# taz.de -- Lettische Piroggen: In einem Nest aus Mehl
       
       > Die Großmutter hatte das Rezept einst auf der Flucht mitgebracht. Mit 28
       > lernt unser Autor nun von seiner Mutter, wie man sie backt – mit Liebe.
       
 (IMG) Bild: Ein Klecks Eigelb macht Pirogen glänzen
       
       Für ein Rezept, das seit Generationen in der Familie weitergegeben wird und
       selbst auf der Flucht nicht vergessen wurde, kommt es doch sehr schlicht
       daher: fünf Zeilen, eigentlich nur eine Liste mit Zutaten, ohne
       Anweisungen, ohne Reihenfolge oder Tipps. Es ist ein Rezept für Piroggen
       von meiner Urgroßmutter aus Lettland, weitergegeben an meine Oma, von ihr
       wiederum an meine Mutter und mich. Mit dem Geruch der deftigen Teigtaschen
       bin ich aufgewachsen, nur selbst gebacken habe ich Piroggen noch nie.
       
       Vor ein paar Jahren habe ich meine Oma nach dem Rezept gefragt und sie
       schickte mir die Zutatenliste per Post. Den Zettel in der Hand habe ich sie
       angerufen und gefragt: Ja, und nun? Damit kann ich doch nicht arbeiten. Sie
       hat gelacht. Letzten Mai ist sie plötzlich verstorben. Deshalb frage ich
       nun meine Mutter, ob wir gemeinsam backen, ich will mit 28 endlich lernen,
       Piroggen nach dem Familienrezept zu machen. Kann ja nicht sein, dass es nur
       die Frauen in der Familie können.
       
       Im Auto vom Bahnhof zu meinen Eltern erzählt mir meine Mutter, dass Oma ihr
       als 21-Jähriger auch nur die Zutatenliste gegeben hat, in einem selbst
       gemachten Kochbuch zur ersten eigenen Wohnung. Gemeinsam haben sie nie
       Piroggen gebacken. Scheint so ein Ding zu sein. Ich freue mich umso mehr,
       das jetzt mit meiner Mutter zu machen und über meine Oma reden zu können,
       uns an sie zu erinnern. Nicht auf traurige Weise, sondern mit Wärme und
       positivem Gefühl. Ich frage meine Mutter, wie sie das mit den Piroggen denn
       ohne Anweisungen hinbekommen hat. Ein [1][Backbuch] vom Verlag für die Frau
       habe ihr geholfen – „das hatte eigentlich jede Frau im Osten“ – mit
       Hinweisen zu verschiedenen Teigtypen. „Ich habe aber auch die Gesamtzeit
       unterschätzt“, sagt sie am Steuer.
       
       Um 10 Uhr stehen wir in der Küche, meine Mutter delegiert. Mit einer
       Küchenwaage messe ich die Zutaten ab. Die Butter ist schon angebrochen und
       ich mache mir einen Spaß daraus, es mit Augenmaß möglichst genau
       hinzubekommen. Die LED-Anzeige verleitet mich zu diesem Spiel. 124 Gramm.
       Fast. Wenn ich schon nicht das Rezept beherrsche, dann wenigstens das
       bisschen Kontrolle über das Gewicht. Ich gebe genauso viel Schmalz dazu und
       schmelze beides in einem Topf.
       
       Für den Teig holt meine Mutter eine große Plastikschüssel mit Deckel aus
       dem Schrank. Aus dem Mehl soll ich ein Nest formen und die frische Hefe
       hineinkrümeln. Die fühlt sich an wie Silikon und riecht intensiv. Daraus
       soll dieser vertraute Geruch aus der Kindheit werden?
       
       Fast vergessen wir, die Milch aufzuwärmen. „Ich mache das Rezept ja auch
       nur einmal im Jahr“, sagt meine Mutter. Dann aber mit der doppelten Menge,
       also fünf Bleche voll. Die Piroggen wandern nicht gleich alle in den Mund,
       sondern auch in den Tiefkühler, erst zu Weihnachten und zu Geburtstagen
       kommen sie wieder heraus. Das ist bei uns Tradition geworden.
       
