# taz.de -- Belarus und der Krieg in der Ukraine: Das Imperium schlägt zurück
       
       > Russland gibt in Belarus den Ton an. Kritiker werden weggesperrt. Doch
       > Belarussen versuchen dem zu widerstehen mit neuem Selbstbewusstsein.
       
 (IMG) Bild: „Als die Belarussen aufwachten, waren sie plötzlich zu einem Aggressorland an der Seite Russlands geworden“
       
       Die Frage nach ihrem nationalen Bewusstsein stellt sich für die Belarussen
       dringlicher denn je – besonders seit dem 24. Februar, als die Konflikte
       zwischen Russen und Ukraine in einen Krieg führten. Als die Belarussen
       aufwachten, waren sie plötzlich und unerwartet zu einem Aggressorland an
       der Seite Russlands geworden.
       
       Ein Mensch, der auf den Nachnamen Lukaschenko hört, entschied in
       Eigenregie, dass es auf dem Territorium des Landes eine ausländische
       Militärbasis geben wird. Ich hoffe inständig, diesen Mann auf der
       Anklagebank zu sehen – nicht nur wegen Kriegsverbrechen, sondern als
       Usurpator, der schwerste Menschenrechtsverbrechen am belarussischen Volk
       begangen hat.
       
       Derzeit sind Tausende im Gefängnis, weil Lukaschenko das so will. Sie sind
       in Haft wegen ihres Wunsches, „Menschen genannt zu werden“, wie es in
       [1][einem Gedicht des belarussischen Dichters Janka Kupala] heißt. In
       Belarus läuft die russische Propaganda auf Hochtouren. Mein Freund, der
       Medienmanager Andrei Alexandrow, wurde in einem Strafverfahren gegen die
       unabhängige Nachrichtenagentur BelaPAN zu 14 Jahren Haft verurteilt.
       
       [2][Mehr als 300 Medienvertreter sitzen ebenfalls hinter Gittern]. Der
       unabhängige Journalismus im Land ist zerstört: Die meisten Redaktionen
       mussten Belarus verlassen und arbeiten heute von Polen, Litauen und
       Georgien aus. Texte, die ich unter Pseudonym für die taz schreibe, sind
       „Landesverrat“, der mit Haft bestraft wird. Aber ich gehe dieses Risiko
       ein, das sind meine „Reportagen“ – mit „einer Schlinge um den Hals“.
       
       Vor mehr als einem Jahr habe ich meine Angst vor einem faktischen
       „Ausverkauf“ meines Landes an Russland geäußert. Meine Vorhersagen haben
       sich bewahrheitet. Belarus steht heute unter der Besatzung des Kreml.
       
       Im Süden des Landes gibt es bereits eine „russische Provinz“ – die Stadt
       Gomel, wo viele russische Soldaten stationiert sind. Durch die Straßen
       meiner Heimatstadt Minsk laufen Gestalten. Auch sie sind Russen, die sich
       hier vor der Mobilmachung verstecken. Die meisten von ihnen haben die
       notorisch aggressive „Russische Welt“ im Kopf. Doch es geht nicht um ihre
       ethnische Zugehörigkeit, sondern um ihren Imperialismus. Und der sucht nun
       Zuflucht an der Peripherie ihres imaginären Imperiums. Bestimmte
       Einstellungen zu lokalen Sprachen oder imperialen „Dialekten“ finden sich
       fast bei jedem.
       
       Das war immer ein Reizthema, doch jetzt irritiert es besonders und ruft
       sogar Hass hervor. Die meisten meiner Freunde in den sozialen Netzwerken
       sind dazu übergegangen, die belarussische Sprache zu benutzen. Dabei gibt
       es in Belarus offiziell zwei Staatssprachen – Belarussisch und Russisch.
       
       Jahrelang hat Lukaschenko versucht, alles Belarussische zu zerstören. Und
       doch höre ich heute auf den Straßen von Minsk viele junge Leute, die
       Belarussisch sprechen. Das freut mich. Das Schöne ist, dass es für
       Belarussen einfach ist, mit Ukrainern zu kommunizieren. Zwar spricht jeder
       in seiner eigenen Sprache, aber die Verständigung klappt bestens.
       
