# taz.de -- Migration aus Afrika: Der Traum von Europa
       
       > Nach Senegal fließen enorme Summen, um Perspektiven zum Bleiben zu
       > schaffen. Viele Menschen wollen dennoch ihr Land möglichst schnell
       > verlassen.
       
 (IMG) Bild: Am Strand der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Tausende begeben sich jährlich auf die gefährliche Reise
       
       Khadim Faye hat die Fotos noch auf seinem Smartphone gespeichert. Auf
       einigen trägt der 35-Jährige ein grünes Trikot. Auf anderen ist er bei
       Flutlicht mitten in einem Match im Fußballstadion zu sehen, dann beim
       Training, in der Mannschaftskabine, beim gemeinsamen Essen mit seinem Team.
       Auf einem anderen reckt er den Arm in die Luft und jubelt über ein
       geschossenes Tor. „Die Asiaten lieben Fußball. Wer an Turnieren teilnimmt,
       kann Geld verdienen. Als ich dort war, fanden aber nur kleinere Wettbewerbe
       statt“, sagt er und tippt eine weitere Aufnahme an.
       
       Die Bilder erinnern an Fayes kurzes Leben außerhalb von [1][Senegal],
       während er hoffte, als Fußballer in Asien Karriere zu machen. Gespielt hat
       er in Indonesien, danach ging Faye jeweils für einige Wochen nach Singapur
       und Malaysia. Doch immer lief sein Visum aus, und er hatte keine
       Möglichkeiten, es zu verlängern und auf legalem Wege zu bleiben. Er musste
       zurück nach Dakar, Senegals Hauptstadt, und zurück zu seiner Familie.
       
       Es ist Samstagnachmittag in Hann, einem dicht besiedelten Viertel nördlich
       des Hafens. Das Leben spielt sich auf der Straße ab. In den schmalen,
       langgezogenen Höfen leben oft Dutzende Familienmitglieder, die sich eine
       Kochstelle und eine Toilette teilen.
       
       Auch in der Familie von Khadim Faye ist es nicht anders. In den Zimmern
       rechts und links von ihm wohnen seine Brüder und Schwägerinnen. Kinder
       toben über den Hof. Nur zwei Parallelstraßen entfernt ist der Strand. Das
       Meer hat Algen an Land gespült. Leere Plastikflaschen liegen im Sand,
       Ziegen suchen nach etwas Essbarem. Ein paar Kinder spielen Fangen. Fischer
       haben ihre Netze ausgebreitet, lassen sie in der Sonne trocknen und bessern
       gerissene Stellen aus.
       
       Die Pirogen, schmale, lange und oft bunt bemalte Fischerboote, liegen vor
       Anker. Khadim Faye kennt die Bewohner*innen seines Viertels, grüßt sie
       und unterhält sich mit ihnen. Viele Menschen, gerade junge Männer, werden
       hier von dem Wunsch geeint, Senegal so schnell wie möglich zu verlassen, um
       in Nordafrika oder lieber noch in Europa Geld zu verdienen.
       
       Die Familie zu unterstützen und eine eigene aufzubauen, das war auch Fayes
       großer Wunsch. Bevor er für neun Monate nach Asien ging, arbeitete er in
       einer Fabrik für Plastikverpackung und in einer anderen, die Tiernahrung
       herstellt. „Arbeit gibt es zwar, sie reicht aber nicht, um wirklich davon
       zu leben“, sagt er während des Spaziergangs durch Hann.
       
       Das ist nicht nur eine Frage der Ausbildung. Vergangenes Jahr hatten sich
       über 150.000 Schüler*innen für das Abitur eingeschrieben, weit mehr als
       doppelt so viele wie noch 2010. Aber auch für diejenigen mit einem guten
       Abschluss fehlt es an Arbeitsplätzen. Unter den Migrant*innen finden
       sich zahlreiche Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss.
       
       Ohne Aufenthaltstitel in Asien zu bleiben, das hat sich Faye nicht getraut.
       Einen Tag bevor sein Visum für Indonesien auslief, nahm er sein Erspartes
       und zog weiter nach Singapur. Eins war für ihn klar: „Ich wollte dort nicht
       ohne Papiere leben. Die zu erhalten, das ist schwer. Und es ist besonders
       schwer, wenn man die Sprache nicht spricht.“ Gerade wenn Familien viel Geld
       für die Fahrt nach Europa zusammengelegt haben, gilt die Rückkehr als
       Scheitern, auch wenn die Zahl der Heimkehrer*innen durch eine rigide
       Politik der Europäischen Union groß ist oder Schleuser sich nicht an ihre
       Zusagen halten.
       