       Piroggen sind in unterschiedlichen Varianten im Baltikum, in Finnland,
       Osteuropa und Zentralasien verbreitet. Meine Oma wurde 1937 in [2][Cēsis]
       in Lettland geboren, als Baltendeutsche. Mit dem Ausbruch des Zweiten
       Weltkriegs sollte ihre Familie, Vater, Mutter, vier kleine Kinder, „heim
       ins Reich“. Die Einbürgerungsurkunde vom Februar 1940 in Posen, im damals
       besetzten Polen, haben wir noch. Auf der Flucht nach Brandenburg im Januar
       1945 konnten sie so gut wie nichts mitnehmen, ein einziges altes Fotobuch
       mit winzigen Aufnahmen hatte ich erst kürzlich wieder in den Händen. Das
       Rezept muss meine Urgroßmutter im Kopf gehabt haben. Kulturelles Wissen ist
       leichtes Gepäck. Ich denke an die Menschen, die aus der Ukraine fliehen
       müssen.
       
       Aber warum gerade dieses Rezept? Meine Mutter spekuliert: Piroggen werden
       oft zu festlichen Anlässen gegessen (der urslawische Begriff „pirh“ steht
       auch für „Fest, Gelage“) und der fette Hefeteig mit Speck und Zwiebeln ist
       eine gute Grundlage zum Trinken. Ich habe dabei meine zierliche Oma vor
       Augen, die kaum Alkohol getrunken hat.
       
       Ich gebe warme Milch über die Hefe und bedecke sie mit Mehl vom Nestrand.
       Meine Mutter schaut mir über die Schulter. Sie spricht von der Hefe wie von
       einer netten, aber sensiblen Nachbarin, die zu Gast ist. Auf die wir
       unbedingt Rücksicht nehmen und immer schauen müssen, dass es ihr gutgeht.
       „Für die Hefe muss alles warm sein, aber nicht heiß“, sagt meine Mutter,
       verschließt die Schüssel mit dem Deckel und schiebt sie in den auf 35 Grad
       vorgewärmten Ofen.
       
       Ich schnipple Speck und Zwiebeln in kleine Würfel, während der Teig geht.
       Zeit sei jetzt genug. Wie lang? „Je nachdem, wie sie sich wohlfühlt“, sagt
       meine Mutter. Der Hefeteig soll sich verdoppeln, sei aber immer ein
       Überraschungspaket. „Geduld und Spucke!“ Ich brate Speck und Zwiebeln an,
       bin also fertig mit der Füllung. Wir schauen nach dem Teig. Nach über einer
       Stunde hat sich nichts getan. Ob das noch was wird? Vielleicht war die Hefe
       nicht frisch genug? Meine Mutter wird nervös. Einmal flucht sie. Dann gibt
       sie die warme geschmolzene Butter-Schmalz-Mischung dazu. Wieder Deckel
       drauf, Klappe zu, warten. Wir machen derweil Mittag.
       
       Erneuter Blick in den Ofen. Vorsichtig hebt meine Mutter den Deckel an:
       Wärme und Zeit haben der Hefe gefallen, der Teig ist aufgegangen. Bevor ich
       den gut durchknete, reibe ich noch etwas Muskat und Zitronenschale hinein.
       Auf der bemehlten Arbeitsfläche rolle ich einen faustgroßen Klumpen dünn
       aus. Jeweils ein Stück vom Rand entfernt platziere ich kleine Häufchen
       Füllung in einer Reihe und stülpe dann den Teig von außen um, bis alle
       Häufchen bedeckt sind. Dann halte ich eine Kaffeetasse mit dünnem Rand nur
       so weit darüber, dass ich Halbmonde ausstechen kann. Schließlich drücke ich
       die Seiten gut zu, sodass die Piroggen wie kleine Fächer aussehen.
       
       Auf dem Blech bekommt jede Pirogge noch mit der Gabel drei Pikse und, damit
       sie nicht so blass bleiben, einen Pinselstrich Eigelb.
       
       Und da ist er endlich, dieser Duft! Der schenkt meiner Mutter und mir
       sofort ein wohliges Gefühl, wie schon meiner Oma zu Kinderzeiten. An ihre
       lettische Heimat hatte sie keine Erinnerungen, vielleicht wurden die
       Piroggen, die es nur zu Festtagen gab, daher umso wichtiger. Wir kosten sie
       ofenfrisch, bevor wir zum Kaffeetrinken übergehen. Herrlich – nur Salz
       haben wir vergessen. Egal. Den Rest frieren wir für einen besonderen Anlass
       ein und verabreden: Das nächste Mal versuchen wir neben unserer
       traditionellen auch eine vegetarische Variante. Mit Pilzen und Zwiebeln als
       Füllung oder Feta und Spinat. Wenn die Hefe uns denn gesonnen ist.
       
       15 May 2022
       
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 (DIR) [1] https://www.amazon.de/Das-Backbuch-Verlag-Frau-Leipzig/dp/B0030BMNH4
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