       Russen, die beide Sprachen für „gebrochenes Russisch“ halten, können da oft
       nicht mithalten. Dabei geht es nicht um sprachliche Unfähigkeit, sondern um
       Imperialismus. 30 Jahre lang waren sie nicht in der Lage, den Namen unseres
       Landes auszusprechen, aber sie berufen sich ständig auf das Lied „Die
       Jugend ist mein Belarussija“. Deutsche sind offensichtlich imstande sich zu
       merken, dass das Land jetzt Belarus und nicht mehr Weißrussland heißt. Für
       Russen scheint das eine unlösbare Aufgabe zu sein. Nun denn: Bringen wir es
       ihnen bei.
       
       Das alles ist auch eine Frage der Selbstachtung, die zu haben Ukrainer den
       Belarussen absprechen. Jedoch haben die Belarussen mittlerweile gelernt,
       für ihre Selbstachtung einzustehen – [3][auch gegenüber den Ukrainern].
       Natürlich ist es für mich im relativ ruhigen Minsk bei Weitem nicht so
       schrecklich wie für die Menschen in Charkiw oder Kyjiw. Aber Vorwürfe, wie
       „Raketen, die von eurem Territorium abgeschossen werden“, „Belarussen sind
       Sklaven“ und „kollektive Schuld“ will ich auch nicht mehr hören.
       
       Erröten lassen mich nur meine eigenen Fehler. Ich kann mit meinen Händen
       keine Raketen fangen. Aber ich kann Texte schreiben, die auf bestimmte
       Probleme aufmerksam machen. Oder ich kann Spenden an die ukrainischen
       Streitkräfte überweisen. Ich muss mich für nichts schämen. Im Gegenteil,
       ich kann auch stolz sein: auf den Fleiß, die Toleranz und die
       Vertrauensseligkeit der Belarussen, die manchmal an Naivität grenzt. Das
       betrifft auch das Erbe meiner Vorfahren und Zeitgenossen, die etwas in der
       Welt bewegt haben. Zum Beispiel der erste belarussische Drucker Francysk
       Skaryna (1486–1551) sowie die beiden [4][Nobelpreisträger Ales Bjaljazki]
       und Swetlana Alexijewitsch.
       
       Mir gefällt, dass immer mehr Belarussen (wenn auch inoffiziell) den 8.
       September als Feiertag betrachten. An diesem Tag fand 1514 in der Nähe der
       belarussischen Stadt Orscha die Schlacht statt, deren Hauptergebnis darin
       bestand, dass sich in Europa ein negatives Bild der „Russischen Welt“
       herauszubilden begann.
       
       Laut der Unesco ist die belarussische Sprache gefährdet. Das gilt für das
       gesamte belarussische Volk. Aber wir versuchen unser Bestes, um uns und
       unsere Selbstidentifikation nicht zu verlieren. Dem Übergangskabinett der
       Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wird auch Alina Kobtschik
       angehören, Historikerin und Ex-Mitarbeiterin des Fernsehsenders BelSat. Sie
       soll eine Strategie entwickeln, um Geschichte, Kultur und Sprache der
       Belarussen bekannt zu machen sowie Reformen anzustoßen. Dabei geht es um
       Kultur, Bildung und Medien.
       
       Eine weitere Aufgabe wird sein, die Arbeit entsprechender Institutionen und
       Initiativen zu koordinieren und einer aggressiven Informationspolitik etwas
       entgegenzusetzen. „Nicht die Kultur trennt uns, sondern ein Regime, das die
       Kultur für seine Zwecke nutzt, um Feindschaft zwischen uns zu säen. Wir
       müssen die Souveränität unseres Staates verteidigen, und die Kultur ist ein
       untrennbarer Bestandteil davon“, sagt sie.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       14 Nov 2022
       
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