       Das Café von [2][Migdev], einer 2006 gegründeten Organisation für
       „Migration und Entwicklung“, liegt ebenfalls in Hann. Khadim Faye kann zu
       Fuß hinlaufen und macht das auch regelmäßig. Nach seiner Rückkehr aus
       Asien wurde er hierher eingeladen. „Das hat mir psychologisch viel
       geholfen“, sagt er.
       
       In den weiß gestrichenen schlichten Räumen trifft er sich mit anderen
       Rückkehrer*innen, aber auch Familienangehörigen von Migrant*innen. Sie
       sitzen auf weißen Plastikstühlen rund um einen großen Tisch, erzählen von
       ihren Alltagsproblemen, von den Nachrichten, die sie aus Europa erhalten,
       aber auch von jenen, die ausbleiben und viel schmerzhafter sind. Manchmal
       sind es Mitreisende, die Angehörige über den Tod informieren. Manche
       Familien erfahren jedoch nie genau, was passiert ist.
       
       Aissatou Seck geht es so. Sie ist ein häufiger Gast im Café und hat sich
       zum Ziel gesetzt, junge Menschen vor der riskanten Migration ohne Papiere
       zu warnen. Sie trägt ein pinkes Kleid und beugt sich auf ihrem Plastikstuhl
       ein wenig vor, wenn sie spricht. 2006 hat sie ein Kind verloren. Ihr Sohn
       war damals gerade 19 Jahre alt und wollte über Marokko nach Europa reisen.
       Über seine Pläne hatte er nicht gesprochen. „Wir haben versucht, ihn über
       sein Handy anzurufen. Doch nie hat er geantwortet“, erinnert sich Aissatou
       Seck. Bis heute fällt es ihr schwer zu sagen, dass der Sohn tot ist. Auch
       einer ihrer Brüder versuchte, nach Spanien zu gehen. „Er ist zurück und
       leidet bis heute unter dem, was er erlebt hat.“
       
       Der Mann von Seynabou Faye lebt zwar, allerdings weit entfernt in Marokko.
       Seitdem er 2017 dorthin gegangen ist, ist er nie wieder in den Senegal
       zurückgekommen. Ab und zu schickt er seiner Frau Geld, damit diese die
       Schulgebühren für die beiden gemeinsamen Kinder bezahlen kann. Sie wachsen
       ohne ihren Vater auf. Der fünfjährige Sohn hat ihn nie gesehen, die
       elfjährige Tochter nur wenige Erinnerungen. Der Kontakt läuft über das
       Smartphone. „Das ist ein bisschen schwierig“, sagt Seynabou Faye knapp und
       vage.
       
       Mame Katy Faye arbeitet als Koordinatorin hier. Sie erlebt, dass auch die
       Erfolgsgeschichten die Migration anheizen. Laut [3][Weltbank] machten die
       Rücküberweisungen im Jahr 2020 knapp 10,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
       aus. „Es gibt hier eine ganze Reihe von Häusern, die durch das Geld der
       Migranten gebaut wurden.“ Medien tragen ebenfalls dazu bei, den Wunsch nach
       einer Auswanderung zu befeuern. Wer durch die Fernsehkanäle zappt, sieht in
       aller Regel Bilder, die Afrika als ärmlichen Kontinent präsentieren, der
       von zahlreichen Krisen gebeutelt wird. Aktuell wird vor einer Hungersnot in
       Ostafrika gewarnt. Aufgrund terroristischer Gewalt und Überfällen durch
       Banditen sind alleine im Sahel mehrere Millionen Menschen auf der Flucht.
       Die Abwärtsspirale hält an, und Konflikte lassen sich nicht mehr beenden.
       
       Europa wird hingegen als Region dargestellt, in der das Leben einfach ist
       und sich rasch materieller Erfolg einstellt. Diese Vorstellung befeuern
       Migrant*innen aber auch selbst, indem sie Bilder von sich vor schicken
       Häusern und teuren Autos in die Heimat schicken. Doch Autos und Häuser
       gehören anderen.
       
