# taz.de -- Feiern zum 9. Mai in Moskau: Pomp, Panzer und Pathos
       
       > In Moskau hielt Russlands Präsident seine Militärparade zum sowjetischen
       > Sieg über Nazi-Deutschland ab. In der Ukraine blieb es derweil relativ
       > ruhig.
       
 (IMG) Bild: Teilnehmer bei der Militärparade in Moskau
       
       Moskau taz | Die Granitplatten am Neuen Arbat, der Prachtmeile Moskaus,
       beginnen zu vibrieren. „Lauf, Petja, lauf. Da kommen die Panzer“, ruft
       Olga, ja sie schreit es fast. Ihre Worte gehen im Jubel, Klatschen, den
       Hurra-Rufen der Menschen fast unter, die sich unweit des Kremls in großer
       Zahl an den Metallabsperrungen am Straßenrand drängen. „Lauf, habe ich
       gesagt!“
       
       Und Petja läuft. Rennt schnell zu seinem Zwillingsbruder Arkascha, schwenkt
       das rote Fähnchen in seiner linken Hand. Die Siebenjährigen streiten sich,
       wer zuerst auf die Schultern ihres Vaters dürfe. Petja bleibt unten. Die
       Panzer, die von ihrem Auftritt auf dem Roten Platz zurück zum Übungsplatz
       im Westen Moskaus vorbeidonnern, geben noch mehr Gas, die Menschen schreien
       noch lauter.
       
       Es sind beklemmende Szenen, die sich im Stadtzentrum Moskaus abspielen.
       Hundertschaften von Spezialpolizist*innen patrouillieren in den
       Straßen. Busse, Straßenreinigungsfahrzeuge und Wagen der Nationalgarde
       versperren die Wege. Die Polizist*innen filmen mit ihren Brustkameras
       alles, was ihnen auffällig erscheint.
       
       „Wir müssen den Jungs das richtige Gefühl einimpfen. Ein Gefühl von der
       Größe und der Kraft Russlands“, sagt Olga am Neuen Arbat, ihren Nachnamen
       will die Mittdreißigerin nicht nennen. Die Familie kommt aus Samara
       südöstlich von Moskau und wohnt seit knapp einem Jahr in der Hauptstadt.
       Olga schiebt ihren Jüngsten im Kinderwagen hin und her. „Die Jungs
       interessieren sich für Militärtechnik, spielen gern mit Panzern und Raketen
       und Gewehren. Nun können sie sich echte Waffen anschauen. Und durch die
       Waffen lernen sie die Geschichte Russlands kennen.“
       
       Über die Ukraine will sie nicht sprechen, „zu viel Leid“. „Ich bin keine
       Politologin, die das erklären könnte. Man muss unseren heiligen Feiertag am
       9. Mai von diesem Zeug da trennen.“ Ihr Mann zieht sie schließlich weg.
       „Wir bejubeln heute unsere Jungs, die Ukraine geht uns nichts an“, sagt er
       und läuft schnellen Schrittes davon.
       
       Viele auf dem Neuen Arbat wenden sich von Fragen ab. „Nazis gebe ich keine
       Antworten“, schreit ein Mann im tarnfarbenen Pullover mit roter Sowjetfahne
       in der Hand, bevor er die auswendig gelernt klingenden Propagandasätze von
       „Was ist mit den acht Jahren im Donbass“, „Amerika ist an allem schuld“,
       „Der Sieg wird unser sein“ herunterrasselt. „Wir wollen keinen Krieg, aber
       den Amerikanern müssen wir es zeigen. Sie glauben doch nicht, dass in der
       Ukraine Ukrainer kämpfen“, sagt eine Frau, dreht sich um und winkt den
       vorbeifahrenden Raketenwerfern zu.
       
