# taz.de -- Bedürfnis nach Naturerfahrungen: Ab in die Natur?
       
       > Kulturlandschaften wurden über Jahrhunderte von Menschen geprägt und
       > ziehen heute Naturliebhaber an. Über das Verhältnis von Mensch und
       > Landschaft.
       
 (IMG) Bild: Die Lüneburger Heide ist schon lange Teil des deutschen Landschaftskanons. Hier ein Bild von 1973
       
       Über die Weiten der Hügel zu streifen liegt in der Natur des Menschen.
       Genau wie durch den Wald zu laufen, am Flussufer die Strömung zu
       betrachten, im Wasser unter schattigen Bäumen nach Forellen zu schauen.
       Nicht erst seit der Coronapandemie ist das so, sondern seit mindestens
       315.000 Jahren. So alt sind Schädelknochen aus einer Höhle in Marokko, die
       dem Homo sapiens zugeordnet werden.
       
       Seitdem unsere Vorfahren über Gräser und durch Büsche streunten, seien
       Menschen genetisch programmiert, ein lebendiges, natürliches und damit
       lebenserhaltendes Umfeld zu suchen, schreibt der amerikanische Biologe und
       Ameisenforscher Edward O. Wilson in seinem Buch „The Biophilia Hypothesis“.
       
       Der moderne Mensch brauche Natur und Landschaft wie vor ewigen Zeiten, denn
       schließlich habe die Spezies die meiste Zeit ihrer Entwicklung in und mit
       der Natur verbracht. Zwei Millionen Jahre haben Menschen in den Savannen
       Afrikas gelebt, bevor sie sich vor 120.000 bis 135.000 Jahren von dort
       aufgemacht haben und die Erde als Jäger und Sammler bevölkerten.
       
       Vor 6.000 bis 7.000 Jahren ließen sich die Europäer nieder, sie
       domestizierten Tiere und Pflanzen, bauten Hütten und Zäune und entwickelten
       eine Lebensform, die sie schließlich vor 200 Jahren bewog, scharenweise vom
       Land in die Städte zu ziehen. Die Fähigkeit in einer Industriegesellschaft
       zu leben haben Menschen – geschichtlich betrachtet – also gerade erst
       entwickelt. Und nun fehlen ihnen die Natur und die Landschaft, wie
       Touristikexpert:innen in Deutschland von Berchtesgaden bis Usedom
       wissen.
       
       ## Bedürfnis nach Natur
       
       Sie erzählen vom steigenden Bedürfnis nach Naturerfahrungen, je mehr Zeit
       die Leute vor Monitoren am Schreibtisch verbringen. Die Menschen suchen
       nach besonderen Eindrücken und Landschaften. Was sie dabei finden, ist in
       Deutschland aber keine unveränderte Natur. Es sind Kulturlandschaften, von
       Menschen über Jahrhunderte geprägt. Mit ihnen verbinden sich neben
       Naturerlebnissen für viele Heimatgefühle, es sind Tourismusziele, sie haben
       aber auch eine wichtige Funktion bei der Bewahrung der [1][Biodiversität]
       und im Kampf gegen den Klimawandel.
       
       Mit wadenhohen, lila blühenden Heidesträuchern und dunkelgrünen
       Wacholderbüschen gehört die Lüneburger Heide zu den ikonischen Landschaften
       Deutschlands. So wie die Kreidefelsen auf Rügen. Oder die Blumenwiesen des
       Allgäus. Fotografiert, gemalt, in Heimatfilmen der 1950er Jahre wie „Grün
       ist die Heide“ verewigt und daher seit Generationen im Landschaftskanon der
       Deutschen verankert.
       
