# taz.de -- Männergesundheit: Jungs weinen nicht
       
       > Traditionelles männliches Verhalten kann krank machen. Der „toxische
       > Mann“ schädigt sich selbst und wird in der Gesundheitsvorsorge weniger
       > beachtet.
       
 (IMG) Bild: Kopf in den Sand?
       
       Ein Schlagwort kursiert seit den 2010er Jahren in der
       geschlechterpolitischen Debatte: die “toxische Männlichkeit“. Diesen
       Begriff verwendet auch [1][Jack Urwin] in seinem Buch „Boys don’t cry“
       (Jungen weinen nicht), das er als Reaktion auf das frühe Sterben seines
       Vaters schrieb. Der britische Autor schildert, wie starre Rollenbilder vom
       starken, wilden und unbesiegbaren Mann das Verhältnis zum eigenen Körper
       prägen. Er warnt, dass der Mythos der Maskulinität toxisch sein oder gar
       tödlich enden kann – und er sucht nicht, wie es manche Männerrechtler tun,
       die Schuld dafür bei den Frauen. Für sein „brillantes, persönliches, nicht
       einmal sexistisches“ Werk lobte ihn die Londoner Feministin Laurie Penny.
       
       Die Führungspositionen im Gesundheitswesen waren lange Zeit männlich
       besetzt. In den Krankenhäusern dominierten Halbgötter in Weiß die Visiten
       und erst recht die Operationssäle. Frauen assistierten als Pflegerinnen
       oder leisteten technische Hilfsdienste. Auch die pharmazeutische Industrie
       agierte weitgehend geschlechtsblind. Die Hersteller von Medikamenten
       testeten neu entwickelte Arzneimittel vorrangig an männlichen Probanden,
       für Frauen konnte das lebensbedrohliche Folgen haben. Heute gibt es
       deutlich mehr Ärztinnen als vor Jahrzehnten, 70 Prozent der Studierenden in
       der Medizin sind mittlerweile weiblich. Gendersensible Ansätze haben
       dennoch kaum Gewicht. Und auch die Nachwirkungen einer wie Gift wirkenden
       Männlichkeit sind wissenschaftlich noch wenig untersucht.
       
       [2][Der „toxische“ Mann] sorgt nicht gut für sich selbst. Er behandelt
       seinen Körper wie eine Maschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn
       sie überhaupt nicht mehr funktioniert. Nach der Devise „Indianer kennen
       keinen Schmerz“ beißt er die Zähne zusammen, erst recht vermeidet er jede
       Gesundheitsprophylaxe. Die bewusste Vorsorge wird ihm allerdings auch nicht
       leicht gemacht. Schon Mädchen und junge Frauen werden aktiv von den
       Krankenkassen angeschrieben, Früherkennung im gynäkologischen Bereich ist
       Routine und wird selbstverständlich von den Versicherungen übernommen.
       Wollen sich dagegen Männer zum Beispiel gegen Prostatakrebs schützen,
       müssen sie oft explizit nachfragen – und notwendige Tests selbst bezahlen.
       
       Die Schattenseiten althergebrachter Verhaltensmuster belegt drastisch das
       sogenannte „Life Expectancy Gap“. Im Durchschnitt ist die
       [3][Lebenserwartung deutscher Männer] nach aktuellen Daten um 4,8 Jahre
       geringer als die von Frauen. In der Hochphase der Industriearbeit betrug
       diese Differenz sogar acht Jahre. In Russland und Belarus liegt die Kluft
       immer noch bei über zehn, in der Schweiz oder in Island dagegen bei nur
       drei Jahren.
       
       Sterblichkeit korreliert mit sozialen und geschlechtsspezifischen
       Unterschieden. Seit 1980 verringert sich der Abstand zwischen Männern und
       Frauen, die Forschung erklärt das mit der Annäherung der Lebensverläufe.
       Die wegweisende Klosterstudie des Wiener Demografen Marc Luy, der 2002 die
       Biografien von Nonnen und Mönchen verglich, ergab ein körperlich bedingtes
       Gefälle von nur einem Jahr. Der frühere Tod des „starken Geschlechts“ ist
       demnach kein biologisches Naturgesetz. Er ist auf gesellschaftliche
       Bedingungen und Normen zurückzuführen.
       
       Viele Männer ignorieren Schmerz, Trauer, Krankheiten und körperliche
       Symptome. Sie arbeiten und leben ungesund, gehen selten zum Arzt, ernähren
       sich falsch, nehmen mehr Drogen als Frauen. Und sie haben die
       gefährlicheren Jobs: 95 Prozent der Verunglückten bei Arbeitsunfällen mit
       Todesfolge sind männlich. Dennoch sind die Folgen rigider Anforderungen und
       riskanten Verhaltens erst seit ein paar Jahren Gegenstand gründlicher
       empirischer Forschung. Auch in politischen Debatten hatte das Thema lange
       keine Bedeutung. Ein 2020 veröffentlichtes Dossier des
       Bundesfamilienministeriums zur „partnerschaftlichen Gleichstellungspolitik“
       widmet der „Gesundheit und Zufriedenheit“ von Jungen und Männern immerhin
       zwanzig Seiten.
       
       Die Frauenbewegung schärfte einst den geschlechterbezogenen Blick auf die
       Medizin. Schon vor der Jahrtausendwende entstanden feministische
       Selbsthilfezentren und Gesundheitsberichte aus weiblicher Perspektive,
       beides wurde bald auch öffentlich gefördert. Dem stand lange kein
       männliches Pendant gegenüber, dann aber wurden die Rufe nach Förderung und
       Prävention auch für Männer lauter. 2014 legte das Robert-Koch-Institut
       (RKI) eine erste Studie vor– und machte so, nun auch staatlich finanziert,
       spezifische männliche Probleme deutlich.
       
