# taz.de -- Scholz' Afrikareise: Die toten Babys von Senegal
       
       > Deutschland will Erdgas aus Senegal. Dort kollabiert das
       > Gesundheitswesen. Über das Dilemma eines Präsidenten, die richtigen
       > Prioritäten zu setzen.
       
 (IMG) Bild: Blick auf das Krankenhaus in Tivaouane, in dem Säuglinge bei einem Feuer ums Leben kamen
       
       Gegen 21 Uhr am Abend des 26. Mai brach im Krankenhaus von Tivaouane in
       Senegal ein Feuer aus. Ein Kurzschluss verursachte eine Explosion, die
       einen Brand auslöste, der sich über die Klimaanlage ausbreitete. Die erst
       vor einem halben Jahr eröffnete Säuglingsstation ging in Flammen auf, elf
       Babys verbrannten. Während das Entsetzen in Senegal um sich griff, brach
       Präsident Macky Sall eine Auslandsreise ab, entließ seinen
       Gesundheitsminister und verfügte drei Tage Staatstrauer.
       
       Solche Dramen häufen sich in Senegals öffentlichem Gesundheitswesen. Am 25.
       Mai wurden drei Hebammen zu sechs Monaten Haft auf Bewährung wegen
       unterlassener Hilfeleistung verurteilt, nachdem sie im April im Krankenhaus
       von Louga eine Schwangere hatten sterben lassen. Die werdende Mutter war
       mit Wehen ins Krankenhaus gegangen und hatte um einen Kaiserschnitt
       gebettelt; das Personal erklärte ihr, sie sei nicht dran; sie wartete 20
       Stunden vergeblich, bis sie starb. Ebenfalls am 25. Mai wurde in Kaolack
       eine Pflegerin dem Richter vorgeführt, die einem Vater einen Karton mit
       seiner angeblich tot geborenen Tochter überreicht hatte – im Karton fand er
       ein lebendes Baby, das kurz darauf starb.
       
       Erst nach dem jüngsten Drama reagiert der Präsident entschlossen. Tivaouane
       ist ein Wallfahrtsort der Tidjane-Bruderschaft, einer der beiden mächtigen
       islamischen Sufi-Bruderschaften, die den Islam im Senegal prägen.
       Tidjane-Führer haben empört auf den Vorfall im Krankenhaus reagiert. Kein
       senegalesischer Politiker kann es sich leisten, die Bruderschaften zu
       verprellen.
       
       Denn Senegal ist die stabilste Mehrparteiendemokratie Westafrikas, und die
       öffentliche Debatte zählt hier mehr als anderswo. Aber die senegalesische
       politische Elite hält sich auch für die klügste des Kontinents, sie liebt
       wortgewaltige Zukunftsankündigungen und überlässt die Sorgen der Gegenwart
       den Imamen. Wenn grundlegende Dinge wie etwa eine sorgenfreie Kindsgeburt
       in staatlicher Obhut nicht gewährleistet sind, wendet sich das ganz
       schnell gegen die Regierenden.
       
       ## Parlamentswahl könnte wegweisend für Präsidentschaftswahl sein
       
       In Senegal stehen am 31. Juli Parlamentswahlen an. Präsident Macky Sall
       muss um seine Mehrheit zittern: Bei den letzten Wahlen 2017 holte sein
       Wahlbündnis Benno Bokk Yakaar (In Hoffnung vereint) nicht einmal 50 Prozent
       der Stimmen, wenngleich es dank des Wahlsystems mit 125 von 165 Sitzen klar
       dominierte. Der Präsident, der sich 2012 nur mithilfe von Massenprotesten
       gegen seinen am Amt klebenden Vorgänger Abdoulaye Wade durchsetzen konnte,
       ist längst selbst Zielscheibe einer aufsässigen Jugend, die kreative neue
       Formen des Protests erfindet und die etablierte Elite vor sich hertreibt.
       Ein Oppositionssieg bei der Parlamentswahl 2023 wäre ein Signal für die
       Präsidentschaftswahl 2024.
       