       „Der Fernblick, der beruhigt massiv“, hört Ulrich von dem Bruch von den
       Besuchern und Wanderinnen in der Lüneburger Heide oft. „Die Menschen fühlen
       sich geerdet und sagen, hier kriegen sie den Kopf frei.“ Von dem Bruch ist
       Geschäftsführer der Lüneburger Heide GmbH. Er war vorher beim Reisekonzern
       TUI und versteht etwas von Marketing. Regelmäßig lässt er die Besucher der
       Lüneburger Heide befragen und weiß, was die über 30 Millionen Tagesgäste im
       Jahr hier suchen. „Sehr viel Landschaft.“
       
       Die meisten Besucher kommen aus den Großstädten Hamburg, Bremen, Hannover
       und den Orten dazwischen. Hinzu kommen ein paar Millionen aus Berlin und
       Nordrhein-Westfalen, die auch mal zwei, drei Nächte bleiben. 1,5 Milliarden
       Euro lassen sie für Übernachtungen, Essen, die Fahrt im Planwagen, ein Glas
       Heidehonig und Halligalli im Heidepark in der Region Lüneburger Heide.
       
       Vor 3.000 Jahren haben Viehherden der Bronzezeitbauern die heutige
       Lüneburger Heide kahl gefressen. Von Natur aus würden Rotbuchen und
       Hainsimsengräser die feuchtkalten Wälder der norddeutschen Tiefebene
       bilden. Wenn sich nicht vor rund 1.000 Jahren dauerhaft Menschen in der
       Gegend niedergelassen hätten, wären wohl auch wieder kathedralenartige
       Buchenwälder gewachsen.
       
       Doch Jahr für Jahr haben die Bauern des Mittelalters und der folgenden
       Jahrhunderte die obere Pflanzendecke abgeschabt, in den Stall gebracht und
       dann den Mist wieder auf den Sand gekarrt, um auf dem kargen Boden Roggen,
       später auch Kartoffeln anzubauen. Mit der Zeit haben die Menschen den Boden
       systematisch zerstört, und lila blühende Landschaften der Besenheide
       Calluna vulgaris sind entstanden.
       
       Damit das auch im 21. Jahrhundert so bleibt, ziehen Tausende Heidschnucken
       in vierzehn Herden durch die Nord- und die Südheide. Was die Schafe nicht
       fressen, stutzen, schneiden und brennen Arbeiter ab. Gras macht sich breit,
       Birken bereiten in der natürlichen Abfolge eigentlich den Boden für Buchen.
       Die Heide würde ohne die Landschaftspflege von Schaf und Mensch brusthoch
       zu einem knorzeligen Gestrüpp heranwachsen. Nur geschorene Heidesträucher
       blühen und verwandeln die Landschaft im Spätsommer in ein leuchtend lila
       Blütenmeer, das Millionen Besucher sehen wollen.
       
       Die Lüneburger Heide ist eine klassische Kulturlandschaft, was eigentlich
       eine Tautologie ist, ein weißer Schimmel, denn alles, was nicht Landschaft
       ist, ist Natur und Wildnis – also ein Ökosystem, in dem Tiere, Mikroben,
       Pflanzen, Pilze, Algen und all die anderen Lebensformen ohne den Menschen
       machen können, was sie wollen. In Deutschland ist das Gleichgewicht aus
       Natur und Landschaft, Kultur und Wildnis, industrieller Nutzung und Ökotop
       aber verrutscht.
       
       Die Deutschen leben mit ihrem Bodenverbrauch seit Jahrzehnten über ihre
       Verhältnisse. Sie planieren, asphaltieren, betonieren und bebauen täglich
       mehr als 50 Hektar. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche hat sich in den
       vergangenen 60 Jahren in Deutschland verdoppelt, [2][schreibt das
       Umweltbundesamt].
       
       Endlose Maisäcker verwandeln die Landschaft in etwas Monotones, mit
       Glyphosat besprühte Felder veröden das natürliche Leben. Die Masse der
       Insekten ist in den vergangenen 30 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Die
       Mehrzahl der Frösche, Singvögel, Fledermäuse und Fische steht auf der Roten
       Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten. Nur noch 1 Prozent der Flüsse
       fließen natürlich, 1 Prozent der natürlichen Auen sind erhalten, lediglich
       2,8 Prozent der Wälder in Deutschland gelten als natürlich, also nicht von
       Menschen gepflanzt und unbeeinflusst.
       