       Schon zuvor war die regierungsunabhängige, von Spenden getragene Stiftung
       Männergesundheit mit eigenen Untersuchungen vorgeprescht. Wichtige
       Ergebnisse waren unter anderem: Männer haben ein höheres
       Schlaganfall-Risiko, sie sind häufiger übergewichtig und alkoholkrank, sie
       stellen die deutliche Mehrheit der Verkehrstoten. Und: pro Tag sterben in
       Deutschland rund 25 Menschen durch Suizid, 76 Prozent davon sind männlich.
       
       Die Datenlage hat sich deutlich verbessert, bei der Umsetzung hapert es
       noch. Die Expertise des Familienministeriums stellt fest, dass
       „Gesundheitsrisiken bildungsferne Männer überdurchschnittlich treffen“;
       zudem sei der Übergang in den Ruhestand „für erwerbsorientierte Männer eine
       besondere Herausforderung“. Der zweite Gleichstellungsbericht der
       Bundesregierung verlangte 2017, dass „Strukturen erkannt und beseitigt
       werden, die Männer aufgrund des Geschlechtes an der Verwirklichung ihrer
       Lebensentwürfe hindern“.
       
       Im November 2022 präsentierte die Stiftung Männergesundheit ihre bereits
       fünfte Studie. Den Schwerpunkt bildet eine Befragung junger Männer, im
       Kontrast zum Vorgängerbericht, der sich auf ältere Männer kurz vor der
       Rente konzentrierte. Repräsentativ wurden zweitausend Gesprächspartner
       unter 28 Jahren interviewt, als Kontrollgruppe auch tausend Frauen im
       gleichen Alter. Als zentrale Erkenntnis konstatiert die Untersuchung:
       „Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsstatus der
       jungen Männer ist mit ihrer jeweiligen Vorstellung von der männlichen
       Geschlechtsrolle verbunden“.
       
       Männer schätzen sich gesünder ein als Frauen, obwohl dies mit der
       statistisch erfassten Verteilung von Krankheitsbildern nicht übereinstimmt.
       Herkömmliche Rollenbilder führen zur Vernachlässigung der Sorge für sich
       selbst. Beispiele aus dem aktuellen Datenpool sind die viel ausgeprägtere
       männliche Spielsucht, der Mangel an Achtsamkeit nach Sport oder Partys für
       körperliche Erholungsphasen sowie der höhere Konsum von Rauschmitteln. Beim
       Rauchen liegen beide Geschlechter inzwischen nahezu gleichauf. Frauen haben
       in der jüngeren Generation „bei negativen, sie schädigenden
       Verhaltensweisen aufgeholt“, resümiert Kurt Miller, früherer Direktor der
       Urologischen Klinik an der Berliner Charité und jetzt medizinischer
       Vorstand der Stiftung Männergesundheit.
       
       ## Die Nacht durchzocken
       
       Im Freizeitverhalten junger Männer haben Online-Spiele eine erhebliche
       Bedeutung. Der Aussage „Ab und zu zocke ich die ganze Nacht am Bildschirm
       und bin am nächsten Tag völlig gerädert“ stimmen sie erheblich häufiger zu
       als Frauen. Noch größer ist das Gender-Gefälle bei der Frage nach der
       Nutzung pornografischer Angebote im Netz: Während diese für die Mehrheit
       der Männer zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Sexualität geworden
       sind, liegt das Interesse weiblicher Zuschauerinnen nach deren
       Selbstauskünften signifikant niedriger.
       
       Eine wichtige Forschungslücke ist die Verknüpfung der Kategorien Gender und
       Klasse, in der soziologischen Fachsprache Intersektionalität genannt.
       Männliche Arbeiter zum Beispiel, die ihr Leben lang unter Tage, im
       Stahlwerk oder auf Baustellen geschuftet haben, sterben nachweisbar
       deutlich früher. Das durch Lohnniveau und psychosoziale Lage bedingte
       Gefälle unter den Männern selbst fällt mehr ins Gewicht als
       Geschlechtsunterschiede: Die Kluft bei der Lebenserwartung zwischen dem
       reichsten und dem ärmsten Einkommenssegment beträgt nach einer älteren
       Vorläuferuntersuchung fast elf Jahre.
       
       Als zentrale Maxime fordert die EU-Strategie des Gender Mainstreaming dazu
       auf, stets auf die spezifischen Auswirkungen für Frauen wie Männer zu
       achten. In der Gesundheitspolitik führt das inzwischen manchmal zu mehr
       Achtsamkeit, wie sich etwa im Umgang mit dem Corona-Virus zeigte. Der
       Deutsche Bundestag diskutierte zuletzt mehrfach darüber, dass Frauen
       überdurchschnittlich an Long Covid erkranken; erhebliche Mittel wurden für
       die Ursachenforschung bewilligt.
       
       Ebenso ungeklärt ist aber, warum nach Zahlen der Stanford University zu
       Beginn der Pandemie zwei Drittel der Verstorbenen Männer waren – obwohl sie
       in der von schweren Verläufen besonders betroffenen Altersgruppe der
       Hochbetagten klar unterrepräsentiert sind. Eine wissenschaftlich noch nicht
       hinreichend abgesicherte Hypothese dazu lautet, vereinfacht ausgedrückt:
       Östrogen stärkt das Immunsystem, Testosteron unterdrückt es. Hormonelle und
       genetische Unterschiede sollten also, trotz aller berechtigten Verweise auf
       die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen, nicht vernachlässigt
       werden.
       
       1 Jan 2023
       
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