# taz.de -- Frankreich vor den Parlamentswahlen: Scheidung auf Französisch
       
       > Links in der Hauptstadt, rechts in der Provinz. Unsere Autorin beschreibt
       > ein Land, das sich gründlich auseinandergelebt hat.
       
 (IMG) Bild: Streut Ressentiments, kommt damit aber gut an: Jean-Luc Mélenchon, hier am 12.Mai in Marseille
       
       In Frankreich gibt es zwei Orte an denen ich mich oft bei Verwandten
       aufhalte. Paris sowie Bandol, eine kleine Stadt am Mittelmeer. In Paris
       driften meine Freunde immer mehr nach links, in Bandol bin ich von
       rechtsextremen Nachbarn umzingelt. Eine Beobachtung, die kein Einzelfall
       ist. Vielmehr scheint sie symptomatisch für die extreme Polarisierung der
       französischen Gesellschaft, die die Demokratie bedroht.
       
       Jede Kritik an der Linken wird als Rechts zurückgewiesen und umgekehrt. Es
       geht zumeist nicht mehr um bessere Argumente und Fakten, sondern darum, den
       politischen Gegner mit abgründiger Rhetorik und Demagogie zu erledigen.
       Über die Hälfte der französischen Wähler wählt inzwischen extrem.
       
       Bandol befindet sich in einer der rechtsextremsten Regionen Frankreichs,
       Provence-Alpes-Côte d’Azur, abgekürzt PACA. In diesem verführerischen
       Paradies zwischen Riviera-Chic und provencalischem Charme ist es kein Tabu
       mehr, sich damit zu brüsten, den Rassemblement National (RN) von Marine Le
       Pen zu wählen.
       
       Wie der Sportclublehrer oder der Juwelier von Bandol. Letzterer lässt
       ununterbrochen den Nachrichtensender CNews laufen, eine Art französisches
       Fox News, der in einer Endlosschleife über Kriminalität in Frankreich
       berichtet. Marseille, 50 Kilometer von Bandol entfernt, ist oft in den
       Schlagzeilen. Die nördlichen Stadtteile, in denen viele Menschen mit
       Migrationshintergrund in heruntergekommenen Sozialbauten aus den 1960er und
       1970er Jahren wohnen, gelten als gesetzlose Zonen, die von Drogendealern
       und bewaffneten Banden in Beschlag genommen wurden.
       
       ## Rechts an der Côte d’Azur
       
       In den kleinen touristischen und wohlhabenden Küstenstädten der Côte d’Azur
       ist davon nichts zu spüren. „Aber die Leute sehen im Fernsehen, was dort
       los ist und haben Angst, dass es hier auch passiert“, sagt ein Nachbar,
       pensionierter Notar. Islamistische Anschläge wie in Nizza während der
       Feierlichkeiten zum 14. Juli 2016 hätten Rassismus und Furcht vor dem Islam
       der Einwohner weiter verstärkt. Und manche lassen ganz ungeniert Dampf ab.
       
       Wie etwa die pensionierte Französischlehrerin, die voller Hass von
       „dreckigen Moslems“ und „kleinen Negerlein“ spricht, als sie meine Mutter
       sieht. Dabei geben sich die RN-Wähler und Anhängerinnen Le Pens von der
       Politik oft resigniert. Nach dem Motto: „Wir haben es vergeblich mit
       Sozialisten, Konservativen und dann Macron versucht, uns bleibt nur noch Le
       Pen.“ Sie haben vergessen, dass die rechtsextreme Karte bereits schon
       einmal gespielt wurde. Und gekostet hat.
       
       Bei den Kommunalwahlen 1995 und 1997 gewann der Front National (Vorläufer
       des RN) erstmals mehrere Städte. Alle gehörten zur PACA-Region. Es folgte
       ein politisches Desaster. In Vitrolles etwa wurde eine Prämie von 5.000
       Franc für „französische Neugeborene europäischer Eltern“ ausgelobt. In
       Orange wurden Bücher von Autoren, die des „Kosmopolitismus“ bezichtigt
       wurden, aus der Stadtbibliothek entfernt.
       