       Da natürliche Ufer, Seen, Wälder und andere Naturlebensräume hierzulande
       nur in Resten erhalten sind, haben Naturschützer die naturnahe Landschaft
       zur Natur erklärt. Aus der Lüneburger Heide wurde so 1921 eines der ersten
       Naturschutzgebiete Deutschlands. Bürokraten unter den Naturschützern
       ordneten Anfang der 1990er Jahre die verschiedenen Landschaften in
       Lebensraumtypen. So wurde aus der Lüneburger Heide der Lebensraumtyp
       „Trockene Sandheiden mit Calluna“, der in der Europäischen
       Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt ist. Aus Landschaft wurde also
       Natur.
       
       Die Aneignung der Natur hat eine neue Art der Natur hervorgebracht. Erst
       durch das menschliche Pflügen, Holzen, Mähen, Schürfen sind
       Landschaftselemente entstanden, die Insekten, Vögel oder auch bestimmte
       Pflanzenarten nutzen und besiedeln konnten. So wie die Blauflügelige
       Ödlandschrecke aus der Familie der Feldheuschrecken auf den kargen
       Sandböden der Heide einen ihrer letzten Lebensräume in Deutschland hat.
       
       Deswegen ist Landschaft eben auch Natur, so wie die savannenartige
       Landschaft des ehemaligen Tempelhofer Flughafens in Berlin, auf dem
       Feldlerchen eine seltene Brutgelegenheit finden.
       
       „Weite ist ein Trend“, sagt der Touristikmanager Ulrich von dem Bruch. Da
       der Homo sapiens die Weiten Afrikas quasi erst gestern verlassen hat,
       schätzen Menschen auch heute die offene, mit einigen Bäumen bestandene
       Landschaft am meisten.
       
       Das haben Experimente der amerikanischen Psychologen Rachel und Stephen
       Kaplan gezeigt. Sie haben einigen hundert Freiwilligen in den USA,
       Argentinien und Australien Bilder von natürlichen und künstlichen
       Landschaften präsentiert. Das Ergebnis: Die Menschen auf allen drei
       Kontinenten bevorzugten Landschaften, die „man als parkähnlich oder als
       Steppe oder Savanne bezeichnen kann“. Abgelehnt haben die meisten dicht
       bewachsenes Unterholz im Vordergrund der gezeigten Bilder. Die Leute
       bewerteten die Landschaften so, als würden sie sich selbst hindurchbewegen.
       Sie wollten sie deswegen verstehen, sich darin zurechtfinden und bei Gefahr
       schnell wieder zum Ausgangspunkt finden können.
       
       Andererseits mögen die Leute auch eine Natur, die die Kaplans als mystery,
       als Geheimnis, bezeichnen, also eine wilde und undurchsichtige Natur –
       jedenfalls dann, wenn sie über einen Pfad, einen Flusslauf entlang und über
       helle Lichtungen erkundet werden kann, um dann auf demselben Weg auch
       wieder sicher zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung gelangen zu können.
       
       Stephen und Rachel Kaplan deuteten das so, dass die bevorzugten
       Landschaften einen Teil der evolutionären Entwicklung des Menschen erklären
       können. Es sei möglich, dass die frühen Menschen, um ausreichend Nahrung
       und sichere Siedlungsorte zu finden, immer wieder neue Gebiete erkunden
       mussten, in denen sie nur dann sicher waren, wenn sie sich nicht zu weit
       von der ihnen bekannten Gegend fortbewegten – also im übersichtlichen und
       verständlichen Teil blieben.
       
       ## Menschen siedeln auf Hügeln
       
       Demnach sind die Ideallandschaften in unserem Unbewussten so etwas wie die
       archetypischen Erfahrungen der Menschheit, sind wir doch in diesen
       Landschaften evolutionär vorangekommen.
       