       ## Die Reise nach Europa – über Land oder übers Meer?
       
       Für die Reise ein Visum zu erhalten sei enorm schwierig, sagt Mame Katy
       Faye. Die Antragstellung nehme Zeit in Anspruch, der Ausgang sei unsicher.
       „Das ist anders mit dem Boot. Niemand stellt Fragen, sobald man die 400.000
       CFA zahlt.“ Umgerechnet sind das 600 Euro.
       
       Die Überquerung der grünen Grenze ist in Afrika zwar fast überall kein
       Problem. Auch gilt in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft
       [4][Ecowas] das Recht auf Personenfreizügigkeit. Doch
       Transportmöglichkeiten fehlten. Im Zentralsahel haben sich außerdem
       Terrorgruppen ausgebreitet, die Migrant*innen verschleppen und von ihnen
       Geld erpressen. Auch verüben Banditen Überfälle auf Reisende. Die unsichere
       Lage sei mittlerweile auch eine der Ursachen geworden, weshalb Menschen die
       Region verlassen wollen, sagt Alpha Seydi Ba, der in Dakar Sprecher der
       Internationalen Organisation für Migration ([5][IOM]) ist. Wegen der
       Schwierigkeiten in Afrika ist die Route über den Atlantik auf die
       Kanarischen Inseln atraktiver geworden.
       
       IOM zählte im Jahr 2021 auf den Kanarischen Inseln 22.316 ankommende
       Migrant*innen, während es 2018 lediglich 1.307 waren. Dabei überleben viele
       die Überfahrt gar nicht. 73 Schiffe kenterten, sagt Ba. „1.109 Menschen
       starben.“ Viele der gekenterten Schiffe würden allerdings gar nicht
       entdeckt. Deshalb kommt in Spanien die nichtstaatliche Organisation
       Caminando Fronteras zu anderen Zahlen und sprach Anfang Januar von mehr als
       4.400 Toten alleine im Jahr 2021. „Der Trend der vergangenen vier Jahre
       zeigt: Die Bereitschaft junger Menschen nimmt leider immer mehr zu, nach
       Europa zu kommen. Dabei kennen sie die Risiken, unterschätzen diese aber
       auch“, lautet Bas Fazit.
       
       Dabei sind vor allem seit 2015, in Europa oft als „Jahr der
       Flüchtlingskrise“ bezeichnet, zahlreiche Projekte entstanden. Sie sollen,
       wie es etwas sperrig heißt, eine Bleibeperspektive schaffen. Mit anderen
       Worten: Migration soll verhindert werden, sagen Kritiker*innen dieser
       Vorhaben. Eines ist die Gemeinschaftsinitiative von IOM und der
       Europäischen Union für den Schutz von Migrant*innen sowie ihre
       Reintegration. Wollen diese in ihr Herkunftsland zurückkehren, gibt es
       dafür Unterstützung sowie Hilfe bei Wiedereingliederung, aber auch
       Informationen zu einer geplanten Auswanderung. „Ein Programm, das Leben
       rettet“, nennt es Ba.Den Rückkehrer*innen würde es weder an der
       Ausbildung fehlen noch an der richtigen Arbeitseinstellung. „Es mangelt an
       den Perspektiven.“
       
       In Dakar teilen längst nicht alle diese Einstellung. Immer wieder heißt es,
       das Geld, mit dem eigentlich eine Selbstständigkeit aufgebaut werden
       sollte, werde lieber in den nächsten Versuch investiert, um nach Europa zu
       kommen, vor allem dann, wenn es keine engmaschige Begleitung gibt.
       
       ## Ein Job für die Daheimgebliebenen
       
       Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ([6][GIZ]) hat
       ein Projekt mit dem Titel „Erfolg im Senegal“ organisiert, das
       Existenzgründer*innen unterstützt sowie Weiterbildungsmaßnahmen
       anbietet. Eclosio, eine nichtstaatliche Organisation der belgischen
       Universität Lüttich, unterstützte zwischen 2017 und 2020 eigenen Angaben
       zufolge 750 Jugendliche bei einer Ausbildung. Zahlreiche weitere
       Organisationen – staatliche wie private – bieten ganz ähnliche Initiativen
       an.
       
