# taz.de -- Obdachlos in Berlin: „Ich will mal zur Ruhe kommen“
       
       > Manni P. ist 30 und seit 12 Jahren obdachlos. Er wünscht sich jemanden,
       > der hinschaut, ihn ernst nimmt. Eine Wohnung würde er sofort annehmen.
       
 (IMG) Bild: Ein Ort, um zumindest für einen Moment zur Ruhe zu kommen: die ehemalige Gerhart-Hauptmann-Schule
       
       Manni P. „hat Köpfchen“, wie er von sich sagt, aber irgendwie sei er immer
       durchs Raster gefallen. Es brauche endlich mal jemanden der hinschaut, der
       ihn ernst nimmt. Mittlerweile ist er 30, und so langsam fahre der Zug ab,
       ohne ihn, meint er und zieht lange an seiner Zigarette.
       
       Sein Äußeres wirkt gepflegt und Zähne hat er auch. Er trägt einen schwarzen
       Windbreaker, die kurzen Haare sind gewaschen und gekämmt. Er ist erschöpft,
       hat leichte Augenringe, trotzdem lacht er viel. An diesem Frühsommerabend
       sitzt er auf einer kleinen Steinmauer unweit der ehemaligen
       Gerhart-Hauptmann-Schule, neben ihm eine Portion Abendbrot.
       
       Die Johanniter Unfallhilfe macht armen und obdachlosen Menschen in dem
       Kreuzberger Schulgebäude ein niedrigschwelliges Angebot. In den
       Sommermonaten gibt es zur „Kiezmahlzeit“ neben Essen auch eine
       Kleiderkammer und medizinische Versorgung. Im Winter können Männer dort
       zusätzlich übernachten.
       
       Die Notunterkunft öffnete erstmals in der Kältesaison 2018/19 und wird vom
       Senat finanziell gefördert. Die Gäste, wie die Obdachlosen hier genannt
       werden, können essen, duschen und zumindest für einen Moment zur Ruhe
       kommen. Auch Manni P. ist hier häufiger Gast. Er ist dankbar und behauptet,
       diese Hilfe sei der richtige Ansatz.
       
       ## Seine Geschichte ist kein Einzelfall
       
       Seine Geschichte ist kein Einzelfall. In Berlin leben mehrere tausend
       Menschen ohne festen Wohnsitz, wie es auf Amtsdeutsch heißt. 2020 gab es
       erstmals eine Zählung unter Leitung der Senatsverwaltung für Integration,
       Arbeit und Soziales. Das Ergebnis: Knapp 2.000 obdachlose Menschen, die im
       öffentlich zugänglichen Raum und in den Notunterkünften übernachtet haben,
       wurden gezählt.
       
       Dabei handelte es sich nur um die „Anzahl sichtbar obdachloser Menschen,
       die an dem festgelegten Stichtag angetroffen wurden“, wie auf der Website
       des Projekts „Zeit für Solidarität“ zu lesen ist. Um relevante Tendenzen
       über das Ausmaß von Obdachlosigkeit zu identifizieren und damit passgenaue
       Hilfen anbieten zu können, sind weitere Erhebungen geplant.
       
       Die nächste Zählung sollte eigentlich im Juni, am heutigen Mittwoch
       stattfinden und musste kürzlich wegen zu weniger Freiwilliger auf Januar
       2023 verschoben werden. Die Methodik, so heißt es, sei mit einer geringeren
       Anzahl als 2.400 Ehrenamtlichen [1][nicht umzusetzen]. Gemeldet hatten sich
       bisher etwa halb so viel. In der Öffentlichkeit wird kontrovers über die
       [2][Sinnhaftigkeit dieses Projektes diskutiert]. Manni P. befürwortet
       grundsätzlich jede Initiative, die helfen will – so auch die nun abgesagte
       Zählung von Obdachlosen im Rahmen der „Zeit der Solidarität“. Wenn nachts
       jemand an ihn herantrete, mache ihm das aber auch Angst.
       
       „Ich habe keinen Bock, heute Nacht wieder draußen zu schlafen“, sagt Manni
       P. und stützt sich dabei mit einer Hand auf der kleinen Mauer ab. „Ich weiß
       nicht, was ich machen soll. Ich habe kranke Gedanken. Ich will mal zur Ruhe
       kommen. Ich will mal abschalten können.“ Für den Obdachlosen ist das Leben
       eine permanente Gefahr; Vertrauen und Halt sind für ihn Unbekannte. „Wer
       kommt auf mich zu?“, frage er sich nachts in seinem Schlafsack. Sicher
       schlafen sei im Görlitzer Park unmöglich.
       
       Er sei Deutscher, was er zurzeit aber nicht belegen kann, da er vor ein
       paar Tagen beklaut worden sei: Ausweis, Handy, Krankenkassenkarte – alles
       weg, berichtet er. Und wirkt verzweifelt, als er darüber spricht. Seine
       Blicke suchen Halt im Raum, aber dieser Moment der Nahbarkeit ist kurz.
       Schnell kaschiert er ihn mit abwiegelnden Worten: „Ja, was soll’s, ist halt
       so“. In den 12 Jahren, die er nun mit kurzen Unterbrechungen obdachlos sei,
       habe er schon ganz andere Sachen erlebt.
       