       In Toulon wurde schließlich der Bürgermeister wegen Veruntreuung zu einer
       Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Doch manche Wähler haben ein kurzes
       Gedächtnis, auch was ihre früheren Überzeugungen betrifft. Der pensionierte
       Notar beteuert, „immer ein linkes Herz“ gehabt zu haben. Jetzt aber wählt
       er rechtsextrem.
       
       ## Französischer Lafontaine: Jean-Luc Mélenchon
       
       Das akute Misstrauen gegenüber Institutionen und traditionellen Parteien
       hat in Frankreich zu einer gefährlichen Orientierungslosigkeit geführt.
       Nicht nur rechts, sondern auch links. Bis vor ein paar Monaten waren viele
       meiner eher links wählenden Pariser Freunde und Bekannte aus Kultur- und
       Medienkreisen keine Anhänger von Jean-Luc Mélenchon, dem Anführer der
       linksradikalen Bewegung La France Insoumise (LFI).
       
       Er war ihnen zu anti-europäisch, zu populistisch. Ein Teil von ihnen hatte
       dennoch im ersten Gang der Präsidentschaftswahlen für ihn gestimmt. Vor
       allem in der Hoffnung, Le Pen so daran zu hindern, als Zweitplatzierte in
       die Entscheidungsrunde gegen Macron zu kommen. Vergeblich. Mélenchon
       erreichte nur den dritten Platz. Doch mit dem erstaunlich guten Ergebnis
       von 22 Prozent der Stimmen.
       
       Auf den Wahlerfolg aufbauend, schaffte er es nun, verschiedene Parteien der
       notorisch zerstrittenen französischen Linken hinter sich zu sammeln:
       Kommunisten, Grüne und Sozialisten. Sie verständigten sich auf gemeinsame
       Positionen und den Namen Nupes („Neue ökologische und soziale Volksunion“).
       Und hoffen auf eine Mehrheit bei den jetzigen Parlamentswahlen, die Macron
       verpflichten würde, einen Premierminister aus ihren Reihen zu ernennen.
       Logischerweise Mélenchon.
       
       Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, als die Sozialistische
       Partei auf 1,75 Prozent der Stimmen abstürzte und die Grünen bei 4,63
       Prozent lagen, schien das geradezu unvorstellbar. Doch seit Mélenchon die
       strategische Meisterleistung des Bündnisses gelang, ist es für viele
       Sozialisten ein Tabu, ihn zu kritisieren. Auch in meinen Kreisen. Man
       schämt sich vielleicht ein wenig, mit ihm zu paktieren, den man vor Kurzem
       noch missbilligte. Aber man beruhigt sich und sagt, dass nur so die Linke
       gerettet werden könne.
       
       ## Viele Versprechen
       
       Auf den ersten Blick scheint dies tatsächlich nachvollziehbar. In einer
       Gesellschaft, die seit fünf Jahren von der Auseinandersetzung Le Pen gegen
       Macron dominiert wird, ist es ein Segen für die Demokratie, dass die Linke
       mit einer Fülle von Vorschlägen (insbesondere in den Bereichen Umwelt und
       Soziales!) nun wieder Teil der politischen Debatte ist.
       
       Das sehr umfangreiche Programm der Nupes umfasst über 650 attraktiv
       klingende Vorschläge wie eine Verminderung der Treibhausgasemissionen um 60
       Prozent bis 2030. Oder eine dringend notwendige Reform der Institutionen
       der V. Republik, um das Parlament zu stärken. Im sozialen Bereich will
       Nupes den Mindestlohn auf 1.500 Euro netto anheben, Arbeitszeiten auf 32
       Wochenstunden reduzieren, das Rentenalter auf 60 Jahre senken und vieles
       mehr.
       
