# taz.de -- Medizinischer Versorgungsmangel: Kinder ohne Lobby
       
       > Der Fiebersaftnotstand hat allen klargemacht, dass hier was grundsätzlich
       > schiefläuft. Ein Erfahrungsbericht einer dreifachen Mutter.
       
 (IMG) Bild: Fiebersaftnotstand, Ärztemangel, Wartezeiten – Kinder haben es schwer
       
       Anfang 2020 wurde ich zum dritten Mal schwanger. Einen Monat später kam
       Corona. Die Pandemie machte bereits lange vorhandene Missstände gnadenlos
       deutlich. Es gibt keine Vereinbarkeit von Familie und Lohnarbeit.
       
       Die Bildungschancen von Kindern sind abhängig vom Einkommen ihrer Eltern.
       Es gibt Probleme unter anderem im Bereich Bildung, Betreuung, Infrastruktur
       und eben dem Gesundheitswesen. Diese Probleme beginnen mit der Geburt der
       Kinder.
       
       Keine Woche vor meinem errechneten Entbindungstermin schloss vorübergehend
       die Geburtsstation der Klinik, in der ich meine ersten beiden Kinder
       geboren hatte. Mittlerweile existiert sie nicht mehr. Ich gebar mein
       drittes Kind in einer fremden Umgebung mit einer übergriffigen Hebamme.
       Nachdem meine Tochter mir hektisch entrissen und weggebracht wurde, lag ich
       1,5 Stunden alleine und nackt in meinem eigenen Blut. Schließlich stellte
       ich mich auf zittrige Beine, zog eine Strickjacke an und eine Hose, die ich
       mit Tüchern vollstopfte, und ging meine Tochter auf der Kinderstation
       suchen. Als ich sie endlich wieder im Arm hielt, stotterte eine
       Assistenzärztin etwas über Auffälligkeiten beim Ultraschall.
       
       Ein*e Fachärzt*in sei erst am nächsten Tag verfügbar. Weil ich den
       Kreißsaal verlassen hatte, durfte ich nicht zurück. Ich endete halb nackt
       im Foyer des Krankenhauses unter grellen Neonröhren. Ich hielt meine
       Tochter und mein Mann hielt mich. Hinter uns bearbeitete ein Handwerker
       einen Automaten mit einem Hammer. Das Blut floss mir die Beine und die
       Tränen mein Gesicht runter. Das war der Start in das Leben mit einem
       chronisch kranken Kind in Deutschland.
       
       Über dieses Leben schrieb ich [1][auf dem Blog Kaiserinnenreich:] „Die
       Schlange der Kinderklinik reicht bis auf die Straße. Erst stehe ich draußen
       im Regen, dann schwitze ich unter grellem Neonlicht. Selbst wenn wir beim
       Empfang waren, werde wir wahrscheinlich noch zwei Stunden warten. So wie
       gestern, trotz Termin natürlich. Vielleicht werden wir auch einfach wieder
       nach Hause geschickt, trotz Termin natürlich. Dann soll ich einfach noch
       einen neuen Termin machen und nochmal kommen und nochmal warten.“
       
       ## Der Abhängigkeit bewusst
       
       Das schrieb ich nicht jetzt, wo die Kinderkliniken kurz vor dem Kollaps
       stehen, sondern vor über einem halben Jahr. Das RKI meldete noch keine
       neuen Höchstzahlen an Atemwegserkrankungen unter Kindern. Die Situation war
       trotzdem schon schlecht. Dass wir ein großes Problem bei der medizinischen
       Versorgung von Kindern haben, das wussten diejenigen, zu deren Alltag es
       gehört, sich um Kinder mit erhöhtem Pflegebedarf zu kümmern. Ich habe drei
       dieser Kinder, das jüngste ist chronisch krank.
       
       Wenn Klinikbesuche und -aufenthalte nicht zum Alltag gehören, wenn man nur
       hin und wieder genervt in einem Wartezimmer sitzen muss, dann kann man
       vielleicht noch ignorieren, wie schnell das Leben jedes Kindes davon
       abhängig sein kann, dass es gut versorgt wird. Wenn man aber Angst hat,
       dass kein Bett auf der Kinderstation für das chronisch kranke Kind mit
       schwerer Grippe frei sein könnte, wenn man jeden Tag stundenlang in
       Wartezimmern sitzt und den*die Kinderärzt*in nicht erreicht, wenn das
       Kind fiebert, aber man aufgrund der chronischen Erkrankung nicht sicher
       ist, welchen Fiebersaft man geben darf, dann ist einem diese Abhängigkeit
       immer bewusst.
       
       Spätestens seit Corona kennen dieses Problem der medizinischen Versorgung
       auch alle anderen: Die Bedingungen für Kinder in Deutschland sind nicht
       gut. Trotzdem hat fast niemand politische Lösungen gefordert. Die große
       Mehrheit hat das ignoriert und ist still geblieben. Obwohl das alle hätte
       alarmieren sollen, haben wir gewartet, bis es zu spät und die Stationen
       überfüllt waren.
       
       Jetzt also Fiebersaftnotstand. Die Gründe seien vielschichtig, sagen
       Expert*innen. Fakt ist: Bereits im Frühling hat ein großer Hersteller
       angekündigt, die Produktion paracetamolhaltiger Säfte aus wirtschaftlichen
       Gründen einzustellen. Die Nachfrage nach Alternativen stieg extrem stark.
       Mittlerweile mangelt es an Säften mit allen Wirkstoffen. Der Engpass war
       abzusehen. Was für ein Unternehmen eine Frage von Effizienz ist, kann für
       Kinder eine Frage von Leben und Tod sein.
       