       ## Jeder Tag ist ein Kampf
       
       Für Manni P. ist jeder Tag ein Kampf. Besonders belastend sei die Tatsache,
       dass er aktuell keine Medikamente habe, berichtet er. Er leide an ADHS und
       brauche Ritalin, um nicht völlig „drüber zu sein“. Dadurch verhalte er sich
       verändert und habe „Party im Kopf“.
       
       Die Welt, die ihn umgibt, nimmt er als hinterhältig und gemein wahr. Er
       wittert ständig eine neuerliche Katastrophe auf sich zukommen und
       unterstellt seinem Umfeld, ihm schaden zu wollen. Dieses Denken hat sich in
       seiner Einstellung und Wahrnehmung manifestiert. Gleichzeitig weiß er,
       spürt er, dass es nicht alleine geht, und so verheddert er sich zwischen
       Annäherung und Abstand; zwischen Nähe und Distanz; zwischen Gut und Böse.
       
       Seine Stimmung wechselt abrupt, als ein weiterer Gast aus dem Haus kommt,
       der ihn zu kennen scheint. Sie grüßen sich, lachen ausgelassen, wechseln
       ein paar Worte, dann verschwindet der andere wieder. Manni P. wendet sich
       erneut dem Gespräch zu.
       
       Mehrfach habe er in „Kloppiburg“ gesessen, wie er die geschlossene
       psychiatrische Station nennt. Gegen seinen Willen sei er aus dem
       Urbankrankenhaus entlassen worden, obwohl er Suizidgedanken geäußert habe.
       „Selbst Kloppiburg will mich nicht“, erzählt er und grinst verlegen.
       
       Eine Annäherung auf Augenhöhe vermisse er. Er sucht einen Weg, der
       Obdachlosigkeit zu entkommen.
       
       Am liebsten würde er auswandern an jenem Abend, erzählt Manni P., aber er
       habe kein Geld, weil das Jobcenter seit vier Monaten nicht zahle wegen
       einer fehlenden Bescheinigung zur Arbeitsfähigkeit. Er würde sich gerne
       einen Ausweis erstellen lassen, aber habe Angst, aufs Amt zu gehen, weil
       ein „Hafti“ – ein Haftbefehl – offen sein könnte. Gleichzeitig hofft er
       sehnsüchtig auf diese „Pause“ dort hinter Gittern mit Bett und Essen.
       
       Nach seiner Meinung ist es fast unmöglich, aus der Obdachlosigkeit
       „rauszukommen“. „Ich weiß nicht, wie das geht: Große Entscheidungen zu
       treffen, mich selbst zu organisieren,“ räumt er ein, „ich habe das nie
       gelernt.“ Mit fünf Jahren schon sei er in Psychiatrien und im Kinderheim
       untergebracht worden. Die Schule habe er nur bis zur fünften Klasse
       besucht.
       
       Laut einem [3][Masterplan der ehemaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach]
       (Linke) will das Land Berlin die unfreiwillige Obdachlosigkeit bis 2030
       beendet haben. Etwa mit dem Konzept „Housing First“: das sorgt zuerst für
       eine Wohnung und bietet darüber hinaus Betreuung und Unterstützung an.
       Diese Herangehensweise wurde durch verschiedene Projekte erprobt und soll
       nun als zentrales Prinzip schrittweise zur Regel werden.
       
       ## Eine Wohnung würde er annehmen
       
       Manni P. könnte sich das vorstellen. „Warum nicht?“, fragt er, und es
       klingt mehr wie eine Feststellung. Wenn er eine Möglichkeit hätte, eine
       Wohnung zu beziehen, er würde es annehmen, meint er. Aufgrund seiner
       psychischen Beeinträchtigung und seiner Einschränkungen, sich gut um sich
       zu sorgen, schafft er es selbstständig jedoch nicht, sich dort anzumelden.
       
       „Ich weiß, wie es ist, wenn man wirklich nichts hat. Das ist schon echt
       ekelhaft. Und wenn man dann noch gemobbt und diskriminiert wird und sich
       schämt oder sich so unwohl fühlt. Das laugt den Menschen wirklich auf die
       letzten Prozent aus – und dann ist er tot.“
       
       Mittlerweile hat die Dämmerung eingesetzt, und Manni P. nimmt seine Sachen.
       Er warte immer, bis es dunkel wird, bevor er sich schlafen lege. „Mir ist
       es unangenehm, angeschaut zu werden“, erzählt er. Dann drückt er die zweite
       geschnorrte Kippe an der Hauswand aus und wendet sich zum Gehen. Ihm steht
       eine weitere unsichere Nacht im Görlitzer Park bevor.
       
       22 Jun 2022
       
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