# taz.de -- Tote bei Flucht aus dem Libanon: „Entweder wir oder die Politiker“
       
       > Vor der nordlibanesischen Küste kentert ein Boot mit 60 Menschen. Die
       > Überlebenden sagen, die Küstenwache habe sie gerammt, es häufen sich
       > Proteste.
       
 (IMG) Bild: Vor dem Hafen von Tripoli versucht die Polizei einen Verwandten der Vermissten zu beruhigen
       
       Beirut taz | „Das Boot der Küstenwache hat uns zweimal absichtlich
       gerammt“, sagt [1][ein Mann] in die Kamera des libanesischen TV-Senders
       Al-Jadeed. Die Marine habe gesagt, sie wollte die Menschen auf dem Boot
       „begraben“. Dann dreht ein Soldat den Mann mit Wolldecke um die Schultern
       weg und sagt: „Genug, Leute, er ist müde.“
       
       Vor der nordlibanesischen Küste ist Samstagnacht ein Fluchtboot gekentert.
       60 Menschen wollten darauf nach Italien fliehen. Mindestens neun von ihnen
       starben, darunter ein zweijähriges Mädchen. Das Militär gab an, 45 Menschen
       gerettet zu haben – einige von ihnen wurden vor Ort behandelt, andere
       mussten in Krankenhäuser gebracht werden. Eine Person wurde festgenommen
       und bezichtigt, der Fluchthelfer zu sein. Rettungskräfte suchten am Sonntag
       weiter nach Überlebenden.
       
       Der Chef der libanesischen Marine, Haissam Dannaoui, [2][sagte], das Schiff
       sei zehn Meter lang und drei Meter breit gewesen und damit für sechs Leute
       bestimmt. Es habe keine Schwimmwesten an Bord gegeben. Zwei
       Patrouillenboote hätten das überladene Boot verfolgt, um es zur Rückkehr
       aufzufordern. Das Boot hätte versucht, die beiden Marineschiffe zu
       überholen und wäre dabei gegen sie gestoßen, was zum Kentern führte. In
       einem offiziellen Statement schrieb das Militär, „hohe Wellen“ seien für
       den Unfall verantwortlich.
       
       Daraufhin protestierten Familien der Angehörigen und weitere wütende
       Menschen in Tripoli. Die Stadt ist die zweitgrößte des Landes. 2019 gingen
       dort Massen von Menschen gegen die damalige libanesische Regierung auf die
       Straße – Tripoli wurde als „Mutter der Revolution“ bekannt. Auch diesmal
       kursierten in den sozialen Medien Aufrufe, in verschiedenen Regionen des
       Landes auf die Straße zu gehen. Menschen blockierten Straßen in Tripoli mit
       brennenden Autoreifen, zerstörten einen Militärstützpunkt und entfernten
       Poster von Politikern. Während er das Bild eines Politikers zerstörte,
       wurde ein junger Mann erschossen. Es kam zu [3][Schusswechseln] in der
       Stadt, doch wer die bewaffneten Männer waren und welchem politischen Lager
       sie angehören, ist unklar.
       
       ## Nach dem Währungscrash wollen viele Menschen den Libanon verlassen
       
       Der Libanon war einst ein Aufnahmeland für Geflüchtete. Nach dem
       armenischen Genozid vor 107 Jahren flohen viele Armenier*innen in das
       Land. Auch über 70 Jahre nach der Gründung Israels leben eine halbe Million
       palästinensische Geflüchtete noch immer in überfüllten Stadtteilen.
       
       Mit dem Krieg in Syrien kamen 2011 mehr als eine Million Syrer*innen
       über die Grenze. In keinem Land kommen auf so wenige Einwohnende so viele
       Geflüchtete wie im Libanon. Die Lebenssituation der Geflüchteten ist oft
       schlecht, viele Syrer*innen leben noch immer in Camps, die als
       Übergangsunterkunft gedacht waren.
       
       Doch nun ist der Libanon pleite. Die lokale Währung hat über 90 Prozent
       ihres Wertes verloren. Die Banken haben informelle Kapitalkontrollen
       verhängt, sodass die Menschen nicht an ihre Ersparnisse kommen. Benzin,
       Strom, Medizin und Essen [4][sind für viele kaum mehr bezahlbar]. Durch den
       Zusammenbruch der Wirtschaft und die Inflation möchten nun auch die
       Libanes*innen raus aus dem Land. Tausende, darunter Unternehmer*innen,
       Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen oder Student*innen haben das Land
       bereits verlassen.
       
       Doch egal ob nach Dubai oder Deutschland, Visumsprozesse ziehen sich hin,
       brauchen viel Geld – bei armen Menschen wird der Antrag sowieso oft
       abgelehnt. Der Landweg – durch das kriegsgeplagte Syrien oder nach Israel,
       mit dem der Libanon offiziell im Krieg ist – ist keine Option. So wählen
       manche den papierlosen Weg über das Mittelmeer.
       
