# taz.de -- Tierrechtsverfahren in Bad Iburg: „Der Richter hat heute geliefert“
       
       > Die Tierrechtsverfahren zum Bad Iburger Schlachthof Temme gehen in die
       > finale Runde. Die Soko Tierschutz ist überrascht: Das Gericht bohrt nach.
       
 (IMG) Bild: Ein Rind wird mit einer Kette von einem Anhänger gezogen: Bild aus dem Schlachthof in Bad Iburg
       
       Bad Iburg taz | Normalerweise ist Friedrich Mülln, der Leiter der Münchner
       Tierrechtsorganisation [1][„Soko Tierschutz“], auf das niedersächsische
       Amtsgericht Bad Iburg nicht gut zu sprechen. Über den „größten
       Tierschutzprozess der deutschen Geschichte“, die Aufarbeitung der
       skandalösen Vorgänge im Bad Iburger Rinderschlachthof der Firma Vieh- und
       Fleisch Karl Temme, sagt er: „Da ist viel schiefgelaufen, da sind viele
       davongekommen.“ Die Zustände in dem Schlachthof hatte die Soko 2018 durch
       Undercover-Videoaufnahmen überhaupt erst aufgedeckt.
       
       Auch am 16. Januar, vor der Verhandlung gegen die Tierärzte Herbert E. und
       Eva S. hat er kaum Hoffnung: „Ich erwarte mir nicht viel“, sagt er vor Saal
       126. „In Bezug auf dieses Gericht bin ich resigniert.“
       
       Die Angeklagten Herbert E. und Eva S. waren einst vom Landkreis Osnabrück
       amtlich bestellt worden, um bei Temme zu kontrollieren, was sie nicht in
       hinreichendem Maße getan haben sollen. Es sind vier Verhandlungstage
       angesetzt. Aber Mülln fürchtet Oberflächlichkeit, Desinteresse an
       wirklicher Aufklärung. Vermutlich sei das Verfahren „in wenigen Stunden
       vorbei“.
       
       Aber es kommt anders. Tag eins endet hitzig, mitten in den Zeugenaussagen.
       Und Richter Edmund Jahner, der skeptisch nachbohrt, harte Videos vorführt,
       Dokument auf Dokument zeigt, nötigt Mülln Respekt ab: „Ich bin extrem
       überrascht! Der hat heute wirklich geliefert!“ Pause, Achselzucken. „Hätte
       er das auch schon bei den bisherigen Verfahren getan, hätte ich kein so
       schlechtes Bild von diesem Hause.“
       
       [2][Dutzende Verfahren hat der Verfahrenskomplex Temme umfasst], gegen
       Landwirte und [3][Tiertransporteure], gegen die Schlachthofbetreiber und
       -mitarbeiter. Am Montag ging er in seine finale Runde. Die beiden
       Tierärzte, angeklagt wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz und
       Beihilfe zu Verstößen gegen die Tierische-Lebensmittel-Hygieneverordnung,
       wurden 2018 von der Kreisverwaltung ihrer Aufgabe entbunden, der
       Schlachthof wurde stillgelegt.
       
       Die Veterinäre sollen mitverantwortlich sein für den Horror, der sich bei
       Temme abgespielt hat und den Mülln als „das Schlimmste, was ich jemals
       gesehen habe“, beschreibt. Und Mülln hat viel gesehen, weltweit, in 30
       Jahren Tierrechtsarbeit.
       
       In Saal 126 geht es kämpferisch zu an diesem Montagmorgen. Eigentlich waren
       gegen Herbert E. und Eva S. Strafbefehle ergangen, aber beide haben
       Einspruch eingelegt. Herbert E. kommt fast unkenntlich in den Saal, mit
       Sonnenbrille, Hut und Gesichtstuch, Eva S. mit hochgeschlagener Kapuze.
       Sagen werden sie wenig. Das überlassen sie ihren Anwälten, und die sind
       bissig, werfen Nebelkerzen.
       
       Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Im August und September 2018 sollen
       während der Dienstzeit der Ärzte in 45 und in 27 Fällen Rinder „angenommen
       und abgefertigt worden sein, die infolge von Verletzungen und/oder
       Erkrankungen nicht mehr transportfähig und deshalb bei Ankunft am
       Schlachthof nicht mehr in der Lage gewesen sein sollen, das
       Transportfahrzeug selbstständig zu verlassen“.
       
       [4][Stromstöße „oder andere massive Gewalt“ seien zum Einsatz gekommen,
       auch eine Seilwinde, mit der die Tiere vom Fahrzeug gezogen wurden]. Die
       Angeklagten seien „im bewussten und gewollten Einvernehmen mit den bereits
       gesondert verurteilten Fahrern und Verantwortlichen des Schlachthofs nicht
       eingeschritten“. Dadurch hätten sie den Tieren „bewusst und gewollt länger
       anhaltende erhebliche Schmerzen und Leiden zugefügt“.
       
       Ferner wird den Angeklagten in acht beziehungsweise zwei Fällen
       vorgeworfen, untätig geblieben zu sein, als Schlachthof-Mitarbeiter tot
       angelieferte Kühe in den Schlachthof brachten, um ihr Fleisch als
       Lebensmittel zu verwerten.
       