       Und noch etwas haben Evolutionsbiologen und Paläopsychologinnen
       herausgefunden: Menschen siedeln im kollektiven Unbewussten am liebsten auf
       einem Hügel, von dem sie auf einen See oder einen Fluss in weitem Grasland
       schauen. Kinder und Erwachsene jeden Alters, ob in den USA oder in
       Deutschland, zeichnen und erzählen von derselben Landschaft, wenn sie ihre
       Vorstellung von Natur beschreiben: eine Wiese, durch die sich ein kleiner
       Fluss schlängelt, sie selbst stehen erhöht und sehen hinter der Wiese in
       erreichbarer Nähe einen Wald. Manchmal sehen sie vor ihrem geistigen Auge
       auch einen See inmitten der leicht hügeligen Landschaft und Gras fressende
       Tiere, die über eine Wiese ziehen.
       
       Im Unterallgäu bleiben die meisten Kühe heutzutage im Stall. Sanft hügelig
       ziehen sich die Anfang April schon dunkelgrünen Wiesen durch das
       Voralpenland, unterbrochen mal von einem Fichtenforst und einem Rest Moor
       in einer Senke. Die Bauern zwischen Memmingen, Bad Wörishofen und
       Mindelheim füttern ihre Kühe seit Jahrzehnten im Stall mit Silage, also mit
       gehäckseltem Mais, Sojaschrot und eingemachtem Gras von den Unterallgäuer
       Wiesen. Anfang April sind die dicken Halme noch zu kurz, doch ab Mitte Mai
       können die Landwirte mähen, das Gras in hellgrüne oder rosafarbene
       Plastikfolien verpacken und in der Landschaft stapeln.
       
       Die schweren Mähmaschinen verdichten den Boden, sodass Maulwürfe und
       Regenwürmer kaum durchkommen. Wenn die Kühe das Hochleistungsfutter aus
       Gras, Mais und Soja gefressen und verdaut haben, verteilen die Bauern die
       stickstoffreiche Gülle aus den Ställen auf den Wiesen, damit ertragreiche,
       stärkehaltige Grasarten fette Ernte bringen.
       
       „Nährstoffe werden importiert, die Scheiße bleibt hier, der Stickstoff
       läuft ins Grundwasser“, fasst Jens Franke, Geschäftsführer des
       [3][Landschaftspflegeverbands Unterallgäu], den Kreislauf aus
       Naturzerstörung und Landschaftsübernutzung zusammen.
       
       In kniehohen Gummistiefeln und Anorak steht Franke auf einer Anhöhe des
       Unterallgäus, durch das Grau des Regentages erscheinen am Horizont die von
       der Sonne grauorange angeleuchteten schneebedeckten Alpen. Nur wenige
       Grasarten und Wiesenblumen können die stickstoffhaltige Düngung mit Gülle
       verarbeiten. Löwenzahn, Gänseblümchen, Weidelgras, Knäuelgras und
       vielleicht noch vier, fünf weitere Stickstoff liebende Pflanzenarten
       wuchern dann auf den Wiesen. Eigentlich könnten da 50 oder 60 verschiedene
       Kräuter, Blumen und Gräser wachsen, und die mit ihnen verbundenen
       Schmetterlinge, Bienen, Grashüpfer würden über die Wiese summen.
       
       „Die Landschaft hat ja ein paar hundert Jahre Landwirtschaft auf dem
       Buckel,“ sagt Franke, der den Beginn der Vernichtung der natürlichen
       Lebensräume von Tapezierbienen und Goldenem Scheckenfalter bis zum Anfang
       des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt hat, als die Zeit der gemeinschaftlich
       bewirtschafteten Wiesen endete.
       
       Vor rund 200 Jahren wurden die Kirchengüter aufgelöst und die Bauern
       erhielten kleine landwirtschaftliche Parzellen, die sie künftig einzeln
       nutzten und zu oft übernutzten, weil die gemeinschaftliche Fürsorge für das
       Land der Allmende fehlte. Nachdem der Stickstoffdünger erfunden worden war,
       konnten Wiesen gedüngt und Kühe gemästet werden. Die Bauern wollten kein
       Heu von artenreichen Streuobstwiesen mehr, sondern Hochleistungsgras für
       Hochleistungsmilchkühe.
       
