# taz.de -- Japans Atomkraft-Renaissance: Als hätte es den GAU nie gegeben
       
       > Zwölf Jahre nach Fukushima hat der nuklear-industrielle Komplex in Japan
       > wieder das Sagen und forciert die Nutzung der Atomkraft.
       
 (IMG) Bild: Trotz Aufbereitung immer noch mit Tritium belastet: 1,3 Millionen Kubikmeter Wasser sollen ins Meer
       
       Tokio taz | Vom Hafenanleger des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi aus ist
       in der Ferne das Bauschiff zu erkennen, das Beton zum Meeresboden
       hinunterpumpt. Dort entsteht gerade der ein Kilometer lange
       Unterwassertunnel, durch den der Betreiber Tepco spätestens ab dem Sommer
       gefiltertes und verdünntes [1][Kühlwasser aus den Reaktoren in den Pazifik
       pumpen] will. Trotz einer Aufbereitung enthalten die 1,3 Millionen
       Kubikmeter Wasser, die in 1.060 Tanks im Kraftwerk lagern, strahlendes
       Tritium und Spuren anderer radioaktiver Stoffe.
       
       Damit die Einleitung starten kann, müssen die regionalen Fischer noch
       formal zustimmen. Sie legen sich bisher quer, weil sie befürchten, dass die
       Verbraucher den Fang dann aus Sorge um ihre Gesundheit nicht mehr kaufen
       werden. Aber der Protest ist schon leiser geworden, nachdem Regierungschef
       Fumio Kishida einen Entschädigungsfonds mit umgerechnet 350 Millionen Euro
       für Bauern und Fischer eingerichtet hat. Das Geld soll fließen, falls die
       Einleitung des kontaminierten Wassers dafür sorgt, dass der Absatz von
       Waren aus Fukushima einbricht.
       
       Lokale Bedenken gegen die Nutzung der Atomkraft mit Geld zu ersticken – das
       ist die typische Vorgehensweise von Japans sogenanntem Atomkraftdorf
       (genshiryoku mura), jener mächtigen Allianz aus Politik, Stromwirtschaft,
       Ministerialbürokratie und Wissenschaft, der es mit viel Fördergeldern und
       Subventionen gelang, die zivile Nutzung der Atomenergie ausgerechnet in dem
       einzigen Land durchzusetzen, auf das bisher Atombomben geworfen wurden.
       
       Dieses PR-Kunststück will der nuklear-industrielle Komplex nun wiederholen:
       Als ob es den GAU von Fukushima nie gegeben hätte, soll Japan wieder stark
       auf Atomkraft setzen. Würden alle 33 verbliebenen Reaktoren mit voller
       Kraft laufen, käme ein Viertel des Stroms aus der Kernspaltung, fast so
       viel wie vor 2011.
       
       ## Mehr als 70 Jahre Laufzeit
       
       Dazu hat die Regierung kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das die Nutzung
       von Atommeilern über 60 Jahre hinaus erlaubt. Die Zeiten nach der
       Katastrophe, als sie abgeschaltet waren, würden nicht als Betriebszeit
       gezählt. So könnten Japans AKWs länger als 70 Jahre am Netz bleiben.
       
       „Es ist absolut mörderisch, in einem erdbebengefährdeten Land wie Japan
       veraltete Reaktoren zu betreiben“, empörte sich der Anti-AKW-Anwalt Yuichi
       Kaido. „Wir bewegen uns zurück in die Zeit vor dem Desaster.“ Doch die
       Atomaufsicht NRA, die unter ihrem neuen Chef Shinsuke Yamanaka auf den
       früheren industriefreundlichen Kurs eingeschwenkt ist, unterstützt den
       Vorstoß von Regierungschef Kishida. Dieser will auch die Entwicklung und
       den Bau von Atommeilern mit neuen Technologien vorantreiben.
       
       Das Atomkraftdorf nutzt einen Umschwung in der öffentlichen Meinung, um das
       Zepter wieder an sich zu reißen. Eine Umfrage der liberalen Zeitung Asahi
       im Februar ergab zum ersten Mal seit dem GAU eine Mehrheit von 51 Prozent
       für den Neustart bestehender Atommeiler, 42 Prozent waren dagegen.
       