       Wie praktisch für Macky Sall, dass ihm in diesen turbulenten Zeiten
       Deutschland Wahlkampfhilfe leistet. [1][Die Bundesregierung hat Senegal zum
       G7-Gipfel im Juni eingeladen], weil Sall gerade den Vorsitz der
       Afrikanischen Union innehat, und ihm damit die globale Bühne geöffnet.
       Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte Senegal am 22. Mai als erstes Zielland
       seiner ersten Afrika-Dienstreise und betonte die Bedeutung der
       „Partnerschaft“ mit Senegal, die „immer wichtiger“ werde. [2][Dann kündigte
       er Zusammenarbeit bei der Erdgasförderung an].
       
       Senegals politische Beobachter wissen genau, dass solche Ankündigungen kein
       Akt deutscher Selbstlosigkeit sind. Afrika, so die Analyse, muss jetzt
       offenbar Europa helfen, sich aus der Energieabhängigkeit von Russland zu
       lösen: mit Erdgas aus dem Meeresboden.
       
       Das hat zwar den Schönheitsfehler, dass Senegal nur wenig Erdgas hat, die
       Förderung frühestens Ende 2023 beginnt und über die Details Streit mit den
       Nachbarn herrscht. Doch [3][afrikanische Präsidenten lieben es], wenn
       europäische Länder an ihre Tür klopfen und Öl und Gas wollen – vor allem
       solches, das es noch gar nicht gibt. Das ist ein Freibrief für den
       Machterhalt.
       
       Von Tschad bis Uganda haben in den vergangenen Jahrzehnten Herrscher unter
       Verweis darauf, dass sie dank ihrer guten internationalen Kontakte ihrem
       Land demnächst Öl- und Gasreichtum bescheren werden, ihre Zeit an der
       Staatsspitze erheblich verlängert. Immer steht das Paradies kurz bevor,
       also nach der nächsten Wahl. Demokratische Machtwechsel in Ländern, die vom
       Öl- und Gasexport leben, sind äußerst selten. Nigeria, der größte
       Ölförderer südlich der Sahara, ist die Ausnahme, aber nur dank seiner
       föderalen Struktur, die allen politischen Lagern Zugang zu den Futtertrögen
       bewahrt.
       
       Weitsichtige europäische Politiker würden in Westafrika nicht nur Gas für
       sich selbst einkaufen wollen, sondern dafür sorgen, dass diese zunehmend
       verarmende und aufsässige Weltregion zum Selbstversorger mit den eigenen
       Rohstoffen wird. Sie würden nach Nigeria fahren, das reichlich Gas übrig
       hat und Flüssiggas exportiert, und die seit Langem diskutierte, aber nie
       umgesetzte Erweiterung der Westafrika-Pipeline aus Nigeria angehen, die
       aktuell in Ghana endet, aber perspektivisch durch ganz Westafrika bis nach
       Marokko führen soll. Unter anderem müsste dafür der Westsahara-Konflikt im
       Sinne Marokkos gelöst werden, um die geschlossenen Grenzen zu öffnen. Es
       würde sich wohl Algerien querstellen, Pate der
       Westsahara-Unabhängigkeitsbewegung Polisario und eng mit Russland
       befreundet: ein kaum lösbares geopolitisches Dilemma.
       
       Da ist es doch einfacher für eine Bundesregierung, einem kleinen Land wie
       Senegal den Kauf von Gas zu versprechen, das es noch gar nicht gibt. Olaf
       Scholz hatte Glück, dass der Brand im Krankenhaus von Tivaouane nicht
       während seines Senegalbesuchs ausbrach, sondern drei Tage später. Sonst
       hätte ihn jemand fragen können, ob Senegal seine neuen Energiequellen nicht
       vielleicht selber braucht, um ein neues Versorgungsnetz zu bauen, das nicht
       die eigenen Kinder umbringt.
       
       30 May 2022
       
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