       Franke hat historische Landkarten und Gemeindebücher durchforstet. Mit
       seinem historischen Wissen verhandelt er mit Landräten, Bürgermeisterinnen
       und Bauern über den Erhalt der Natur von heute. Sein Ziel ist, die
       größtmögliche biologische Vielfalt aus dem Gegebenen rauszuholen. Sein
       Kompass der biologischen Vielfalt ist die Rote Liste, die zeigt, welche
       Tier- und Pflanzenarten in der von Menschen geprägten Landschaft lebten.
       „Vor dreitausend Jahren, als hier ein paar Kelten rumliefen, waren Moor und
       Wald bestimmt auch megatoll“, sagt Franke. „Dafür haben wir jetzt die
       Menschen, die die Natur nutzen, und wir müssen Menschen und Natur
       miteinander vereinbaren.“
       
       Die Landschaftspflegeverbände bringen vom bayerischen Allgäu bis zur
       Uckermark in Brandenburg die Natur wieder in die Landschaft. Sie versuchen,
       Landwirte für eine naturverträgliche Bewirtschaftung zu gewinnen, was erst
       mal nichts mit Ökolandbau zu tun hat, sondern mit Landnahme – später im
       Jahr mähen, ein paar Meter am Ackerrand nicht pflügen und nicht bepflanzen,
       die nasse Senke matschig lassen, den Bach nicht länger stauen.
       
       Für Städter hört sich das einfach an, doch wer je versucht hat, Landwirten
       einen Ackerrandstreifen abzuluchsen, weiß, wie langwierig solche
       Verhandlungen sind. Die Landschaftspflegeverbände holen auch die Kommunen
       und die Landkreise sowie die Naturschützerinnen in den Verein und
       beratschlagen gemeinsam, wie sie die Lebensräume von Azurjungfer,
       Kreuzotter, Feldlerche und Erdhummel erhalten können. Und woher das Geld
       für den Naturschutz in der Landwirtschaft kommt. Denn ohne Geld geht nix im
       Landschaftsschutz.
       
       Die Idee zur naturfreundlichen Landnutzung hatte Josef Göppel, Forstwirt
       aus der Nähe von Ansbach in Mittelfranken und von 2002 bis 2017
       Bundestagsabgeordneter der CSU. In den 1980er Jahren begann er die
       Landwirte vom Sinn der Natur in der Landschaft zu überzeugen und gründete
       den ersten Landschaftspflegeverband, um Naturschützer und Landwirte in
       einer Organisation zu vereinen und im Gespräch zu befrieden.
       
       Bei einem Besuch der Autorin in Ansbach führte Göppel 2002 begeistert durch
       Streuobstwiesen, die dank seines Einsatzes und einer alten Mostpresse
       erhalten geblieben waren. Er erklärte, warum die winzigen
       Bläulings-Schmetterlinge struppige Magerwiesen brauchen, und hatte zwei
       Landwirte überzeugt, eine naturfreundliche Mahd vorzuführen. Anstatt die
       Wiese von einer Seite zur anderen durchzumähen, mähten die Bauern mal
       links, mal rechts, mal in der Mitte, damit die im Gras lebenden Tiere
       fliehen können. Göppel hatte sich das mit ihnen ausgedacht.
       
       Als wahrer Naturfreund und überzeugter Klimaschützer wich Göppel mehrfach
       von der Parteimeinung der CSU und dem Fraktionszwang ab. 2010 stimmte er
       gegen die von der Union beschlossene Laufzeitverlängerung von
       Atomkraftwerken. 2018 reichte Göppel zusammen mit anderen Umweltschützern
       die Klimaklage beim Bundesverfassungsgericht gegen den mangelhaften
       Klimaschutz der Bundesregierung ein. Und erwirkte damit das Urteil vom März
       2021, in dem das Bundesverfassungsgericht die Regierung zu mehr Klimaschutz
       aufforderte, um das Leben der nachfolgenden Generationen zu schützen.
       Während der Recherche zu diesem Text ist [4][Josef Göppel überraschend am
       13. April 2022 gestorben].
       