       Manche Eltern haben ihren Sprösslingen Kostüme in Olivgrün angezogen und
       eine Pilotka, die typische Soldatenmütze, auf den Kopf gesetzt. Mit
       Spielzeuggewehren stolzieren die Kleinen die Straße entlang und zielen auf
       die Umherstehenden. Die orange-schwarzen Georgsbändchen – in der Zarenzeit
       ein militärisches Abzeichen, heute das wichtigste Merkmal für die
       Unterstützung von Putins Geschichtsverständnis – haben sich viele an die
       Brust gebunden oder sie hängen an den Kinderwagen. Rote Fahnen mit dem Wort
       „Pobeda“ (Sieg) wehen im Wind.
       
       Auf den Schnullern mancher schlafender Kleinkinder prangt ein Z, der
       lateinische Buchstabe signalisiert die Unterstützung für den Kurs des
       Kremls in der Ukraine. Auch auf einigen Fahnen ist dieses Z zu sehen, die
       Menschen schwenken diese, singen Lieder vom Sieg und schreien den Soldaten
       in den Panzern und den Militärfahrzeugen mit Raketen samt atomaren
       Sprengköpfen zu: „Jungs, ihr seid spitze!“
       
       ## Die erste Parade mitten im Krieg
       
       Es ist die erste [1][Militärparade], die Russland abhält, während seine
       Truppen im Ausland einen Krieg führen. Die russische Führung verbietet
       jedem, diesen als solchen zu bezeichnen. „Militärische Spezialoperation“
       muss es heißen. Auf dem Neuen Arbat sprechen alle vom „Krieg“. Selbst
       Russlands Präsident Wladimir Putin nimmt während seiner Ansprache auf dem
       Roten Platz die Bezeichnung der „Spezialoperation“ nicht in den Mund.
       
       Er spricht von „Kampfhandlungen“ und rechtfertigt diese als die „einzig
       richtige Entscheidung“. Russland habe sich verteidigen müssen und habe
       deshalb einen Präventivschlag gewählt, weil sonst die „vom Westen
       aufgerüstete Ukraine unsere historischen Territorien“ angegriffen hätte,
       sagt Putin vor den mehr als 10.000 Soldaten auf dem Roten Platz und den
       Veteranen des Zweiten Weltkrieges auf der Tribüne.
       
       Putin spricht stets vom Donbass, den Rest der Ukraine erwähnt er nicht. Das
       machen auch die staatlichen Medien so. Sie suggerieren damit, dass es dem
       Kreml lediglich um den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass
       gehe. Putin wiederholt sein Narrativ vom bedrängten Russland, das sich
       durch alle Zeiten habe wehren müssen und dieses immer wieder tun werde.
       
       Derweil rollt eine Einheit der Luftlandetruppen aus Tula an ihm vorbei,
       die, so sagt der Präsident, beim Einsatz in der Ukraine dabei gewesen sei.
       Auf die Flugshow muss der Kreml verzichten, zu schlecht sei das Wetter, in
       der Stadt windet es stark.
       
       Im Fernsehen zeigen sie in Reih und Glied aufgestellte Soldaten, die einer
       nach dem anderen dieselben Sätze wiederholen: „Der Sieg wird unser sein,
       der Nazismus wird liquidiert sein, wir kommen bald nach Hause.“
       
       Von Anfang an hatte Putin eine Linie von damals zu heute gezogen, indem er
       den Überfall auf die Ukraine als „Befreiung vom Nazismus“ betitelte. Diese
       verdrehte Kontinuität hat das offizielle Moskau zum ideologischen Kampf des
       „Guten gegen das Böse“ aufgeladen, wobei Russland das Gute darstellt und
       der Westen, den Putin als „degeneriert“ ansieht, das Böse.
       
       Dass die „Operation“ ins Stocken geraten ist, will in Moskau offiziell
       niemand zugeben. Dass Putin während seiner – im Westen wie in Russland –
       nervös erwarteten Ansprache nicht einmal einen Teilsieg verkündet,
       geschweige denn die gefürchtete Generalmobilmachung ausruft, ist ein
       schweigendes Zugeben dessen, dass es doch nicht alles „nach Plan“ läuft,
       wie es in Moskau mantraartig wiederholt wird.
       