       ## Öffentliche Meinung ändert sich
       
       Außer den zehn laufenden Anlagen sind dabei vor allem die sieben Reaktoren
       interessant, die schon die verschärften Sicherheitsauflagen erfüllen,
       jedoch noch keinen Strom erzeugen. Kishida drängt auf einen Neustart ab dem
       Sommer. Viel Geld steht auf dem Spiel: Die elf Stromversorger haben
       insgesamt umgerechnet 44 Milliarden Euro in neue Sicherheitstechnik
       investiert. Aber viele Anwohnergemeinden sperrten sich bisher gegen die
       Wiederinbetriebnahme.
       
       Seit die [2][Stromkosten als mittelbare Folge des Ukrainekrieges stark
       gestiegen sind, sieht die japanische Bevölkerung die AKW-Nutzung jedoch
       positiver]. Zudem behauptet die Regierung, dass sich die Klimaziele nur mit
       mehr Atomenergie erreichen ließen. Kishida verbirgt die Kehrtwende hinter
       Schlagworten wie „stabile Energieversorgung“ und „Dekarbonisierung“. „Wir
       wollen unsere Abhängigkeit von der Kernenergie so weit wie möglich
       verringern und sie gleichzeitig im notwendigen Maß nutzen, wobei es kein
       Nullrisiko geben wird“, erklärte Kishida in der Stadt Fukushima, wo er an
       der Gedenkveranstaltung für die Opfer der Katastrophe teilgenommen hatte.
       
       Dabei liefert das AKW Fukushima weiterhin bedrückendes Anschauungsmaterial
       gegen die Nutzung der Atomenergie. Die Sanierungsarbeiten an den vier
       zerstörten Meilern, die wohl noch bis 2051 dauern werden, kosteten seit
       2011 jedes Jahr umgerechnet 7 Milliarden Euro.
       
       Nur eine teelöffelgroße Menge der 880 Tonnen an geschmolzenem Brennstoff
       wurde aus den Reaktoren geborgen. Erst kürzlich erkannte Tepco, dass die
       Kernschmelze das Betonfundament von Reaktor 1 zerfressen hatte. Daher
       könnte der Reaktorbehälter beim nächsten größeren Erdbeben einbrechen oder
       umkippen.
       
       Durch eine aufwendige Dekontaminierung sind die Strahlenwerte in den
       meisten Gegenden zwar auf das Niveau des übrigen Landes gesunken,
       berichtete Präfektur-Gouverneur Masao Uchibori vergangene Woche. Aber die
       Wohngebiete von 27.000 Evakuierten bleiben gesperrt. Und [3][je näher eine
       Stadt am Kraftwerk liegt, desto weniger Ex-Bewohner sind bisher
       zurückgekehrt.]
       
       12 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Japan-plant-Einleitung/!5908665
 (DIR) [2] /Energiekrise-in-Japan/!5900973
 (DIR) [3] /Elf-Jahre-nach-dem-Tsunami-in-Japan/!5887147
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Fritz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Fukushima
 (DIR) Energiekrise 
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Serien-Guide
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kontaminiertes Wasser in Fukushima: Japan beginnt mit der Verklappung
       
       Für die geplante Einleitung von kontaminiertem Wasser in den Pazifik hagelt
       es nationale wie internationale Kritik. Doch Tokio ignoriert sie.
       
 (DIR) Bericht der Atomenergiebehörde IAEA: Strahlend ab in den Pazifik
       
       1,3 Millionen Tonnen Fukushima-Kühlwasser könnten ins Meer geleitet werden.
       Die Internationale Atomenergiebehörde unterstützt das.
       
 (DIR) Netflix-Serie „The Days“ über Fukushima: Japan wird analog
       
       In „The Days“ wird die nächste Reaktorkatastrophe fiktional rekonstruiert.
       Diesmal: die Tage nach dem Unfall von Fukushima.
       
 (DIR) Energieexperte über AKW-Sicherheit im Krieg: „Handelsbeziehungen sind wichtiger“
       
       Der Energieexperte Mycle Schneider kritisiert die UN-Atomagentur IAEO.
       Wegen ihrer Arbeit in der Ukraine werde es zur Normalität, im Krieg ein AKW
       zu betreiben.
       
 (DIR) Die Künstlerin Leiko Ikemura in Berlin: Zerbrechlich wie Eierschalen
       
       Etwas Beschützendes und Unheimliches liegt in vielen Skulpturen von Leiko
       Ikemura. Ihre hybriden Wesen bewohnen jetzt das Kolbe Museum in Berlin.
       
 (DIR) Japan plant Einleitung: Wasser aus Fukushima soll ins Meer
       
       Die japanische Regierung will mehr als eine Million Tonnen aufbereitetes
       Wasser aus dem havarierten Atomkraftwerk ins Meer leiten – noch dieses
       Jahr.