       Im Unterallgäu bringt Jens Franke seit 20 Jahren die Bauern, Bürgermeister
       und Landräte des Bezirks an einen Tisch, um ihnen den Wert der Natur in der
       Landschaft zu vermitteln. Viele hat er überzeugt, eine Wiese später zu
       mähen, wenn seltene Große Brachvögel, Bekassinen oder Kiebitze dort brüten.
       Die Vögel bauen ihr Nest am Boden. Sind die Küken geschlüpft, flüchten sie
       aus dem Nest und suchen mit ihren Eltern nach Würmern und Insekten am
       Boden. Sie brauchen dann niedrig wachsende Pflanzen, um sich zu verstecken.
       
       ## Wiesenvögel als Indikator
       
       Jahrhundertelang haben Bauern mit der Sense um Johanni, um den 21. Juni,
       das erste Mal gemäht. Dann sind die Küken der verschiedenen
       Wiesenbrütervögel geschlüpft. Danach haben die Bauern noch einmal im
       September gemäht, wenn die Vögel wieder auf dem Zug in ihre Wintergebiete
       waren. Franke sorgt dafür, dass die Bauern für den wirtschaftlichen Ausfall
       entschädigt werden, wenn sie später mit der Bewirtschaftung der Wiesen
       beginnen. Das Geld für den Vertragsnaturschutz kommt von den jeweiligen
       Bundesländern, aus den Etats der Landkreise für den Erhalt der biologischen
       Vielfalt oder auch mal von der Bundesregierung.
       
       „Im letzten Jahr haben wir zwanzig junge Kiebitze hochgebracht“, erzählt
       Franke, und er klingt wie ein stolzer Vater. Dem Großen Brachvogel konnten
       Franke und die Landschaftspflegerinnen im Unterallgäu aber nicht helfen.
       Drei Pärchen brüteten jahrelang im Tal der Mindel bei Mindelheim,
       irgendwann waren es nur noch zwei Paare, dann kam noch ein Paar aus dem
       Winterquartier zurück. Im vergangenen Jahr flog nur das Weibchen an die
       Mindel.
       
       „Wiesenvögel sind Indikatorarten für intakte Landschaften“, sagt Franke,
       dessen Herz als Botaniker vor allem für Pflanzen wie den Großen
       Wiesenknopf, den zart lila blühenden Sumpf-Storchschnabel und die Riednelke
       schlägt. Die Riednelke ist ein Überbleibsel der kalten Zeiten am Rande der
       Alpen und blieb wohl nach der letzten Eiszeit vor 10.000 bis 12.000 Jahren
       im Flachland. Sie stammt aus kälteren Zonen. Biologinnen sprechen von einem
       „Glazialrelikt“.
       
       Wo die Riednelke sonst wachsen könnte, können die Biologen nicht sagen,
       denn nur im Moor des Benninger Rieds bei Memmingen hat sie überlebt. Sie
       braucht bestimmte Kalkablagerungen, die sich ausschließlich hier bilden,
       wenn wie zu Zeiten des Illergletschers kohlensäurehaltiges Wasser aus dem
       Untergrund durch den Kalkboden nach oben drückt.
       
       Der Gletscher ist mit dem Ende der Eiszeit geschmolzen, und nach der
       Landnahme der Menschen im 20. Jahrhundert drückt sich das Wasser nicht mehr
       durch die Poren des kalkigen Untergrunds. Das Benninger Ried, zwischen
       einer Bundesstraße und einer Fabrik für Autowaschanlagen, sieht auf den
       ersten Blick aus wie ein Moor. Tümpel haben sich gebildet, Weidenbüsche
       wachsen, aus dem matschigen Grund beginnen Sauergräser zu sprießen. Ein
       Kiebitz fliegt rufend auf. Doch schon ein Graben verrät, dass Menschen die
       Landschaft gestaltet haben.
       