       Die Versorgung von Kranken, die Produktion von Medikamenten, die
       Erforschung von Krankheiten, die Finanzierung von Hilfsmitteln: Über all
       das entscheidet das Geld. Pflege und medizinische Versorgung werden
       ökonomisiert, den Regeln und Prinzipien der Marktwirtschaft unterworfen.
       Geld wird da reingesteckt, wo Geld abgeworfen wird. In Deutschland werden
       Kliniken über die Fallpauschale finanziert. Also erhalten sie einen fixen
       Betrag nach gestellter Diagnose und ihrer Behandlung, unabhängig davon wie
       aufwändig oder zeitintensiv sie tatsächlich ist.
       
       Gerade auf den Kinderstationen steht aber Aufwand nicht im Verhältnis zu
       Diagnose. Einem ängstlichen Kind Blut abzunehmen, den Blutdruck eines
       zappelnden Säuglings zu messen: dafür braucht es Zeit und Zuwendung. Hinzu
       kommt, dass viele Betten, die im Winter belegt sind, im Sommer frei
       bleiben. Trotzdem müssen diese Plätze verfügbar gehalten werden. Das kostet
       Geld, das nicht von der Fallpauschale abgedeckt wird.
       
       Wir leben in einer überalternden Gesellschaft, in der Kinder und ihre
       Bedürfnisse aus dem gesellschaftlichen Diskurs gedrängt werden. Dabei
       wirken ähnliche Mechanismen bezüglich Angebot und Nachfrage wie in der
       freien Marktwirtschaft. Lohnt sich die Produktion von Fiebersäften nicht
       mehr, wird sie eingestellt. Gibt es weniger Kinder als ältere Menschen,
       können sie ihre Bedürfnisse weniger laut formulieren oder politisch
       handeln, werden sie weniger gehört.
       
       ## Die Bedürfnisse von Kindern dürfen nicht untergehen
       
       Die [2][Soziologin Silke von Dyke sagte kürzlich bei Deutschlandfunk
       Kultur], nicht die Überalterung der Gesellschaft sei das Problem, sondern
       der Umgang der Politik damit. Aber es ist die Aufgabe der Politik, dem
       entgegenzuwirken, die Bedürfnisse und Stimmen von Kindern zu hören und
       mitzudenken. Sie hat versagt. Genauso wie wir.
       
       Kinder haben keine Lobby, keine Interessenvertretung. Als Gesellschaft ist
       es unsere Aufgabe, gute Bedingungen für Kinder einzufordern und Druck auf
       die Politik zu machen. Nicht nur aus moralischen und sozialen Gründen, die
       allein schon ausreichen sollten. Als Faktor Zukunft sichern Kinder den
       Fortbestand des Systems, das uns versorgt. Kein Geld der Welt wird uns im
       Alter pflegen, wenn niemand mehr da ist. Und bei den aktuellen Zuständen in
       den Kinderkliniken, wird das ein immer realistischeres Szenario.
       
       In einer Gesellschaft, in der Kinder selbstverständlicher Teil des
       gesellschaftlichen Diskurses sind, wäre es vielleicht niemals zu einer so
       dramatischen Situation auf den Kinderstationen gekommen. Jetzt plant
       Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, mehr Pflegekräfte in
       Kinderkliniken zu finanzieren und Praxen besser für ihre Mehrarbeit zu
       entlohnen. Doch das wird die Lage erst mittel- bis langfristig verbessern.
       Was passiert mit den Kindern jetzt und in den kommenden Jahren?
       
       Als es am Anfang der Pandemie darum ging, Schutzmasken zu besorgen und
       einen Impfstoff zu entwickeln, war das allgemeine Interesse groß genug, um
       große Summen an Geld und Ressourcen zu mobilisieren. Dafür brauchte es
       großen politischen Druck und den Rückhalt der Gesellschaft. All das wäre
       auch jetzt nötig. Es gibt genug Geld und Ressourcen in Deutschland – sogar
       im Gesundheitswesen. Die Frage ist, wie es verteilt ist. Wenn die Reichen
       während der Pandemie immer reicher geworden sind und Kinderarmut in
       Deutschland seit Jahren steigt, läuft etwas falsch.
       
       Bereits jetzt sterben Kinder, weil sie medizinisch nicht richtig versorgt
       werden können. Ihre Zukunftsperspektiven verschlechtern sich zunehmend.
       Handeln müssen wir umso dringender und entschlossener. Jede*r von uns kann
       etwas ändern: etwa Kinder zum Thema machen, auch bei der nächsten
       Wahlentscheidung.
       
       Bis dahin sitze ich mit drei Kindern zu Hause. Die jahrelange Isolation mit
       meinem geplanten Baby, das ungeplant mitten in einer Pandemie geboren wurde
       und durch diese ungeplant zur Risikogruppe gehört, hat uns weit über unsere
       Belastungsgrenze gebracht. Seit dem Sommer habe ich immer darauf geachtet,
       eine Flasche Paracetamolsaft als Reserve zu haben. Nur den darf meine
       nierenkranke Tochter kriegen. Ich versuche nicht daran zu denken, was
       passiert, wenn ich diese Flasche nicht mehr habe. Ich versuche nicht daran
       zu denken, was passiert, wenn wir doch in die Klinik müssen. Und ich denke
       jeden Tag daran.
       
       30 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://kaiserinnenreich.de/
 (DIR) [2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/demographie-es-gibt-keinen-generationenkonflikt-sondern-einen-sozialen-dlf-kultur-686b5157-100.html
       
       ## AUTOREN
       
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