       ## Eigentlich ein Tag des Schmerzes
       
       Der [2][9. Mai] als Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges, dem 27
       Millionen Menschen aus der gesamten Sowjetunion zum Opfer gefallen sind, er
       war einst ein Tag des Schmerzes, ein privater Erinnerungstag. „Nie wieder“,
       sagten die, die durch die Schrecken des Krieges gegangen waren, und trugen
       den Wunsch nach Frieden an die nächsten Generationen.
       
       Doch längst hat ein „Wir können es wiederholen“ die Oberhand übernommen.
       Russland sieht sich als eine einzigartige Nation, die sich nichts von außen
       nehmen lasse und sich deshalb mit allen Mitteln verteidige.
       
       Im Park des Sieges versammeln sich an diesem Tag Tausende, um die „Vorväter
       zu ehren“, wie es heißt. Die Menschen harren in langen Schlangen am Eingang
       aus, sie wollen zum Militärkonzert am Abend. „Hier, sehen Sie, das sind
       mein Großvater und sein Bruder“, sagt Wiktoria Klimenko und zeigt auf die
       Bilder auf dem Plakat in ihrer Hand. „Klimytschew Nikolai“ steht da und
       „Klimytschew Konstantin“, gedient in der Roten Armee. „Schon damals haben
       sie gegen die Bandera-Leute gekämpft. Und wenn es sein muss, ziehe auch ich
       heute gegen die Bandera-Nazis in den Krieg“, sagt sie und fügt hinzu:
       „Krieg ist etwas Schlimmes, Schmutziges, Leidvolles. Wir Russen sind für
       den Frieden.“
       
       Ihr zehnjähriger Sohn hält eine rote Fahne in der Hand. „Er ist sauer auf
       mich, weil wir es nicht geschafft haben, die Panzer und Raketenwerfer zu
       sehen. Ich habe ihm gesagt, in ein paar Jahren werde er sie in echt sehen.
       Du wirst doch Soldat, nicht wahr, Kostja?“ Der Junge schleckt an seinem
       Schoko-Eis.
       
       ## „Putin hat unser Land mit Blut besudelt“
       
       Vielen in Russland ist die gekaperte Erinnerungspolitik des Kremls zuwider.
       „Putin hat unser Land mit Blut besudelt, ich kann diesen Tag, einen Tag
       voller Leid, über den meine Großmutter immer erzählte, heute nicht feiern.
       Ich weine nur noch“, sagt eine Frau aus Wolgograd, dem ehemaligen
       Stalingrad. Das Exilmedium [3][Meduza] hat eine Reihe von Menschen zu Wort
       kommen lassen, wie sie den 9. Mai heute empfinden. Sie alle verurteilen den
       Freudentaumel ihrer Mitbürger*innen.
       
       Journalist*innen der staatsnahen Nachrichtenagentur [4][lenta.ru] haben
       derweil die eigene Site „gehackt“ – und am Morgen Nachrichten über den
       Verlauf der „Spezialoperation“ in der Ukraine entgegen der offiziellen
       Linie veröffentlicht. „Wladimir Putin hat sich in einen erbärmlichen
       Diktator und Paranoiker verwandelt“, stand da. Kurz nur, aber durchaus
       auffällig. Die Screenshots der Homepage waren den ganzen Tag in den
       sozialen Netzwerken zu finden.
       
       Auch Wladimir, der am Nachmittag in den Moskauer Siegespark gekommen ist,
       kann den Hurra-Patriotismus seiner Mitmenschen nicht verstehen. Am Morgen
       sei er am Grab seiner Großmutter gewesen, habe leise mit ihr gesprochen,
       ihr für ihr Durchhalten im „Großen Vaterländischen Krieg“ gedankt, wie die
       Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, erzählt der 50-Jährige. „Von der
       Ukraine habe ich nicht gesprochen, das hätte sie selbst im Grab völlig
       entsetzt.“
       