       Nur, wie diese Maßnahmen alle finanziert werden sollen, in einem Land mit
       dem im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern höchsten Sozialausgaben und
       niedrigsten Rentenalter, bleibt ungeklärt. Führungskräfte der Nupes sagen
       dazu lediglich: Die Reichen sollen bezahlen. Unter anderem durch die
       Wiedereinführung einer Vermögenssteuer, die Macron abgeschafft hat. Wer
       auch immer mit „die Reichen“ gemeint ist, es wird kaum ausreichen. Es sei
       denn, Nupes setzt auf weitere Verschuldung, was wohl auch so ist.
       
       Und dies, obwohl Frankreich bereits auf einem gewaltigen Schuldenberg
       sitzt. Im Jahr 2021 betrug die Staatsverschuldung Frankreichs rund 112,3
       Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für 2022 wird eine ähnliche
       Schuldenquote prognostiziert. Nupes will sich offenbar nicht an die von der
       EU festgelegte Schuldengrenze von 3 Prozent des BIP halten. Und sie will
       „zur Not“ wohl auch mit anderen europäischen Regeln brechen, falls diese
       ihrem Projekt im Weg stehen.
       
       ## Ein lupenreiner Demokrat
       
       Mit Sorge schauen die deutschen Sozialdemokraten auf das von Mélenchon
       geführte Bündnis. In Frankreich selbst kritisieren einige Sozialisten und
       Grüne die Zusammenarbeit mit Mélenchon. Der frühere Präsident François
       Hollande oder [1][der Grüne Daniel Cohn-Bendit sehen die Gefahr einer
       populistischen Radikalisierung] und einen Verrat an europäischen und
       sozialdemokratischen Werten. Mélenchon scheint tatsächlich ein
       zweifelhafter Demokrat zu sein.
       
       Innerhalb seiner Bewegung gilt er als autoritär und cholerisch. Wer nicht
       für ihn ist, ist gegen ihn. Die antidemokratischen Tendenzen zeigen sich
       auch in seiner unverhohlenen Bewunderung für Diktatoren wie Hugo Chávez
       oder in seiner Verteidigung der Krim-Annexion durch Putin im März 2014;
       oder auch in seiner gewalttätigen Reaktion gegen französische Justizbeamte
       bei der Durchsuchung seiner Wohnung vor einigen Jahren.
       
       Mélenchon ist zudem ein Nationalist, der gerne der EU und Deutschland die
       Schuld an allen Problemen Frankreichs gibt. Sein Buch von 2015 mit dem
       Titel „Der Bismarckhering – das deutsche Gift“ sprüht nur so vor Hass gegen
       Deutschland. Als Demagoge hat er mit dazu beigetragen, Macron zu
       dämonisieren und den Diskurs zu banalisieren, indem er Macron immer wieder
       auf eine Stufe mit Le Pen gestellt hat.
       
       Vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sagte er, dass es für ihn
       auch als Premierminister „ziemlich zweitrangig“ wäre, ob er einmal mit
       Macron oder mit Marine Le Pen zusammenarbeiten werde.
       
       Populisten gab es immer schon viele, aber wieso sind die Franzosen heute so
       anfällig für sie geworden? Verantwortung für die Entfremdung von der
       Demokratie tragen viele: [2][Parteien und Politiker, die sich der
       populistischen Rhetorik bedienen], Medien, die mit Provokationen und
       Vereinfachung die Einschaltquoten hochtreiben.
       
       Intellektuelle, die unfähig sind, überparteilich zu denken. Auch Macron,
       der mit seiner „Nicht links, nicht rechts“-Politik dazu beitrug, das
       traditionelle Parteienspektrum zu sprengen. Und nicht zuletzt ein
       präsidentielles Regierungssystem, das die vertikale Ausübung der Macht
       zulässt.
       
       Doch vor allem verstehen viele Franzosen die Politik nicht mehr als eine
       des demokratischen Dialogs, sondern als erbitterten identitären Kampf. Sie
       verteidigen blind und unnachgiebig, fast schon religiös, ihre jeweiligen
       Lager, ohne sie zu hinterfragen. Ohne ehrlichen Austausch der Ansichten,
       ohne Respekt vor dem politischen Gegner und der Konsenssuche, die den Geist
       der Demokratie erst ausmachen.
       
       11 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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