       ## Geflüchtete Libanes*innen sollen rückgeführt werden
       
       Inwiefern der Pushback dadurch motiviert war, die Außengrenzen der EU zu
       schützen, bleibt offen. Die Europäische Agentur für die Grenz- und
       Küstenwache (Frontex) hat mit ihrer EU4Neigboorhood-Initiative einen klaren
       Fokus auf den Ländern des Mittelmeerraumes. Im [5][Oktober 2020] trafen
       sich der Chef der libanesischen Sicherheitsbehörde, Abbas Ibrahim, und der
       zypriotische Innenminister Nicos Nouris. Nach dem Treffen versprach
       Ibrahim: „Jede Person, die den Libanon gemäß dem mit Zypern getroffenen
       Abkommen verlässt, sollte in Abstimmung zwischen den beiden Ländern nach
       Hause zurückgebracht werden.“
       
       Der zypriotische Innenminister sagte, die libanesische und zypriotische
       Polizei und die Seestreitkräfte würden Boote mit Migrant*innen abfangen,
       die aus dem Libanon abfahren. Er sagte, nicht nur Zypern, sondern auch der
       Libanon würden Frontex bei der Küstenüberwachung um Unterstützung bitten.
       
       Die [6][deutsche Bundeswehr trainiert] innerhalb der UNIFIL-Mission die
       libanesische Marine zur Überwachung des Seeraums. Offiziell soll damit der
       Drogenschmuggel im Seeraum im Süden des Landes verhindert werden. Dabei
       passiert dieser Schmuggel meist auf dem Landweg, über die Grenze mit
       Syrien. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, besuchte den
       Libanon im September 2021. Dabei plädierte er für die Lieferung neuer
       Patrouillenboote. „Wertvolle Güter wie Öl und Benzin werden außer Landes
       geschmuggelt.
       
       Ebenso geht es um Flüchtlingstransfers. Flüchtlinge aus Syrien werden durch
       das Land geschleust und mit Booten in Richtung Zypern gebracht. Wir haben
       eine ähnliche Lage wie in Libyen“, sagte Zorn. Seit Jahren steht Frontex
       [7][dort in der Kritik], mit der dortigen Küstenwache bei der Rückführung
       von Booten mit Migrant*innen zusammenzuarbeiten.
       
       ## Proteste gegen Libanons Regierungschef Najib Mikati
       
       Der Ärger der Menschen in Tripoli richtet sich nicht nur gegen das Militär,
       sondern auch gegen die Regierung, die es repräsentiert. „Es sind entweder
       wir oder die Politiker. Ich kann mit ihnen nicht mehr in diesem Land
       leben“, sagte ein Überlebender in einem Video des Instagram-Kanals „Lebanon
       Uprising“.
       
       Am Sonntagmorgen brachten Protestierende ein Banner an dem Zaun vor einer
       großen weißen Yacht an, die im französischen Nizza ankert. In roten
       Buchstaben steht darunter: „Der Besitzer dieser Yacht hat die Menschen in
       Tripoli gestern Nacht getötet“. Die weiße Yacht mit dem geschnörkelten M
       darauf gehört dem libanesischen Regierungschef Najib Mikati. Sein Vermögen
       [8][wird von Forbes] auf 2,8 Milliarden Euro geschätzt. Der Sunnit ist der
       reichste Mann in Tripoli, besitzt am Stadtrand eine Villa.
       
       Nach dem Vorfall am Samstag rief er einen nationalen Trauertag aus. Dazu
       bat er die Bevölkerung, nicht den „Schmuggel-Gangs“ zum Opfer zu fallen,
       die ihre Situation ausnutzen würden. Mikati wird von der Bevölkerung
       bezichtigt, sein Geld durch dubiose Deals und Korruption gemacht zu haben.
       Während die Menschen im Libanon keinen Zugang zu ihren Konten haben,
       [9][enthüllten die Pandora-Paper-Recherchen], dass der Premierminister
       seine Unternehmen offshore in Steueroasen registrierte.
       
       Nachdem er im Februar den Haushaltsplan für 2022 vorgestellt hatte, sagte
       Mikati an die Bevölkerung gerichtet, der Staat könne nicht mehr für
       kostenloses Internet, Strom oder Wasser aufkommen. Dabei hatte der Libanon
       bereits vor der Krise die mitunter höchsten Kosten für Mobiltelefonie und
       Internet, tägliche Stromausfälle und stockende Wasserversorgung. Immer
       wieder werden Leitungen aber illegal angezapft. Menschen, die Mikati
       fragten, wie sie all das bezahlen sollten, da ihr Geld bei den Banken
       eingefroren sei, [10][sagte] der Milliardär: „Wir müssen aufeinander
       Rücksicht nehmen.“
       
       25 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.instagram.com/p/CcuaSxGumUY/
 (DIR) [2] https://www.naharnet.com/stories/en/289361-army-says-tripoli-boat-was-conducting-maneuvers-when-it-collided-with-navy-vessel
 (DIR) [3] https://www.instagram.com/p/CcvGmT_DQxB/
 (DIR) [4] /Der-Libanon-ein-Jahr-nach-der-Explosion/!5786497
 (DIR) [5] https://www.annahar.com/english/section/830-in-the-news/06102020061341531
 (DIR) [6] https://www.bundeswehr.de/resource/blob/42004/5e94cd8e684b62ea386e4e8d2a438974/antrag-der-bundesregierung-data.pdf
 (DIR) [7] https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/frontex-rueckfuehrungen-libyen-101.html
 (DIR) [8] https://www.forbes.com/profile/najib-mikati/?sh=7b392adf78d6
 (DIR) [9] https://daraj.com/en/80549/
 (DIR) [10] https://nowlebanon.com/the-incapable-billionaire/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Libanon
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Küstenwache
 (DIR) Frontex
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 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Libanon
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