       Der Großteil seiner Familie unterstütze Putins Kurs, erzählt Wladimir,
       viele in seinem Freundeskreis wollten nichts hören von der Zerstörung, den
       Verbrechen der eigenen Truppen. Und so habe er sich eine Protestaktion für
       den 9. Mai in den Kopf gesetzt. Er habe sich eine rote Fahne entlang des
       Weges gekauft und wolle mitten im Park „über das Geschehen in der Ukraine
       informieren“, wie er sagt. Er will Bibeln verteilen. „Vielleicht hilft das
       ja, anders weiß ich auch nicht weiter.“
       
       ## Selenski verspricht in Kiew den Sieg
       
       Der ukrainische Präsident Woloimir Selenski hat unterdessen in Kiew an den
       77. Jahrestag des Sieges der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg
       erinnert und zugleich einen Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland
       prophezeit. „Unser Feind träumte davon, dass wir darauf verzichten, den 9.
       Mai und den Sieg über den Nationalsozialismus zu feiern“, sagte Selenski in
       einer Videobotschaft. Die Regierung in Kiew lasse es aber nicht zu, dass
       der Sieg von jemandem vereinnahmt werde.
       
       So wie damals die Rote Armee die Ukraine von den Nazis befreite, würden
       auch die heutigen Besatzer vertrieben werden, sagte Selenski. „Am Tag des
       Sieges über den Nationalsozialismus kämpfen wir für einen neuen Sieg“,
       unterstrich er. Die Regierung in Moskau werde genauso enden wie das
       Hitler-Regime, das vom Kreml kopiert werde. „Und schon bald werden wir in
       der Ukraine zwei „Tage des Sieges“ haben“, führte er aus.
       
       In Kiew legten den ganzen Tag über zahlreiche Bewohner:innen vor dem
       ewigen Feuer am Obelisken Blumen für die Opfer des Zweiten Weltkrieges ab.
       Bürgermeister Vitali Klitschko betonte, dass dies trotz des unter
       Kriegsrecht gültigen Demonstrationsverbotes erlaubt sei.
       
       Militärisch blieb es am Montag in der Ukraine vergleichsweise ruhig.
       Nachdem am Sonntag 170 Zivilisten aus dem Werk [5][Asowstal] in Mariupol
       evakuiert wurden, nahmen die russischen Angriffe auf das von ukrainischem
       Militär kontrollierte Werk wieder zu. Gegenüber der BBC berichtet der
       stellvertretende Kommandeur des rechtsradikalen Asow-Bataillons, Swjatoslaw
       Palamar, von katastrophalen Versorgungszuständen in dem von russischen
       Truppen umzingelten Werk Asowstal. Essen gäbe es maximal ein Mal pro Tag.
       Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand zur Bergung der Leichen und
       Evakuierung der Verletzten.
       
       EU-Ratspräsident Charles Michel musste sich während eines Besuchs in der
       ukrainischen Hafenstadt Odessa vor Raketenangriffen in Sicherheit bringen
       müssen. Michel habe am Montag ein Gespräch mit Regierungschef Denys
       Schmyhal abgebrochen, „um Schutz zu suchen, als erneut Raketen in der
       Region Odessa einschlugen“, sagte ein EU-Vertreter.
       
       ## Ausgangssperre in Odessa
       
       In Odessa und Saporischschja verhängten die ukrainischen Behörden eine
       ganztägige Ausgangssperre. In [6][Odessa] hatten sich in den letzten Jahren
       immer am 9. Mai Veteranen und russlandfreundliche Demonstranten am Denkmal
       des Unbekannten Matrosen eingefunden. Viele von ihnen trugen dabei das in
       der Ukraine verbotene Georgsbändchen und Porträts von Gefallenen, beides
       Symbole der Erinnerungskultur in Putins Russland.
       
       Ganz anders war die Lage in den von Russland besetzten Gebieten. In den
       Städten Energodar, Melitopol und Cherson wurde mit russischer Symbolik, dem
       Georgsbändchen und Porträts des „unsterblichen Regiments“ demonstriert. Im
       russisch besetzten Mariupol führte Denis Puschilin, Chef der
       „Volksrepublik“ Donezk, einen Marsch an, der ein 300 Meter langes
       St.-Georgs-Band mit sich führte.
       
       9 May 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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