       Um die lange Geschichte der Trockenlegung kurz zu machen: Nachdem
       Einfamilienhäuser und ein Gewerbegebiet auf dem ehemals riesigen Benninger
       Ried gebaut waren, fiel auch das unter Naturschutz stehende Rest-Ried
       trocken. Mit Rohren und Kanälen unter der Siedlung und der Fabrik wurde
       dann wieder Wasser in das Moor gepumpt. „Wir müssen die Urverhältnisse
       simulieren“, sagt Franke. Aber die Riednelke lässt sich offensichtlich
       nicht täuschen. Sie merkt, dass das Wasser nicht durch den Kalk nach oben
       gestiegen ist. Und im Boden sind zu wenige Samen übrig, aus denen die
       Riednelke selbst heranwachsen könnte.
       
       Biologen des Botanischen Gartens Ulm und Jens Franke ziehen Riednelken
       daher mit Wasser aus dem Ried nun im Blumentopf und setzen sie im Frühjahr
       aus. Auch im Benninger Ried haben Menschen aus Landschaft so wieder ein
       Stück Natur gemacht. Das gestaltete Gebiet rund um das zarte Relikt mit den
       fliederfarbenen Blüten steht unter Naturschutz und wird von der
       Europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie geschützt.
       
       Landschaftspflege mutet manchmal museal an, doch gerade die
       wiedervernässten Moore weisen den Weg in die Zukunft im Kampf gegen den
       Klimawandel. Nasse Moorböden speichern riesige Mengen Treibhausgase im
       Torf. Wenn der Boden nicht länger von Wasser bedeckt ist, entweichen sie.
       Der Torfboden selbst drückt sich dann zusammen und sinkt Jahr um Jahr ein
       bis zwei Zentimeter ab. Je tiefer der Boden, je niedriger der Wasserstand,
       desto höher sind die Emissionen.
       
       „Die entwässerten Moorböden sind für 7 Prozent der gesamten
       Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich“, haben
       Wissenschaftler:innen des Greifswald Moor Centrums der Succow Stiftung
       errechnet. Zusammen mit dem Deutschen Verband für Landschaftspflege haben
       die Moor-Expertinnen ein deutschlandweites Programm für Landwirt:innen
       entwickelt, damit sie wieder mehr Wasser in die Landschaft lassen.
       
       Auch das Unterallgäu ist von Natur aus nass. Die Landschaft wäre von Mooren
       geprägt, doch nur 500 Hektar Moor von ehemals 12.000 Hektar haben im
       Landkreis Unterallgäu überlebt. In einer Gegend im Kreis, im Hundsmoor, hat
       Jens Franke den Bauern mal 300 Quadratmeter, mal einen halben Hektar
       abgeschwatzt und die schmalen Streifen zu 12 Hektar zusammengefügt.
       
       Mit den Landschaftspflegern unter den Bauern hat er das Schilf aus dem Moor
       geholt, Kiefern und Faulbaum-Sträucher entwurzelt. „Das Moor ist noch
       klein, aber wenn ich nicht anfange, passiert gar nichts“, sagt Franke. Er
       hofft, dass er dank des Generationenwechsels in der Landwirtschaft und dem
       Geld aus dem Artenschutz- und Biodiversitätsetat des Freistaats Bayern das
       Hundsmoor bald auf 22 Hektar bis zur Günz erweitern kann.
       
       Biber haben die dicken Weiden am kurvenreichen Ufer benagt. Im Moor blühen
       wieder fingerhohe Orchideen. Seggen und andere Sauergräser breiten sich
       aus, seitdem nicht mehr Schilf und Faulbäume das Moor verbuschen. Durch die
       Wiesen entlang des Moores läuft der „Glücksweg“, ein so beschilderter
       Wanderweg der „Wandertrilogie“, die sich die Allgäu GmbH ausgedacht hat.
       Die Orchideenwiese im Hundsmoor wird wieder zur Landschaft, die Menschen
       neu nutzen. Sie wandern, genießen den Blick in die Weite und Natur.
       
       ## Der gute Wanderweg
       
       „Wandertrilogie“ steht für die drei Landschaften des Allgäus, die von
       Wiesen, Wasser und Felsen geprägt sind, erklärt Christa Fredlmeier am
       Telefon. Sie entwickelt seit 20 Jahren deutschlandweit Wanderwege – von der
       Ostsee bis an die Alpen.
       
