus
       dem Ausland Einfluss auf die Wahlen zu nehmen, forderte die ATTF
       Migrant*innen auf, Kundgebungen zu organisieren und Verwandten und
       Bekannten in der Türkei Briefe mit Wahlempfehlungen zu schicken.
       
       An den Wahlen in der Türkei teilnehmen zu können, war für Migrant*innen
       nicht nur deshalb bedeutend, weil sie in Deutschland kein Wahlrecht hatten.
       Vor dem Anwerbestopp entwarfen viele Migrant*innen Pläne für eine
       Zukunft in der Türkei. Was in der Türkei politisch passierte, war demnach
       relevant für sie, auch wenn sie temporär nicht dort lebten. Weil der
       Anwerbestopp die Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen einschränkte,
       sahen sich viele türkeistämmige Migrant*innen vor die Wahl gestellt, in
       Deutschland zu bleiben oder in die Türkei zurückzukehren. Da sich auch die
       politische Gewalt in der Türkei im Laufe der 1970er Jahre immer weiter
       zuspitzte, holten viele ihre Familien nach Deutschland.
       
       Es sollten 41 Jahre vergehen, bis die türkische AKP-Regierung unter Recep
       Tayyip Erdoğan in Deutschland Auslandswahllokale einrichtete. Mit der
       Einführung eines transnationalen Wahlrechts folgte Erdoğan einer ähnlichen
       Logik wie die Regierung 1973 unter umgekehrten Vorzeichen: Denn anders als
       diese ging er davon aus, mit der AKP im Ausland eine Mehrheit der Stimmen
       zu bekommen. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 konnten türkische
       Staatsbürger*innen erstmals in türkischen Konsulaten im Ausland wählen.
       
       ## Wahlkampfauftritte lenkten stets von Innenpolitik ab
       
       Dazwischen lagen Jahrzehnte voller politischer Umbrüche. Der Anwerbestopp
       1973, der Militärputsch in der Türkei 1980, die Rückkehrprämie 1983, die
       Wende 1990, die rassistischen Anschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993
       markierten Zäsuren, die sich alle darauf auswirkten, wo sich türkeistämmige
       Menschen zugehörig fühlten, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten und
       arbeiteten, aber nicht wählen durften.
       
       Seit 2014 konnte die AKP durch Wahlkampfauftritte im Ausland viele Stimmen
       mobilisieren. Bei den Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 bekam die AKP in
       Deutschland 55,7 Prozent, die CHP 15,6 und die HDP 14,8 Prozent der
       Stimmen; bei der Präsidentschaftswahl am selben Tag lag Erdoğan mit 64,8
       Prozent deutlich vor seinem Konkurrenten Muharrem İnce von der CHP, der in
       Deutschland 21,9 Prozent holte.
       
       Eine Untersuchung der Universität Montreal von 2020 zeigt jedoch, dass die
       in Auslandswahllokalen abgegebenen Stimmen wegen des geringen Anteils an
       der Gesamtwählerschaft, der niedrigen Wahlbeteiligung und der relativ
       kleinen Unterschiede zu den Wahlergebnissen in der Türkei nicht
       wahlentscheidend waren. In der deutschen und türkischen Öffentlichkeit
       blieben als wichtiger Faktor für Erdoğans Wahlsieg dennoch die
       Wahlergebnisse aus Deutschland in Erinnerung.
       
       Türkische Wahlkampfauftritte im Ausland lenkten, vor allem wenn sie
       skandalträchtig waren, immer auch von innenpolitischen Problemen ab. Doch
       nicht immer geht dieses Kalkül auf, wie ein Blick 50 Jahre zurück zeigt: Am
       14. Oktober 1973 zumindest gewann nicht die konservative AP, sondern
       überraschend der Oppositionsführer Bülent Ecevit mit der CHP die Wahlen.
       
       Elisabeth Kimmerle hat Germanistik, Philosophie und Journalistik in
       Freiburg, Leipzig und Istanbul studiert. Nach ihrem Volontariat bei der taz
       hat sie als Co-Projektleiterin und Redakteurin bei dem deutsch-türkischen
       Onlineprojekt der taz, taz.gazete, gearbeitet. Derzeit promoviert sie am
       ZZF Potsdam zur Demokratisierung in der Türkei in transnationaler
       Perspektive mit einem geschlechtergeschichtlichen Fokus. 
       
       Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage
       der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der
       Pressefreiheit erschienen.
       
       3 May 2023
       
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