# taz.de -- Ausstellung „Die Sturmflut“: Schutzlos ausgeliefert
       
       > Das Regionalmuseum Scharbeutz-Pönitz widmet sich der verheerenden
       > Ostseesturmflut von 1872 – und schlägt einen Bogen zu Küstenschutz und
       > Klimawandel.
       
 (IMG) Bild: Die Sturmflut in der Lübecker Bucht 1872 in einer Zeichnung der Illustrierten Zeitung
       
       Die „Anna Magdalena“ liegt schon in Maasholm in der Schlei-Mündung im
       Winterquartier, da reißt der Sturm das Schiff los. Es wird an Land geworfen
       und muss anschließend abgewrackt werden. Das Vollschiff „Otto Linck“ auf
       der Fahrt von London nach Danzig kann sich nur mit Mühe und stark
       beschädigt in den Kieler Hafen retten. Ein namenloses Schiff strandet
       zugleich bei Puttgarden, es bricht auseinander, niemand von der Mannschaft
       überlebt. Die „Cato“ wiederum, auf dem Weg nach Lübeck, läuft vor
       Travemünde auf Grund. Erst als Tage später die Ladung gelöscht wird, wird
       sie wieder flott: Insgesamt 654 Schiffe gehen unter, kentern, stranden oder
       werden mindestens stark beschädigt, als am 12. und 13. November 1872 in der
       Ostsee eine schwere Sturmflut tobt.
       
       Fein aufgelistet haben die Schiffsnamen die ehrenamtlichen Macher:innen
       des Museums für Regionalgeschichte der Gemeinde [1][Scharbeutz] und
       Umgebung in Pönitz um den einstigen taz-nord-Redakteur [2][Sven-Michael
       Veit], der dort in der Gegend aufgewachsen und der zurückgekehrt ist.
       
       Es ist die erste umfassende Ausstellung, die sich der damaligen
       Flutkatastrophe widmet; garniert mit vielen Zeitzeugenberichten und
       zeitgenössischen Artikeln: „Da reißt eine riesige Woge Schuppen und Stall
       zugleich fort, Kühe und Schafe treiben blökend und brüllend vorüber, und
       nur das Pferd sucht schwimmend sich an jedem Baumzweige festzuhalten“, wie
       das in Leipzig erscheinende Familienblatt Die Gartenlaube ausschmückte.
       
       Um zu erklären, was sich damals dort überhaupt ereignet hat, hat sich das
       Museumsteam die seinerzeitigen Wetterdaten besorgt und diese ausgewertet:
       „Die Wetterlage damals war per se nicht ungewöhnlich, aber in ihrer
       Intensität war sie einmalig“, erzählt Veit.
       
       Tagelanger Südwestwind trieb das Wasser Richtung Finnland und Baltikum,
       schwenkte um auf Nord-Ost, war da zum Orkan angewachsen, und das Wasser kam
       als Wellenberg zurück; zusätzlich schoss währenddessen Nordseewasser durch
       das Kattegat, den Sund und die Belte, füllte die Ostsee auf: „Und hier
       vorne in der Lübecker Bucht war halt Schluss, weil das Wasser nirgendwohin
       kann, so staute es sich halt auf – der Badewannen-Effekt, es schwappte wie
       in der Badewanne hin und her“, so Veit.
       
       Auf Usedom, das in zwei Teile geteilt wird, wird ein Wasserstand von 1,50
       Metern gemessen, in Warnemünde sind es schon 2,70 Meter, und in der
       Lübecker Bucht steigt der Pegel dann auf 3,30 Meter und höher. Ein Drittel
       der Insel Fehmarn steht unter Wasser, in der Kieler Bucht steigt das Wasser
       ebenso wie in der Flensburger Förde. Bis hoch an die Nordspitze Dänemarks
       flutet es und richtet entlang all der Küsten Verwüstungen an. Auch
       Trelleborg und Ystad in Schweden sind betroffen.
       
       Zentrum der Katastrophe aber sind die damaligen Bauerndörfer und heutigen
       Seebäder Sierksdorf, Haffkrug, Niendorf und eben Scharbeutz. Ihre Häuser
       und Höfe sind dem Wasser schutzlos ausgeliefert; was nicht etwas höher
       steht, wird einfach hinweggespült. Mindestens 271 Menschen kommen ums
       Leben.
       