       „Ein guter Wanderweg ist schmal, auf keinen Fall asphaltiert, maximal
       geschottert, er ist abwechslungsreich mit Kurven und geraden Strecken und
       bietet schöne Aussichten.“
       
       Das Allgäu hat Fredlmeier für die Tourismusagentur Allgäu GmbH von Bayern
       und Baden-Württemberg in neun „Erlebnisräume“ aufgeteilt. Rund um das
       landschaftsprägende Schloss Neuschwanstein ist der Erlebnisraum
       „Schlosspark“ samt Wanderrouten entstanden. Vom alpinen Sonthofen bis zum
       Nebelhorn wurde die Landschaft zu „Alpgärten“ zusammengefasst. Und weil der
       Name Unterallgäu in der Vermarktung nicht so zieht, wurden die Wiesen und
       Moore zu „Glückswegen“ erklärt.
       
       Aber warum diese theoretische Überhöhung von Bergen, Wäldern, Wiesen und
       den letzten natürlichen Flüssen, wenn Wandern ein Megatrend ist? „Die
       Landschaftsvielfalt wird dann besser erlebbar“, sagt Fredlmaier. „Mit dem
       Storytelling machen wir die Landschaft verständlich.“
       
       „Landschaft ist angeeignete Natur“, sagt Kenneth Anders, der die Kultur der
       Landschaft im Oderbruch nordöstlich von Berlin erforscht und das Oderbruch
       Museum in Altranft mit seinem Kollegen Lars Fischer leitet. Die beiden
       betreiben zudem das Büro für Landschaftskommunikation, eine von ihnen
       erfundene Disziplin.
       
       Als die Biosphärenreservate im Südosten Rügens oder in der
       Schorfheide-Chorin eingerichtet wurden, haben sie Menschen über die
       Landschaft ins Gespräch gebracht. „Es gibt verschiedene Aneignungsweisen,
       die sich im Raum miteinander arrangieren müssen“, sagt Anders. „Landschaft
       ist immer an die Möglichkeit gebunden, Perspektivvielfalt einzunehmen und
       unterschiedliche Aneignungsweisen zu finden, die sich miteinander
       arrangieren müssen.“
       
       Landschaft ist also weit mehr als Heimat oder der erwartete Blick auf
       Heideflächen, Almwiesen, Kreidefelsen. Landschaft ist der Spiegel der
       Gesellschaft in der Natur.
       
       Landschaftspfleger Jens Franke sieht das auf den alten Landkarten des
       Unterallgäus, wo die Bauern einst schmale Streifen Moor erhielten, um Torf
       zu stechen. Quadratkilometergroße Äcker oder Braunkohletagebauten erzählen
       dagegen von Energiehunger und anderen Landnahmen der Industriegesellschaft.
       
       „Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass wir in den Landschaften
       verschiedene Aneignungsweisen ermöglichen und nicht die eine die andere
       ausschließt oder dominiert“, sagt Kenneth Anders. „Denn die damit
       einhergehende Segregation führt auch zur Segregation unseres Bewusstseins.
       Wir sind dann nur noch als Erholungssuchende, als Touristen, Wohnende,
       Wirtschafter oder Montagearbeiter in der Landschaft.“ Und auch der Begriff
       Landschaft verschwinde, wenn alles eine Betriebsfläche sei und Menschen auf
       allen Flächen ackern, bauen, siedeln.
       
       Landschaft braucht also auch Vielfalt, um Landschaft zu sein. Fast wie in
       der Natur.
       
       2 May 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Konferenz-zur-Biodiversitaet/!5822211
 (DIR) [2] https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-landwirtschaft/flaechensparen-boeden-landschaften-erhalten#flachenverbrauch-in-deutschland-und-strategien-zum-flachensparen
 (DIR) [3] http://lpv-unterallgaeu.de/
 (DIR) [4] /Umweltpolitiker-Josef-Goeppel-gestorben/!5848884
       
       ## AUTOREN
       
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