       Kürzere Weiterbildungen gibt es auch bei Migdev. Khadim Faye konnte nach
       seiner Rückkehr zwischen Klempner und Elektriker wählen und hat sich für
       Ersteres entschieden. Gearbeitet hat er in seinem neuen Beruf aber noch
       nicht, sondern will noch auf die Kursbescheinigung warten. „Bis dahin suche
       ich nach Gelegenheitsjobs“, sagt er. Auch wenn es schlecht um den Fischfang
       bestellt ist, würden manchmal Fischer tageweise Unterstützung brauchen. Auf
       Baustellen lässt sich ebenfalls Arbeit finden.
       
       Die Soziologin Selly Bâ, die im Senegal-Büro der Grünen-nahen
       Heinrich-Böll-Stiftung das Programm Demokratie und Migration koordiniert,
       zieht ein ernüchterndes Fazit, wenn es um die Finanzierung von Angeboten
       geht, mit denen die jungen Menschen zum Bleiben animiert werden sollen.
       „Europa verfolgt seine Politik. Man schaut, wie man die Zahlen der
       Ankommenden limitieren und wie man diese auswählen kann. Dabei ist
       Migration doch viel mehr. Es geht um Mobilität, um Möglichkeiten. Es
       braucht einen globalen Ansatz“, sagt sie.
       
       Die immensen Summen – über den Emergency Trust Fund for Africa der
       Europäischen Union werden beispielsweise in Niger 15 Projekte in Höhe von
       mehr als 279 Millionen Euro finanziert – würden kaum etwas ändern. In
       Senegal hat sich die mit Migration in Zusammenhang stehende internationale
       Finanzierung von 2005 bis 2019 vervierfacht und lag bei 120 Milliarden CFA,
       umgerechnet mehr als 180 Millionen Euro. „Die Fonds werden zwar erhöht,
       gleichzeitig wollen die Menschen das Land verlassen“, sagt Selly Bâ. Zu
       wenig beachtet würde, dass es bei Migration längst nicht nur um fehlende
       Arbeitsplätze gehe. Klimawandel und die Ausbreitung der Terrorgruppen
       tragen ebenfalls dazu bei, wie eine mangelhafte Grundversorgung mit Strom
       und Wasser.
       
       ## Vom Land in die Stadt
       
       Dazu kommt, dass gerade in Senegal Migration allgegenwärtig ist, auch wenn
       sie so nicht direkt bezeichnet wird. Im Großraum Dakar leben mittlerweile
       knapp vier Millionen Menschen. Vor allem die Jungen versuchen, Dörfer und
       Kleinstädte zu verlassen, weil ihnen dort die Perspektiven fehlen. Bauern
       suchten sich in den Monaten, in denen sie weder ihre Felder bestellen noch
       ernten konnten, anderswo Arbeit. In einigen Kulturen galt Migration zudem
       stets als Initiationsritus. „Man muss gehen, um als Mann wiederzukommen“,
       sagt Selly Bâ.
       
       Zurück am Strand von Hann. Khadim Faye stellt sich vor eine Piroge, die an
       Land gezogen wurde. Sein Versuch nach Indonesien zu gehen, war nicht er der
       erste, Senegal zu verlassen. „Ich habe immer wieder darüber nachgedacht,
       mit dem Boot nach Spanien zu gehen“, sagt er. Da ein Bruder bereits dort
       ist, war der Druck allerdings nie sehr groß. Das Boot sollte in M’bour gut
       80 Kilometer südöstlich von Dakar starten. Faye hatte seine Überfahrt
       längst bezahlt. „Doch als ich einstieg, war schon Wasser in die Piroge
       gelaufen. Das war mir zu unsicher. Ich bin wieder ausgestiegen.“ Dann
       schweigt er einen Moment.
       
       Als er vom Strand in Richtung Stadt geht, sieht er am Straßenrand ein paar
       Jungen Fußball spielen. Auf die Frage, ob er selbst noch kickt, antwortet
       Khadim Faye knapp: „Manchmal.“ Der Traum von einer Fußballkarriere ist
       längst ausgeträumt, die Hoffnung auf ein besseres Leben aber noch nicht.
       
       24 May 2022
       
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