       Doch so groß die Schäden auch sind, so wuchtig und gewaltig die
       Zerstörungen – erst ab den 1950er-Jahren beginnt man entlang der Lübecker
       Bucht einen Küstenschutz aufzubauen: „Die Leute haben aufgefeudelt und dann
       wieder aufgebaut, was kaputtgegangen war“, so Veit. Und die ganze
       Geschichte sei bald in Vergessenheit geraten. Auch davon erzählt die
       Ausstellung, schlägt später einen weiten Bogen hin zu einem [3][modernen
       Küstenschutz], in Erwartung der Folgen des längst anbrechenden
       Klimawandels.
       
       ## Große Hilfsbereitschaft
       
       Damals gibt es eine große Welle der Hilfsbereitschaft und das hat durchaus
       politische Gründe. Es ist schließlich erst anderthalb Jahre her, da
       konstituiert sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg das Deutsche Reich.
       „Es war eine Art nationaler Aufschrei“, sagt Veit und zeigt auf den Artikel
       einer Zeitung aus Kaiserslautern: „Man hat überall für die armen Brüder im
       Norden gesammelt.“ So gründet sich der „Deutsche Hülfsverein für die
       Notleidenden an der Ostseeküste“; Schirmherr ist der damalige Kronprinz und
       spätere Kaiser Wilhelm der Zweite. Die Fischer werden entschädigt, die
       Bauern auch. „Es ist mehr Geld hereingekommen, als an Schaden geschätzt
       worden war“, sagt Veit.
       
       Stützen konnte sich das Ausstellungsteam auf die Bereitschaft regionaler
       Heimatforscher, die sofort ihre Schätze teilten und etwa historische
       Postkarten der Küstenorte aus damaliger Zeit zur Verfügung stellten. Sehr
       schön auch Bilder des seinerzeit angesagten Landschaftsmalers Carl
       Oesterley, jr.: Reichsweit erschienen seine Illustrationen der
       Flutkatastrophe in verschiedenen Zeitungen, nach deren grafischen Vorlieben
       immer wieder anders farbig koloriert.
       
       „Am Tag der Ausstellungseröffnung rief einer an und sagte: ‚Wir haben da so
       einen Ölschinken von der Flut, wollt ihr den haben?‘“, erzählt Veit.
       Natürlich wollten sie, und nun hängt das Gemälde sehr präsent im
       Eingangsbereich der Ausstellung: „Ein Vorfahre des Leihgebers, der bei der
       Flut sieben Jahr alt war, hat 1926 in kalten Novembernächten das Bild nach
       einer Illustration von Carl Oesterley, jr. gemalt.“ Hat sich auch malerisch
       treiben lassen, sodass neben dem zusammenbrechenden Haus des damaligen
       Originals nun eine Schulklasse steht und um ihr Leben winkt. „Da ist dann
       noch ein bisschen Fantasie dazugekommen“, sagt Veit.
       
       ## Wäsche auf Flutreise
       
       Einziges Originalstück der Flut selbst ist eine Truhe, die damals auf dem
       Hemmelsdorfer See zwischen Timmendorf und Travemünde schwamm und gerettet
       wurde – auch wie der damals schon abgeschlossene Binnensee plötzlich wieder
       mit der Ostsee verbunden war, entsprechend versalzte, eine ökologischen
       Katastrophe jener Tage, ist zu erfahren. Erzählt wird aber auch die schöne
       Geschichte der Aussteuer einer jungen Frau von Fehmarn: Die lag in einer
       Lade bereit, doch diese wurde mit hinweggespült, als das Haus ihrer Familie
       überflutet wurde; trieb anschließend hoch bis Dänemark, bis zur Insel Als,
       wurde dort geborgen.
       
       Und was machten die Finder? Sie wuschen die Wäsche, sie bügelten sie,
       legten alles fein zusammen und sie ging per Postkutsche zurück – die
       Familienpapiere samt Adresse hatten die Flutreise glücklicherweise gut
       überstanden.
       
       8 Aug 2022
       
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 (DIR) Frank Keil
       
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