       ## Was geschah, war chaotisch
       
       Herbert E. und Eva S., damals beide nur nebenberuflich für den Landkreis
       tätig, zusätzlich zu ihren Praxen, kontern diese Vorwürfe, indem sie
       einräumen, nicht bei jeder Tieranlieferung und -tötung zugegen gewesen zu
       sein.
       
       Die Kontrolle sei „stichprobenartig“ gewesen. Das sei mit dem Landkreis
       abgesprochen gewesen. Dessen Veterinäramtsleiter, als Zeuge sichtlich
       unsicher, bestreitet das: Eine Lebendbeschau sei Pflicht.
       
       Am Ende von Tag eins ist klar: Was bei Temme geschah, war chaotisch. Und
       manche Begründung klingt seltsam: Aus Arbeitsschutzgründen sei die
       Bolzenschussbetäubung zuweilen unterblieben, wenn gehunfähige Tiere aus dem
       Transporter geholt werden mussten.
       
       „Die Tierärzte sind total abgebrüht“, sagt Mülln. „Klar ist auch: Teil des
       Problems ist das Veterinäramt. Das ist für das ganze Debakel
       mitverantwortlich.“ Sein Resümee des ersten Verhandlungstages: „Das ist der
       spannendste Tierschutzprozess der letzten 20 Jahre.“
       
       ## Quälend lange Videovorführungen
       
       [5][Oberstaatsanwalt Bernhard Lucks] von der Schwerpunktstaatsanwaltschaft
       für Landwirtschaftsstrafsachen Oldenburg, der die Anklage vertritt, fiel am
       Montag kaum auf. Bei der Verlesung der Anklageschriften wirkte er
       unkonzentriert, entscheidende Fragen stellte er nicht. Anders Richter
       Jahner: Videos lässt er quälend lange laufen, teils in Wiederholung. Auch
       eines, in dem zu hören ist, wie jemand über ein Rind redet, das mit einem
       Vorschlaghammer erschlagen wurde: Sei das schlimm? Falle das auf?
       
       170 bis 200 Tiere wurden bei Temme pro Woche geschlachtet, viele davon
       vermutlich ohne Lebendbeschau. „Das ist also nicht nur der größte
       Tierschutz-, sondern auch der größte Fleischskandal der deutschen
       Geschichte“, sagt Mülln.
       
       Während in Saal 126 die Sitzung läuft, halten unten auf dem Hof zwei
       Tierrechtsaktivisten ein Banner mit „Tierquälerei“ hoch. Der strömende
       Regen macht ihnen nichts. „Wir stehen hier für die Tiere“, sagen sie. „Die
       haben mehr gelitten als wir.“
       
       17 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.soko-tierschutz.org/
 (DIR) [2] /Urteil-gegen-Schlachthofmitarbeiter/!5874817
 (DIR) [3] /Urteil-gegen-Fahrer-von-Viehtransport/!5719416
 (DIR) [4] /Horror-Schlachthof-Bad-Iburg/!5548990
 (DIR) [5] /Soko-Tierschutz-zeigt-Staatsanwalt-an/!5898923
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) SOKO Tierschutz
 (DIR) Tierschutz
 (DIR) Niedersachsen
 (DIR) Schlachthof
 (DIR) Tierquälerei
 (DIR) Prozess
 (DIR) SOKO Tierschutz
 (DIR) SOKO Tierschutz
 (DIR) SOKO Tierschutz
 (DIR) Schlachthof
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Prozess um Horror-Schlachthof Bad Iburg: Verkauf von Fleisch kranker Rinder steht im Raum
       
       Im Verfahrenskomplex zum Schlachthof Temme geht es um weit höhere Strafen,
       als bei Tierschutzvergehen maximal möglich ist. Die Vorwürfe sind heftig.
       
 (DIR) Freispruch nach Tierschutz-Skandal: Abwesenheit schützt vor Strafe
       
       In Niedersachsen wurden zwei Tierärzte freigesprochen. Sie waren zur
       Anlieferung von Schlachthoftieren, die gequält wurden, nicht vor Ort.
       
 (DIR) Soko Tierschutz zeigt Staatsanwalt an: „Hunderte Verfahren eingestellt“
       
       Die Soko Tierschutz stellt Strafanzeige gegen den Oldenburger
       Oberstaatsanwalt Bernhard Lucks. Er habe Tierschutz-Verstöße nicht
       konsequent verfolgt.
       
 (DIR) Urteil gegen Schlachthofmitarbeiter: Milde für die Berufstierquäler
       
       Beim Strafverfahren gegen Mitarbeiter eines Schlachthofs sorgte die Milde
       des Urteils für Empörung. Videoaufnahmen zeigen unfassbares Tierleid.
       
 (DIR) Urteil gegen Fahrer von Viehtransport: Brutales Geschäft
       
       Ein Viehtransporter-Fahrer wurde wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz
       verurteilt. Der Schlachthof, in dem das geschah, war ein Ort des Grauens.